Zwar klappt die Vereinbarkeit von Kind und Karriere für die meisten Französinnen ohne Probleme. Den Begriff „Rabenmutter“ haben die meisten wohl noch nie gehört. Doch es gibt auch Probleme wie häusliche, mitunter tödliche Gewalt gegen Frauen, die Tausende Menschen auf die Straßen treiben. Zwei Pariserinnen berichten von ihren Erfahrungen.
Von Carolin Küter, Paris
Mehr als 120 Frauen werden in Frankreich jährlich von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. Das bedeutet, dass mindestens an jedem dritten Tag ein Mann seine Frau ersticht, erschießt oder erwürgt, weil es Streit gibt oder sie sich trennen will, wie Statistiken des Innenministeriums zeigen. Ein Problem, das Sandrine Bouchait nicht bewusst war – bis zum Morgen des 23. September 2017.
Die damals 43-Jährige erhielt eine Nachricht vom Bruder des Lebensgefährten ihrer Schwester. Diese wohnte mit ihrem Freund und der gemeinsamen Tochter in einem Vorort südwestlich von Paris, nur wenige Kilometer von Bouchait entfernt. In der Wohnung der Familie habe es gebrannt, berichtete der Bruder. Alle drei würden im Krankenhaus behandelt. Mehr habe er nicht erzählt.
Sofort kontaktierte sie die Polizei und fuhr zusammen mit ihrer Mutter aufs zuständige Kommissariat. Die alte Frau musste in einem Wartezimmer Platz nehmen, Bouchait selbst wurde eine halbe Stunde lang vernommen. Dann habe sie gefragt: „Ich verstehe nicht. Hat meine Schwester geschlafen, als das Feuer ausbrach? Warum ist sie nicht geflohen?“ Daraufhin habe man ihr gesagt, dass ihre Schwester von ihrem Partner erst geschlagen, dann mit Benzin übergossen und angezündet wurde. Die damals siebenjährige Tochter habe alles mit angesehen.
„Erst da habe ich begriffen“, so Bouchait. Sie eilte zu ihrer Mutter und fand diese in Tränen aufgelöst. Nachbarn, die als Zeug*innen vorgeladen waren, hatten bereits berichtet, was passiert war. Die Polizei habe keinerlei Mitgefühl im Umgang gezeigt, erinnert sich Bouchait: „Man hat uns verabschiedet, ohne uns irgendwelche Hilfe zu geben. Wir waren vollkommen auf uns allein gestellt.“ Ihre Schwester erlag tags darauf ihren Verbrennungen.
„Frankreich wacht auf“
Heute berichtet die 45-Jährige mit fester Stimme von den Ereignissen. Sie hat einen Anwalt engagiert, ein vorübergehendes Fürsorgerecht für ihre Nichte erwirkt. Sie hat sich um einen Therapieplatz für sie, sich selbst und ihren zehnjährigen Sohn gekümmert. Im ersten Jahr nach dem Tod ihrer Schwester habe sie funktioniert „wie ein Roboter“. Irgendwann sei sie zusammengebrochen.
Bouchait betreut als Tagesmutter Kinder, aber seit vergangenem Sommer ist sie krankgeschrieben. Allerdings kommt sie auch ohne Job nicht zur Ruhe. Zusammen mit anderen Angehörigen von Opfern häuslicher Gewalt hat sie eine Hilfsorganisation für betroffene Familien gegründet, die „Union Nationale des Familles du Féminicide“, kurz UNFF. Als Vorsitzende gibt sie ein Interview nach dem anderen, das Thema ist derzeit sehr präsent. „Frankreich wacht ein bisschen auf“, sagt Bouchait.
