Eine Gemeinschaftsinitiative in einem der Armutsviertel der sizilianischen Stadt Palermo entwickelt mit kreativen Ideen ihr eigenes Versorgungsmodell. Damit wollen die Menschen beweisen, dass soziale Veränderungen auch ohne Hilfe von der Politik möglich sind.
Von Helen Hecker, Palermo
Um in das kleine Stadtviertel Danisinni zu gelangen, gibt es nur eine einzige Straße. Sie führt stur stracks von Palermos Sightseeing-Attraktionen zum sozialen Brennpunkt. Das Viertel im Herzen der süditalienischen Metropole ist eine Sackgasse. Wer hier endet, kommt nicht weiter. Das gilt sowohl für verirrte Tourist*innen als auch für die meisten Bewohner*innen.
Mit einer Einwohnerzahl von rund 700.000 Menschen ist Palermo die fünftgrößte Stadt Italiens. Während hier in den 1980er Jahren noch Mafia-Kriege tobten, avanciert die Metropole am Mittelmeer mittlerweile zum Touristenmagneten. Doch nicht überall ist der neue Wohlstand angekommen. Nur wenige Gehminuten vom sizilianischen Parlament entfernt scheinen die Uhren noch anders zu ticken.
Danisinni wirkt wie ein Dorf mit 2.000 Einwohnern mitten in Palermo. Dabei erinnert das Viertel an die französischen „Banlieus“. Jahrelang trauten sich nur Wenige in diese Gegend, in der die Mafia die Fäden in den Händen hielt. Auch heute noch gibt es außer einer kleinen, selbst gezimmerten Taverna keinerlei kommerzielle Infrastruktur. Weder eine Backstube noch eine Fleischerei oder ein Supermarkt versorgen die Menschen mit frischen Lebensmitten.
„Eigentlich sind fast alle hier arbeitslos. Gut 90 Prozent haben keinen Job und bei den wenigsten reicht das Geld, um ihre Familie zu ernähren“, erzählt Giuseppina Cardinale. Die 45-Jährige ist vierfache Mutter und zweifache Oma. Sie war gerade einmal 15 Jahre, als ihr ältester Sohn zur Welt kam. Ihr Lebenslauf ähnelt dem der meisten Frauen im Viertel. Die wenigsten haben einen Schulabschluss, bereits als Teenager werden sie Mutter und kümmern sich fortan um den Haushalt.
Am späten Nachmittag füllt sich die einzige Piazza des Viertels langsam mit Leben. Vor allem Kinder und Frauen sieht man dann auf der Straße. Viele der Männer und Väter sitzen dagegen wegen kleinerer und größerer Delikte im Gefängnis. Die Frauen gönnen sich in der Abendsonne einige Minuten zum Durchatmen.
„Früher gab es noch die Wäscherei an der Piazza. Dort versammelten sich seit jeher die Frauen, um sich über ihren Alltag und ihre Nöte auszutauschen“, erzählt Giuseppina. Die bereits 1881 erbaute Wäscherei war die erste weit und breit in der Stadt. Gespeist durch das Wasser des mittlerweile unterirdischen Flusses Papireto bot sie den Arbeiterfrauen der Gegend über viele Jahrzehnte nicht nur einen Zuverdienst, sondern auch einen Ort der Zusammenkunft. Doch statt der Wäscherei gibt es hier inzwischen einen der wenigen Frauentreffs Palermos.
Kreative Ideen spenden Hoffnung
Anstoß zur Veränderung gab ihnen der Franziskanermönch Mauro Billetta. Vor vier Jahren übernahm er das Pfarramt der kleinen Kirche, die über der Piazza thront. Seine Mission: die soziale Regeneration des Viertels. Er will Danisinni dem Rest der Stadt öffnen und den Community-Gedanken stärken. „In den Frauen hier schlummert ein großes Potenzial“, stellt Billetta fest. Enttäuscht von örtlichen und politischen Entscheidungsträgern fühlten sich die meisten über lange Zeit alleingelassen und lebten in einer Blase der Hoffnungslosigkeit. „Mit den neuen Aufgaben in der Gemeinschaft finden viele jedoch wieder Mut. Das steckt auch andere an.“
Treibende Kraft dahinter ist die Idee zu einer Kooperative, die kleinere wirtschaftliche Aktivitäten ermöglichen soll. Diese vereint eine soziale Küche, einen urbanen Bauernhof sowie den Bau von Ferienwohnungen aus den alten Ställen im Viertel. Um für das neue „Business“ zu trainieren, kochen die Frauen bereits für Touristen*innen, die eine „Experience Tour“ durch Danisinni gebucht haben.
