Die ersten Amtshandlungen der neuen polnischen Regierung unter Beata Szydlo sind in Europa auf lautstarke Kritik gestoßen. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, bezeichnete Polen jüngst als „gelenkte Demokratie nach Putins Art“. Doch die Breslauer wollen sich ihr Kulturhauptstadtjahr davon nicht vermiesen lassen.
Von Pauline Tillmann, Breslau / Wroclaw
Am vergangenen Wochenende ist das Europäische Kulturhauptstadtjahr im niederschlesischen Breslau feierlich eröffnet worden. Wenn man durch die Stadt flaniert, merkt man wie sich die Einwohner über den Titel freuen, denn: Das Programm bietet viel Kultur für die „normale Bevölkerung“. So auch für Malgorzata Urlich-Kornacka, die einst Germanistik und Russistik studiert hat. Heute führt sie vornehmlich Reisegruppen durch die Stadt und erzählt ihnen von Wroclaws wechselvoller Geschichte, das bis 1945 von Deutschen bevölkert war und Breslau hieß. Sie erklärt:
„Wir freuen uns unglaublich über den Titel, weil ihn die Stadt wirklich verdient hat. Bis Ende des Jahres sind mehr als 1.000 Veranstaltungen geplant, vor allem am Wochenende hat man die Qual der Wahl. Die Gesetze der neuen Regierung machen uns zwar alle Sorgen, aber Warschau ist weit weg. Wir lassen uns nichts verbieten, auch nicht das umstrittene Theaterstück von Elfriede Jellinek. Im Gegenteil, es ist sogar auf Monate hin ausverkauft.“
Am meisten freut sich Malgorzata Urlich-Kornacka auf die „Spanische Nacht mit Carmen – Zarzuela Show“, eine Megaproduktion der städtischen Oper. Breslau trägt den Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2016“ gemeinsam mit der spanischen Stadt San Sebastian. Die Aufführung soll daran erinnern und ist für den 18. Juni geplant. Mehr als 500 Künstler sollen vor 40.000 Besuchern spielen. Der Lieblingsplatz der Stadtführerin ist der zentrale Marktplatz, „Rynek“ genannt: „Dort treffen sich alle, dort blüht das Leben – und das hat nichts Künstliches, sondern ist wirklich so.“
Auf dem Marktplatz befindet sich auch das Büro des Stadtpräsidenten, Rafal Dutkiewicz. Er hat das Amt seit 2002 inne, in den Achtziger Jahren engagierte er sich in der Solidarnosc. In dieser Zeit entstand auch die politisch-künstlerische Bewegung „Orange Alternative“, an die bis heute mehr als 350 Bronzezwergen in der ganzen Stadt erinnern. Schließlich kämpften nirgends sonst die Menschen so leidenschaftlich gegen den Kommunismus. Nirgends sonst war die Zahl der zeitweise Inhaftierten höher. Die Breslauer fühlten sich schon immer als Europäer und sie waren schon früh bereit zur Versöhnung. So schrieb Boleslaw Kardinal Kominek im Jahr 1965 an seine deutschen Amtsbrüder: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung.“
Gleichzeitig gibt es in Polen besonders viele starke Frauen. Während des Sozialismus mussten sie viel entscheiden. Heute gibt es zwar immer mehr junge Manager, die Führungspositionen einnehmen, aber einige Frauen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle – so wie die Unternehmerin Viola Wojnowski. Die 49-Jährige plant und realisiert mit ihren 70 Mitarbeitern vornehmlich Einkaufshäuser. Vor einigen Monaten hat sie ein barockes Bürgerhaus im Zentrum der Stadt, in der Nähe des sogenannten Salzmarktes, gekauft. 2016 will sie es renovieren lassen. In Zukunft soll es ein Ort der Begegnung und der Kultur werden. Viola Wojnowski sagt:
Es ist unübersehbar, dass sich Breslau als europäische, weltoffene Stadt präsentieren will. Gleichzeitig regiert in Warschau eine Regierung, die Gesetze im Eiltempo beschließt, um den Rechtsstaat auszuhebeln. Breslaus Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz betont: „Nationalismen sind von gestern, Europa ist unsere Zukunft“ – und bezieht sich damit wiederum auf den Erzbischof Kominek. Dabei stellt der wachsende Nationalismus derzeit europaweit ein großes Problem dar.
Auch in Breslau demonstrierten mehr als 10.000 Anhänger der Gruppierung „Nationales Wiedererwachen Polens“ Anfang November 2015. Das „National-Radikale Lager“ verbrannte wenig später auf dem Marktplatz eine Judenpuppe. Der parteilose Dutkiewicz hat dagegen Anzeige erstattet und fordert als einziger polnischer Politiker ein Verbot nationalistischer Organisationen. Bislang hat sich die Regierung in Warschau nicht das Kulturhauptstadtjahr eingemischt. Aber das Jahr ist bekanntlich noch jung.
640.000 Einwohner 140.000 Studenten Zentrum der Provinz Niederschlesien 2007 – 2015 Vorbereitung für das Europäische Kulturhauptstadtjahr 1.000 Veranstaltungen im Jahr 2016 geplant 50 verschiedene Festivals 500 Millionen Euro Ausgaben für Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahres (inklusive Infrastrukturprojekte) – davon 30 Prozent aus EU-Fördertöpfen, 70 % aus städtischem Haushalt 50 Millionen Euro zusätzliche Ausgaben im Jahr 2016 – davon 50 % aus polnischem Staatsbudget, 50 % aus städtischem Haushalt 3 Millionen Touristen jährlich, Verdopplung bis Ende 2016 auf 6 Millionen geplant 120 Brücken, deshalb bekannt als „Venedig des Ostens“ Einer der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft 2012 (neben Warschau, Danzig und Posen) Deutsche Partnerstädte: Dresden, Wiesbaden
Disclaimer: Autorin Pauline Tillmann befand sich auf Einladung der Polnischen Botschaft vom 15. bis 18. Januar 2016 in Breslau. Sie hat auf Facebook, Twitter und Snapchat von den Feierlichkeiten berichtet.