Zwei Jahre nach dem Tod ihrer Schwester wird so gut wie jedes Todesopfer in den Medien vermeldet und auch der Ton der Berichterstattung ist anders geworden. Statt noch wie vor einigen Jahren von „Familiendramen“ zu sprechen, ist das Wort „Femizid“ – laut Weltgesundheitsorganisation die Ermordung einer Frau, weil sie eine Frau ist – inzwischen geläufig. Frankreich liegt mit einer Rate von 0,18 Femiziden pro 100.000 Einwohnern laut Eurostat-Zahlen im europäischen Mittelfeld.*
Das Thema treibt viele um: Im November 2018 demonstrierten Zehntausende gegen sexuelle und sexistische Gewalt. Ende November gab es einen zweiten Marsch mit Zehntausenden Teilnehmer*innen. Die Regierung rief einen runden Tisch ein, bei dem Politik, Polizei, Angehörige und Hilfsorganisationen zusammenkommen, um darüber zu beraten, wie Gewalt gegen Frauen besser bekämpft werden kann. Außerdem wurden Sofortmaßnahmen angekündigt: 1.000 zusätzliche Plätze sollen in Notunterkünften für Frauen geschaffen werden. Zudem sollen die Abläufe bei der Polizei, die Ermittlungen und der Umgang mit Opfern und Angehörigen überprüft werden.
Enttäuschung über Maßnahmen der Regierung
Doch die Maßnahmen träfen die Falschen, kritisiert Bouchait – nicht die Frauen sollten in Notunterkünfte fliehen müssen, sondern die Männer aus dem gemeinsamen Heim verbannt werden. Und sie dauerten zu lange: Bis die Polizeiarbeit evaluiert sei, würden weitere Frauen sterben. Dabei wüssten Angehörige und Opfer bereits jetzt was schieflaufe.
Ihre Hilfsorganisation UNFF will die Dinge deshalb selbst in die Hand nehmen und eine Anlaufstelle für Angehörige sein, ein Netzwerk aus Psycholog*innen und Anwält*innen aufbauen und sich dafür einsetzen, dass Polizist*innen im Umgang mit Angehörigen und Opfern besser ausgebildet werden. „Für meine Schwester kann ich nichts mehr tun,“ so Bouchait, „aber ich kann versuchen, die Zahl der Morde langfristig zu verringern.“ Dabei hat Frankreich bei der Bekämpfung der Femizide noch ein gutes Stück Arbeit vor sich.
Insgesamt rangiert Frankreich laut EU-Gleichberechtigungsindex in puncto Emanzipation von Frauen und Männern auf einem vorderen Platz. Nur Schweden und Dänemark schneiden besser ab. Bei der Verteilung der Machtpositionen liegt es sogar auf Platz zwei – in der Wirtschaft und in Unternehmensvorständen gibt es nirgendwo in Europa mehr mächtige Frauen. Gleichzeitig ist Frankreich mit 1,9 Kindern pro Frau seit Jahren europäischer Spitzenreiter bei der Geburtenrate.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf scheint also relativ gut zu funktionieren. Dieser Meinung ist auch Claire Garnier. Die 36-Jährige sitzt in einem Restaurant im lässig-schicken 3. Pariser Arrondissement. Ihr Arbeitgeber, das Picasso-Museum, eines der wichtigsten Kunsthäuser der Stadt, liegt direkt gegenüber. Die zweifache Mutter ist eine von zwei Frauen im vierköpfigen Direktorium. Über ihr stehen nur der Präsident und Generaldirektor. „Ob ich jemals gezögert habe, Kinder zu kriegen, weil das meine Karriere beeinflussen könnte? Nein“, sagt sie.
Garnier hat erst am Pariser „Institut für politische Studien“ studiert, eine der „Grandes Écoles“ genannten Eliteschmieden des Landes, anschließend Kunstgeschichte an der Pariser Universität Sorbonne. „Meine Freunde erinnern mich oft daran, dass ich gesagt habe, ich wolle Präsidentin des Centre Pompidou werden“, sagt sie. In dem berühmten Pariser Museum arbeitete sie während und nach dem Studium. 2014 folgte sie ihrem damaligen Chef ans Picasso-Museum, hochschwanger mit ihrer ersten Tochter. Etwa drei Monate nach der Geburt begann sie wieder zu arbeiten und wurde zur stellvertretenden Direktorin befördert.
