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„Wir wollen ein Peru ohne Diskriminierung“
Interview mit Verónica Ferrari

3. Oktober 2018 | Von Eva Tempelmann
Kundgebung in Lima mit Veronica Ferrari (Mitte). Fotos: privat

Verónica Ferrari ist eine der bekanntesten Aktivistinnen der LGBTQ-Community in Peru, Feministin und Mitglied der neu gegründeten Partei „Nuevo Peru“. Die 39-Jährige setzt sich für die Rechte von Homosexuellen und Frauen in ihrem Land ein, in dem Homophobie tief verwurzelt ist. Eva Tempelmann hat sie in Lima getroffen.

Verónica, wie bist du zum Feminismus gekommen und Aktivistin geworden? 

Vor etwa zehn Jahren bin ich auf die LGBTQSzene aufmerksam geworden. Ich hatte damals einen männlichen Partner und meine Tochter war etwa fünf Jahre alt, aber ich war irgendwie unzufrieden. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen wesentlichen Teil von mir nicht ausleben kann. Ich bin dann zur Organisation „Movimiento Homosexual de Lima“, kurz MHOL, gegangen – der ältesten Organisation dieser Art in Lateinamerika, und habe dort bei einem Workshop mitgemacht. Darin haben wir uns mit unserer sexuellen Orientierung auseinandergesetzt. Das war eine Art Schocktherapie für alle Frauen, denn wir hatten am Anfang furchtbare Angst vor dem Wort „lesbisch“. Aber dann war es eine echte Befreiung, uns so anzunehmen, wie wir sind. Für mich öffnete es die Tür zu völlig neuen Welten. Ich habe dort dann lange als Freiwillige mitgearbeitet und wurde später Leiterin und dann Präsidentin.

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Bist du immer noch bei der MHOL aktiv?

Nein, ich bin 2014 aus der Organisation ausgestiegen. Die MHOL war lange Zeit das Flaggschiff der LGBTQCommunity und sehr einflussreich. Aber seit einigen Jahren dümpeln wir ohne frischen Wind durch die Gegend. Die Organisation ist für mich keine Bewegung mehr, sondern ein Konstrukt mit all den vertikalen Strukturen, die ich ablehne. Ich wollte im Kollektiv arbeiten und war in autoriäten Strukturen gefangen. Vielleicht steckt das tief in der peruanischen Gesellschaft: dass einer die Ansagen macht und die anderen hinterherdackeln. Zuletzt hatte ich das Gefühl, jeden Tag meine Freiheit neu erstreiten zu müssen. In den sieben Jahren, in denen ich bei MHOL aktiv war, träumte ich davon, eine bessere Gesellschaft mitzuformen, in der wir in Würde leben können, in Freiheit und Gerechtigkeit. Davon träume ich immer noch, aber jetzt bin ich in anderen Netzwerken unterwegs.

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Wo engagierst du dich zurzeit? 

Ich arbeite als Bildungsreferentin an Schulen und in Organisationen in Lima und in den Provinzen. Ich spreche über Gender, sexuelle Diversität, Frauenrechte, Feminismus. Leider gibt es keine Bildungspolitik, die diese Themen fest im Lehrplan verankert, aber es gibt immer wieder engagierte Lehrer und Lehrerinnen, die für diese Themen offen sind. Da setze ich an. Ich mag die Arbeit sehr. Wenn ich mit einer Gruppe von männlichen Jugendlichen über Machismo und Feminismus spreche und am Ende ein paar der Jungs ankommen und sagen: „Hey, das war echt interessant“, dann weiß ich, dass die Arbeit fruchtbar ist.

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Homosexualität ist in Peru ein Tabu-Thema. Sie steht zwar seit 1924 nicht mehr unter Strafe, aber offen ausgelebt werden dürfen die sexuellen Neigungen nicht. Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert in der Situation von LGBTQMenschen?

Ja. Wir sind mittlerweile Teil des politischen Geschehens, so ungerecht es auch weiterhin ist. Bisher sind alle Versuche, ein Gesetz zur AntiDiskriminierung oder für die gleichgeschlechtliche Ehe zu verabschieden, gescheitert. Auf kultureller Ebene aber sind wir viel weiter als noch vor zehn Jahren. Heute sind wir im Fernsehen, im Theater und in der Kunst sichtbar. Peru beginnt gerade erst, mit Diversität zu leben. In unseren Nachbarländern wie Chile, Bolivien, Kolumbien ist die LGBTQCommunity viel weiter.

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Gab es einen Wendepunkt in der LGBTQ-Szene im Kampf für ihre Rechte?