Heute ist eine Gruppe junger Fotografen*innen bei Giuseppina zu Gast. Es gibt hausgemachte Pasta inklusive Einblicke ins traditionelle Leben der Sizilianer*innen. „Mit dem Essen bessern wir nicht nur unsere Haushaltskasse auf, sondern lernen auch neue Menschen kennen, die nicht aus dem Problemviertel stammen,“ freut sich die Köchin, „Erfahrungen, die ich zuvor nie gemacht habe.“
Während die Urlauber*innen ihre Tour durch Danisinni beenden, verwandelt sich die Piazza in einen Parkplatz. Menschen aus der ganzen Stadt sind für die abendliche Show im riesigen Zelt angereist. Im ehemaligen Kalksteinbruch gibt es seit Neustem nämlich nicht nur einen kleinen Bauernhof, der mit Gemüsebeeten, Hühnern, Eseln und Schafen jene versorgt, die kein Geld für den Wocheneinkauf haben, sondern auch einen Zirkus.
Bei den Events verkaufen die Frauen selbstgemachte Panini und Snacks an die Zuschauer*innen. Künftig soll auch ein dreirädriger Kleintransporter als mobile Küche umfunktioniert werden. Damit wollen sie dann überall in der Stadt ihr „Social Food“ anbieten. Der Gewinn soll im Anschluss in der Gemeinschaftskasse landen. Auch der Zirkus wurde vor einem Jahr dank einer Crowdfunding-Kampagne durch die Community finanziert. Nun lockt er nicht nur regelmäßig Besucher*innen nach Danisinni, sondern vermittelt den Kindern im Viertel in wöchentlichen Workshops Akrobatik und spielerisches Feingefühl.
„Vor Jahren wäre das alles noch undenkbar gewesen“, erzählt Giovanna Mazzola. Wie Giuseppina ist sie hier aufgewachsen. Die 55-Jährige ist Single – eine Ausnahme in Danisinni. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitet sie als Putzfrau. Gerne hätte sie studiert, doch es reichte nur für die Hauptschule. „Kultur und der soziale Austausch sind vor allem für unsere Kinder wichtig, damit sie Neues entdecken und später vielleicht andere Wege gehen können.“
In Workshops die Zukunft der Kinder gestalten
Wie wichtig das für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen ist, wird beim Blick auf das verlassene Gebäude der ehemaligen Kita deutlich. Nach der Schließung durch örtliche Behörden vor elf Jahren fiel auch die letzte Bildungsinstanz im Viertel. Damit stieg die Zahl der Kinder, die bereits in der Grundschule scheitern. „Ohne Vorbildung schaffen es viele nicht, sich in der Schule zu integrieren. Selbst in der dritten oder vierten Klasse können einige noch nicht lesen oder schreiben“, berichtet Antonella De Zanetti. Die Venezianerin und ehemalige Innenausstatterin kam vor vielen Jahren nach Palermo und verliebte sich in Danisinni. Ihre Kreativität gibt sie in einem wöchentlichen Bastel-Workshop weiter, in dem recycelte Materialien verarbeitet werden. Außerdem gibt es inzwischen eine Tanzgruppe und eine Hauaufgabenbetreuung.
Generell ist Danisinni aber immer noch ein Viertel, in dem Gewalt und Kriminalität Auswirkung auf das Leben haben. Viele Familien befinden sich seit Generationen in einer Abwärtsspirale – für Kinder und Jugendliche ist es schwer auszubrechen. Das Problem: In den kleinen Häusern leben die Menschen auf engstem Raum zusammen. Oft fehlt es an Freiheiten oder Ruhe zum Lernen.
Damit Konflikte künftig frühzeitig entschärft werden, absolvieren mehrere Frauen in Danisinni eine Ausbildung als Mediatorinnen. Unter ihnen auch Giuseppina und Giovanna. Die Aufgabe lässt sie oftmals selbst an ihre Grenzen gehen. „Die Ausbildung hilft uns, Dinge aus der Perspektive des anderen bewusster wahrzunehmen, bevor man selbst reagiert,“ erklärt Giuseppina. Interessanterweise war das Viertel schon immer ein Matriarchat und die Mütter erziehen die Kinder gemeinsam. Giuseppa meint: „Hier wirft jeder einen Blick auf die anderen. Da bleibt kein Streit oder Zwist unentdeckt. Und wenn eine von uns krank ist, kümmert sich die andere um deren Kinder. Ich wünsche mir, dass noch mehr von uns die Dinge selbst in die Hand nehmen.“