Im November 2017 wurde ihre zweite Tochter geboren, wenige Monate später kehrte Garnier in ihren Job zurück – so wie beim ersten Mal in Vollzeit. Sein Kind wenige Wochen nach der Geburt in eine Ganztagsbetreuung zu geben ist in Frankreich normal und für viele finanziell notwendig. Der Grund: Frauen haben Anspruch auf nur sechs Wochen bezahlten Mutterschutz vor der Geburt und zehn Wochen danach. Väter können elf Tage Sonderurlaub nehmen. Danach können beide zusammen maximal drei Jahre Elternzeit nehmen, allerdings ohne Lohnfortzahlung.
Auch Garniers Lebensgefährte arbeitet 100 Prozent. Er ist als Führungskraft in einer kleinen Firma beschäftigt, in der es schwierig sei, weniger zu arbeiten, sagt Garnier. Sie habe nie daran gedacht, in Teilzeit zu gehen, auch wenn sie zugibt: 2015, das Jahr, in dem ihre erste Tochter gerade geboren war und sie einen neuen Posten antrat, habe sie sich ständig gefühlt „wie im Schleudergang“. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter sei sie wegen stressbedingter Schmerzen mehrere Monate krankgeschrieben gewesen. Dennoch schalte sie nie ab und erlaube sich nicht, mal einen halben Tag frei zu nehmen: „Es gibt einfach immer zu viel zu tun.“
Tagesmütter: unverzichtbar für die Kinderbetreuung
Ihre Töchter sieht sie in der Regel eine Stunde am Tag. Sie werden von halb neun bis halb sieben Uhr abends betreut. Die Vierjährige geht zur Vorschule, wo sie auch nach Unterrichtsschluss bleiben kann. Um die Zweijährige kümmert sich eine Tagesmutter, in Frankreich „Nounou“ genannt. Die meisten Kinder, die in Frankreich nicht von ihren Eltern betreut werden, sind bei einer Tagesmutter untergebracht, am zweithäufigsten in der Krippe. Zwar würden gerne mehr Französinnen ihre Kinder in solche Einrichtungen geben, aber offiziellen Schätzungen zufolge fehlen landesweit mehr als 200.000 Plätze.
Auch Garnier hat für ihre ältere Tochter vergeblich nach einer Krippe gesucht; fand dann die „Nounou“ und ist damit mittlerweile sehr zufrieden. Denn mit diesem Modell sei sie sehr flexibel – „Die Nounou ist die Stütze unseres ganzen Systems.“ Die Familie bezahlt der Tagesmutter, die insgesamt drei Kinder betreut, rund 800 Euro im Monat. Ihre Sozialabgaben zahlt der Staat. Im Nachhinein bekommen Garnier und ihr Partner wiederum den Mindestsatz von 175 Euro zurückerstattet, bedürftige Familien erhalten mehr.
Ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Kinder unter der Woche kaum sehe, habe sie nicht. Claire Garnier sagt: „Ich weiß, dass es Frauen gibt, die es nicht gut finden, dass es jemanden gibt, der sehr viel mehr Zeit mit ihren Kindern verbringt als sie selbst. Aber ich finde es super, dass meine Kinder auch zu anderen Erwachsenen eine feste Bindung haben.“ Ihre Rolle als Mutter mache ihr deshalb keiner streitig.
Info: Kooperation mit der Frankfurter Rundschau
Dieser Artikel ist der siebte in unserer achtteiligen Serie „Wie emanzipiert ist Europa?“. Dabei kooperieren wir exklusiv mit der Frankfurter Rundschau. Mit der Serie wollen wir beleuchten, wo es in Europa in puncto Gleichberechtigung besonders gut läuft und wo es noch Nachholbedarf gibt. Die nächste Geschichte erscheint im Februar und handelt von der Emanzipation in Deutschland.