Indien fehlt es an Toiletten. Fast die Hälfte der Bevölkerung erleichtert sich im Freien. Mit der „Swachh Bharat Mission“ (Mission Sauberes Indien) soll damit Schluss sein. Die Kampagne wurde 2014 von Premierminister Narendra Modi ins Leben gerufen. Bis zum 2. Oktober 2019, dem 150. Geburtstag Ghandis, sollen 120 Millionen Toiletten im Land installiert werden. Es geht schleppend voran, denn das Thema rüttelt an religiösen und patriarchalen Vorstellungen.
Von Lea Gölnitz, Neu-Delhi
Nach einem zweitägigen Hungerstreik gaben die Eltern der 15-jährige Lavanya nach: Sie schafften eine Toilette für ihr Zuhause an. In ihrem Dorf im Bundesstaat Karnataka gehen die meisten Leute, wie fast überall in Indien, dafür aufs Feld. Aber eine Aufklärungsveranstaltung der „Swachh Bharat Mission“ (SBM) hatte Lavanya überzeugt, für ein eigenes Klo zu kämpfen. Ihr Erfolg ist auch ein Erfolg für die Kampagne: Toiletten sollen auf Nachfrage gebaut werden, um sicherzustellen, dass diese auch wirklich genutzt werden. Die Anschaffung kostet bis zu 12.000 Rupien (ca. 130 Euro) und wird vom Staat bezahlt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um den weißen Porzellanthron, wie er in Europa bekannt ist, sondern um die indische Hocktoilette – ein Verschlag mit einem Loch im Boden.
Laut dem „Swachh Bharat“-Statusbericht 2016 wurden auf dem Land bisher 16 Millionen Toiletten gebaut und 80.000 Dörfer „Open-Defecation-Free“ erklärt. Das heißt, in diesen Dörfern geht niemand mehr auf das Feld statt auf die Toilette. Damit liegt die Kampagne weit hinter ihrem Ziel zurück: Es bleiben noch drei Jahre, um mehr als 90 Millionen Toiletten zu installieren.
Schon Ghandi soll 1947 gesagt haben: „Hygiene ist wichtiger als die Unabhängigkeit“. 2016 haben in Indien, nach konservativen Schätzungen, noch immer mehr als 490 Millionen Menschen keinen Zugang zu einer Toilette oder Latrine. Andere Angaben gehen von 600 Millionen Menschen oder auch 120 Millionen Haushalten ohne WC aus. Im ländlichen Raum haben mehr als 65 Prozent der Bevölkerung keine Toilette. Nach Angaben von UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation lebt in dem Land die größte Anzahl an Menschen, die sich im Freien erleichtern. Sie haben entweder kein Klo oder benutzen es nicht.
Die Regierung macht daher Druck und schreckt auch vor dem Einsatz von Drohnen nicht zurück: Zu dieser Maßnahme griffen die Behörden in den Bundessaaten Haryana und Uttar Pradesh, nachdem sie feststellten, dass die Bevölkerung die neu installierten und sauberen Toiletten nicht benutzte. Die umliegenden Felder werden von fünf bis neun Uhr morgens überwacht und wer im Feld gesichtet wird, muss nach einer Verwarnung eine Strafe zahlen.
Ein speziell indisches Problem
Der Hauptgrund für den Mangel an sanitären Anlagen in Indien ist eng mit den Vorstellungen des Hinduismus zu Reinheit und Verschmutzung – im spirituellen Sinne – verbunden. Viele Inder wollen keine Toiletten. Nach Angaben der indischen Non-Profit-Forschungseinrichtung „RICE Institute“ werden die von der Regierung subventionierten Toiletten in 40 Prozent der Haushalte nicht benutzt. Die Angst vor einer Verunreinigung durch Fäkalien ist auch der Grund, warum Klos im Haus nach wie vor für viele Inder nicht infrage kommen: Das Zuhause würde unrein werden.
Aber ohne Latrine und eine Abwasserversorgung kann Trinkwasser mit Fäkalien und Abwasser verschmutzt werden. Krankheiten, ausgelöst durch E. coli oder anderen Bakterien und Viren, sind deshalb ein großes Problem. Auch der oft geringe Abstand zwischen Haus und dem Ort der Erleichterung sind eine Gefahr: Das Trinkwasser wird regelmäßig kontaminiert. Besonders während des Monsuns kommt es zu Überschwemmungen der Latrinen. Indien hat die höchste Anzahl an Toten durch Durchfallerkrankungen. Jedes Jahr sterben allein daran 188.000 Kinder unter fünf Jahren.
Darauf wollen die „Swachh Bharat Mission“ und mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen aufmerksam machen. Eine davon ist „Wash United“ mit Sitz in Berlin und einem Büro in Delhi. Um die Toilettennutzung und das anschließende Händewaschen mit Seife zur Gewohnheit zu machen, bietet die Organisation in ländlichen Gebieten ein spielbasiertes Curriculum für Schulen an. „Wir setzen bei den Kindern an, denn eine Verhaltensänderung von ihnen kann einen großen Beitrag auch für die Zukunft leisten“, erklärt Nirmala Nair, Kampagnen-Direktorin von Wash United.