2011 gab es viele Konfrontationen mit der Polizei, die sehr heftig waren. Das war sicherlich ein Wendepunkt für die LGBTQ-Community. Wir begannen, mehr Widerstand zu leisten, den Mund aufzumachen und stolz zu sein auf das, was wir sind. LGBTQOrganisationen wie MHOL oder PromSex gingen mit ihren Forderungen in die Öffentlichkeit, es entstanden Filme und Theaterstücke über Diversität und ich hatte auf einmal keine Angst mehr, meine Freundin auf der Straße zu küssen. Das ist ein enormer Fortschritt. Sicherlich liegt das auch daran, dass die Community sich mit anderen sozialen Bewegungen zusammengeschlossen hat und ihre Reichweite größer geworden ist. Als die jährliche „Marcha del Orgullo“ (Gay Pride Parade) 2002 startete, war sie noch ein Exotikum. Es waren nur wenige Hundert Menschen; viele von ihnen trugen Masken, um nicht erkannt zu werden. Heute nehmen mehr als 5.000 Menschen teil und wir tragen unsere Forderungen zu Gunsten des Rechts am eigenen Körper selbstbewusst durch die Stadt. Heute laufen politische Parteien mit, Mütter und Väter von Schwulen und Lesben, sogar eine christlich-ökumenische Gruppe ist mit ihren eigenen Priestern dabei. Sie fordern die gelebte Vielfalt, das widerspricht sich nicht mit ihrem Glauben.

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Kinderbuch über Familien mit lesbischen Müttern.

Wo siehst du Verbesserungen auf politischer Ebene?

Heute zeigen wir mehr Gewalt und Diskriminierung gegen LGBTQPersonen an. Zum Beispiel, wenn ein Sicherheitsmann ein lesbisches Paar auffordert, den Supermarkt zu verlassen, wo sie händchenhaltend einkaufen waren. Es gibt immer noch Fälle, wo Diskotheken geschlossen werden, weil sich drinnen ein homosexuelles Paar geküsst hat. Ich bin selbst oft genug von der Seite angemacht worden, wenn ich mich öffentlich als Lesbe geoutet habe. Seit einigen Jahren gehen wir am 31. Mai auf die Straße. Das ist der Nationale Tag des Widerstandes gegen die Homophobie und Hate Crimes in Peru. An diesem Tag wurden 1989 acht Schwule und Transmenschen in Tarapoto von Mitgliedern der Revolutionären Bewegung „Tupac Amaru“, kurz MRTA, ermordet. Die MRTA war eine Guerillabewegung , die während des Bürgerkriegs in Peru in den 1980ern und 1990ern sogenannte „soziale Säuberungen“ vornahm. In den letzten Jahren gab es Hunderte von Todesfällen, die durch Homophobie motiviert waren. Wir haben also noch einen langen Weg vor uns.

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Liegt das auch an Gegenkampagnen wie „Con mis hijos no te metas“, zu Deutsch „Finger weg von meinen Kindern“, die gegen die sogenannte Gender-Ideologie auf die Straße gehen? 

Ja, auf jeden Fall. Die Kampagne „Con mis hijos no te metas“, die Ende 2016 Fahrt aufgenommen hat, kam aus dem ultrakonservativen rechten Sektor und den evangelikalen Kirchen. Sie attackierte den nationalen Lehrplan, der sich mit Gender für die Förderung einer gleichberechtigten Bildung von Jungen und Mädchen ausspricht. In diesem soll es um überholte Rollenvorstellungen von Männern und Frauen, die Gewalt in der Gesellschaft und Diversität gehen. Aber die Befürworter der Kampagne behaupteten, mit Gender würden Geschlechter aufgelöst, Homosexualität forciert und Kinder zum Geschlechtsverkehr animiert. Es war eine reine Hass- und Hetzkampagne, die vor Homophobie und religiöser symbolischer Gewalt nur so strotzte. Leider war sie aber auch sehr einflussreich und hat für uns einen herben Rückschlag bedeutet. Der Grad an Desinformation und Destablisierung in der Gesellschaft ist enorm. Durch diese Gegenkampagnen und vielen politischen Rückschläge ist die linke Bewegung heute deutlich gespaltener und oberflächlicher.

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Du bist Mitglied der neu gegründeten Partei „Neues Peru“. Welche Anliegen hat die Partei, was fordert sie?

Wir kommen aus dem linken Spektrum. Viele Mitglieder der neuen Partei waren früher bei der sozialistischen Partei „Breite Front“, auch unsere Vorsitzende Verónika Mendoza. Anders als „Breite Front“ setzt sich „Nuevo Peru“ noch stärker für den Feminismus ein, für die LGBTQ-Bewegung und andere Bereiche, in denen es in unserer Gesellschaft noch viel zu verbessern gibt, wie Arbeitsrechte, Rechte von Studierenden oder das Gesundheitssystem. Ich arbeite vor allem in der Kommunikation und in den Bereichen Diversität und Frauen. Unsere Partei ist noch sehr jung, und wir haben viele Leute dabei, die sich bisher kaum mit den Anliegen von Frauen beschäftigt haben. Das ist auch parteiintern sehr spannend, wie wir uns da positionieren.

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Was sind deine politischen Karriereziele?