Das Toilettenproblem ist auch eng mit dem Kastensystem verbunden. Traditionell wurden die Trockentoiletten von Menschen aus der Gruppe der ehemals „Unberührbaren“, die sich heute Dalits nennen, gereinigt. Diese Toiletten sind Eimer oder Latrinen ohne Wasser und Spülsystem, die teilweise täglich geleert werden müssen. Offiziell ist diese Arbeit seit 1993 verboten. Aber nach Angaben des Obersten Gerichtshofs wurden 2014 noch mehr als neun Millionen Trockentoiletten von mindestens 700.000 der sogenannten „Manual Scavenger“ gereinigt. Für Nikhil Srivastav vom „RICE Institute“ ist klar, dass die sanitäre Krise in Indien ohne die komplette Abschaffung des Kastensystems nicht zu überwinden ist. Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission ist dieser Job – das Entfernen menschlicher Exkremente mit bloßen Händen – das grausamste noch überlebende Symbol der Unberührbarkeit. Diese Arbeit wird vor allem von Frauen verrichtet. Nach Angaben von Human Rights Watch beschäftigt sogar der staatliche Eisenbahnbetrieb noch „Manual Scavenger“.
Dabei ist diese Arbeit auch noch unnötig. Spültoiletten sowie verschiedenste Kompost-Klos sind in Indien seit langem bekannt. Die indische Organisation „Sulabh“ arbeitet seit Jahrzenten an der Verbreitung dieser Toiletten und verknüpft das eng mit der Befreiung der „Manual Scavenger“. Im ganzen Land findet man öffentliche Sulabh-Toilettenkomplexe. Seit den 1970ern soll „Sulabh“ mehr als eine Millionen Trockenlatrinen in sanitäre Anlagen umgewandelt haben, für dessen Entleerung die erniedrigende Arbeit der Toilettenreiniger nicht gebraucht wird. Die Forschung und Weiterentwicklung von Sulabhs sanitären Anlagen kann in Delhis internationalem Toilettenmuseum bewundert werden. Bindeshwar Pathak, der Gründer von „Sulabh“, hat eine Sammlung von Toiletten aus verschiedenen Ländern zusammengetragen, damit Schüler, aber auch Forscher und Politiker davon lernen können.
Patriarchale Kampagnenbotschaften stoßen auf Kritik
Von Beginn an wurden Frauen als Zielgruppe der „Swachh Bharat Mission“ positioniert. Entscheidend dazu beigetragen hat Premierminister Modi, der in seiner Rede zum Unabhängigkeitstag, an dem die Kampagne 2014 angekündigt wurde, erklärte: „Schmerzt es uns nicht, dass unsere Mütter und Schwestern sich draußen erleichtern müssen? Die armen Frauen in den Dörfern müssen bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, um ihren Darm zu entleeren. Was für eine Folter sie ertragen müssen und welchen Krankheiten sie sich dadurch aussetzen. Können wir nicht einfach Toiletten bauen, um unseren Müttern und Schwestern ihre Würde zurückzugeben?“
In TV-Werbespots und auf Plakaten werden Toiletten für Frauen als Beitrag für mehr Sicherheit und Würde angepriesen. Die Botschaft, dass eine Toilette im Haus mehr Sicherheit bietet, weil das Haus nicht verlassen werden muss, spielt Forderungen von Konservativen in die Hände. Ein Beispiel dafür ist der Slogan: „Daughters and daughters-in-law shouldn’t go outside, build a toilet inside your house” (Töchter und Schwiegertöchter sollten nicht raus, deshalb baue eine Toilette in deinem Haus). Durch Werbesprüche wie diese würden Männer ermutigt, die Toilette zu bauen, um Frauen im Haus zu halten, statt die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern, warnt Nikhil Srivastav vom „RICE Institute“.
Auch Nirmala Nair findet das problematisch. Gewalt gegen Frauen sei ein umfassendes gesellschaftliches Problem, es könne nicht einfach auf den Zugang zu Toiletten reduziert werden. Die Zahlen sprechen ebenfalls dafür: Während Frauen sehr wohl von Belästigung und Angriffen berichten, während sie sich im Freien erleichtern, sind die Zahlen zu Übergriffen auf dem Markt und häuslicher Gewalt wesentlich höher.
Frauenrechtsorganisationen kritisieren den Fokus auf Frauen. Sie seien es nicht, die von Privatsphäre, Sicherheit und Hygiene überzeugt werden müssen. „Wenn Frauen eine Toilette im Haus haben, benutzen sie diese auch. Es sind die Männer, die weiterhin auf das Feld gehen. Toiletten werden als unmännlich angesehen“, berichtet Nair. Männer hätten auch ein Problem damit, auf die gleiche Toilette wie ihre Schwiegertöchter zu gehen. In der Arbeit von Wash United werden auch Männer angesprochen. „Sie sind ja auch die Entscheidungsträger. In vielen Teilen des Landes dürfen Mädchen nicht einmal geboren werden, es ist schwer zu glauben, dass eine Frau dann über die Anschaffung einer Toilette entscheidet“, erklärt die 37-Jährige.