Eigentlich möchte ich gerne Romane schreiben und weiterhin Aktivistin sein, weitermachen mit der feministischen Schule. Ich muss nicht unbedingt im Kongress arbeiten. Aber wenn es innerhalb der Partei Aufgaben gibt, von der die Gruppe profitierte, wenn ich sie übernähme, würde ich nicht Nein sagen. Es wäre ein Zeichen, mehr lesbische oder schwule Abgeordnete zu haben, die die Interessen aller Peruaner und Peruanerinnen vertreten und nicht nur die der Mehrheitsgesellschaft.

 

Veronica verteilt Luftballons mit Botschaften gegen Gewalt gegen Frauen.

Wie sähe eine eventuelle Regierung mit der Partei „Nuevo Peru“ aus? Welche Gesetze würdest du vorantreiben?

Sie würde sich vor allem der ärmsten Menschen in der Bevölkerung annehmen und Rechte wiederherstellen, die die rechten Regierungen der letzten Jahre aufgelöst haben. Eine Regierung, in der die Kämpfe der Frauen gegen Gewalt Priorität hätte. Peru rangiert auf Platz drei der Länder mit der höchsten Zahl von weiblichen Opfern sexueller Gewalt. In Lima halten fast drei Viertel der Einwohner die Gesellschaft für frauenfeindlich. Gleichzeitig findet fast die Hälfte der Hauptstadtbewohner, dass eine Frau im Minirock selbst Schuld daran sei, wenn sie belästigt wird. Da müssen wir ansetzen. Wir brauchen dringend ein Gesetz gegen Diskriminierungen jeglicher Art, die langfristige Aktionen umsetzt. Wir werden uns weiterhin für die gleichgeschlechtliche Ehe einsetzen und außerdem gegen die tief verwurzelte Korruption kämpfen. Unser Regierungsprogramm wäre etwas völlig anderes, als was wir bisher politisch haben erleben müssen.

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Du hast eine Tochter im Teenageralter. Was gibst du ihr mit auf den Weg?

Dass sie frei sein soll und dass sie so leben kann, wie sie will. Dass sie für ihre Rechte eintreten muss – das wird kein anderer für uns tun. Ich will ihr ein gutes Beispiel sein. Sie soll sich nie verstecken müssen. In den meisten Familien ist das Thema Homosexualität ja nach wie vor ein Tabu. Viele Betroffenen leben ihre Beziehungen im Verborgenen. Die Eltern sagen: „Hier drinnen bist du mein Sohn oder meine Tochter, ich respektiere dich, aber sprich auf keinen Fall darüber, wie du dein Leben lebst.“ Das finde ich schlimm. Glücklicherweise stand meine Familie immer hinter mir, das ist nicht selbstverständlich. Ich will, dass meine Tochter den gleichen Rückhalt erfährt wie ich.

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Was sind die Herausforderungen der LGBTQSzene für die Zukunft?

Wir müssen die Menschen in der Gesellschaft motivieren, mitzumachen. Wir müssen unsere Familien aufklären und mit dem Thema Gender in die Schulen gehen. Es gibt immer noch keine Gesetze, die die Rechte von LGBTQMenschen schützen. Wenn ich die Situation in den Provinzen sehe, wo Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung manchmal um ihr Leben fürchten müssen, mindestens aber geächtet werden, weiß ich, dass noch viel zu tun ist. Die pädagogische Arbeit müssen wir Aktivisten machen, das sind wir den künftigen Generationen schuldig.

 Hintergrund: Homosexualität in Peru

Peru hat etwa 31 Millionen Einwohner. Ein Drittel davon leben in der Hauptstadt Lima. Die LGBTQSzene im Land ist relativ klein und beschränkt sich fast ausschließlich auf Lima. Homosexualität ist in Peru seit 1924 legal, aber sozial weiterhin nicht anerkannt. Gleichgeschlechtliche Ehen sind nicht erlaubt. Ein Gesetzesentwurf zur Einführung einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft scheiterte 2015. Oftmals werden Gesetze zum „Schutz der öffentlichen Moral“ gegen Schwule und Lesben angewendet: Wenn sich Betroffene zum Beispiel auf offener Straße küssen, können sie aufgefordert werden, den öffentlichen Raum zu verlassen. Wer sich weigert, muss mit körperlicher Gewalt und vorübergehender Festnahme durch die Polizei rechnen. Die stark von der römisch-katholischen Kirche beeinflusste peruanische Gesellschaft droht immer wieder bekannten LGTBQPersonen mit Verfolgung in der Öffentlichkeit. Seit 2005 soll es über 400 Todesfälle gegeben haben, die durch Homophobie motiviert waren, sagt die Bewegung für Homosexuelle in Lima. 

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Von Eva Tempelmann, Münster / Lima

Eva Tempelmann hat 2014 bis 2020 mit ihrer Familie in Peru gelebt und dort als freie Journalistin, Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie über Umweltkonflikte in Peru, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Sie ist Co-Autorin des Reiseführers Peru & Westbolivien (Stefan Loose, 2018) und Peru & Bolivien (Marco Polo, 2020). Mehr unter: http://www.evatempelmann.com.

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