Nur wenn Toiletten auf Nachfrage gebaut werden, mache es Sinn, so Nirmala Nair. Sonst würden sie als Abstellkammern verwendet. Wie und mit welchen Mitteln die Menschen von Toiletten überzeugt werden können sei daher entscheidend – darin sind sich inzwischen fast alle, die zu dem Thema arbeiten, einig.
Die „Swachh Bharat Mission“ ist nicht der erste Versuch einer indischen Regierung, ihre Bevölkerung zum Toilettengang zu animieren. Aber der Erfolg früherer Kampagnen wurde nur an der Anzahl der Toiletten gemessen. Das sei nicht mehr so, der Fokus liege jetzt auf der Nutzung, erklärt Parmeswaran Iyer vom Ministerium für Trinkwasser und Hygiene, das für die „Swachh Bharat Mission“ zuständig ist.
Vom Postboten, der an der Tür Aufklärungsarbeit leistet, bis zu zahlreichen Werbespots im Fernsehen und Botschaften auf Häuserwänden werden alle Maßnahmen ergriffen, um die Menschen zu erreichen. Freiwillige können sich zum Hygiene-Champion ausbilden lassen, um die Aufklärungskampagne in ihren Dörfern voranzutreiben.
Nair glaub nicht daran, dass das Kampagnenziel bis 2019 erreicht werden kann. „Indien ist ein sehr großes Land und wir haben ein sehr großes Problem.“ Aber es stehe zumindest vorn auf der Agenda und es gebe definitiv Fortschritte in die richtige Richtung.
Recht auf Teilnahme am urbanen Leben
Während auf dem Land Angebot und Nachfrage noch weit auseinandergehen, scheint zumindest die Nachfrage in den Städten höher zu sein. Hier sind es die Frauen, die mehr und bessere Anlagen fordern.
Die Kontrolle der Blase ist eine Fähigkeit, die Frauen in indischen Großstädten unbedingt beherrschen sollten. Der Mangel an Toiletten lässt ihnen keine andere Wahl. Öffentliche Toiletten für Frauen haben meist kaputte Türen, sind verschmutzt und es gibt weder Licht noch fließend Wasser. Wer von einem sauberen und funktionierenden WC in Delhi weiß, teilt das Wissen mit Freundinnen: die Galerie für moderne Kunst, ein bestimmtes Café oder Restaurant, zur Not ein Hotel. Diese Optionen gibt es natürlich nicht für jede. Ohne Schuhe und mit heruntergekommener Kleidung bleiben diese Türen verschlossen.
Während Männer sich jederzeit erleichtern können und dazu auch fast jede Hauswand nutzen, haben Frauen höhere Ansprüche an Toiletten. Sie müssen Sanitäreinrichtungen öfter aufsuchen. Sie brauchen besonders während der Menstruation einen sicheren und sauberen Raum und brauchen mehr Zeit auf der Toilette. Sie müssen sich hinsetzen können und es ist meist aufwändiger für sie, ihre Kleidung zurechtzurücken.
Laut einer Studie der Organisation „Dasra“ trinken Frauen ohne sicheren Zugang zu Toiletten sehr viel weniger und verhindern so den Gang zur Toilette für bis zu 13 Stunden am Tag. Das habe Langzeitfolgen für die Gesundheit.
„Das Recht auf eine Toilette ist heute ein integraler Bestandteil urbanen Lebens. Der Mangel an sanitären Einrichtungen hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Mobilität von Frauen“, erklärte Anju Dubey Pandey von UN Women bei der „National Convention to the Right to Pee“ in Mumbai im September. „Dies ist der Moment, um auf die Sichtbarkeit von Frauen in Städten aufmerksam zu machen. Die Verbesserung des Status von Frauen in der Gesellschaft ist genauso wichtig wie gendersensible Infrastrukturprojekte.“
Die „Right to Pee Campaign“ in Mumbai kämpft für den Zugang zu sauberen, kostenlosen und sicheren Toiletten für Frauen. In der Stadt mit 22 Millionen Einwohnern sind nur ein Drittel der 11.000 kostenpflichtigen öffentlichen Toiletten für Frauen. Für die Aktivistin Supriya Sonar spiegelt das den Mangel an Genderbewusstsein der Behörden wieder. Bis eine flächendeckende Sanitärversorgung realisiert ist, werde die Idee, das Frauen zu Hause bleiben sollen, aufrechterhalten, warnt Sonar in der „Hindustan Times“. Die Kampagne für das Recht zu pinkeln könne auf den ersten Blick lächerlich oder wie ein Witz wirken, aber eigentlich gehe es um das Recht auf die Teilnahme am öffentlichen Leben, erklärt Sonar.