Krieg wird oft von Männern analysiert und diskutiert. Ein Blick in den Libanon und darauf, wie Frauen den Krieg sehen und durchleben.
Von Julia Neumann, Beirut
Zusammenfassung:
Frauen im Libanon erleben den Krieg mit Resilienz und fatalistischer Normalität. Trotz unsicherer Lage und fehlender staatlicher Unterstützung bleiben viele, um Familie und Gemeinschaft beizustehen. Studien zeigen, dass Frauen, Migrantinnen und Queers besonders betroffen sind, ohne ausreichende Hilfsangebote. Während die Hisbollah den Konflikt prägt, wird die Schwäche des libanesischen Staates offenkundig. Trotz Traumata und der Gefahr kämpfen viele Libanesinnen für ein Leben in Würde.
Amani Haidar sitzt in einer klimatisierten Shopping-Mall auf einem pink bezogenen Stuhl und trinkt Eiskaffee, als es plötzlich rattert und dröhnt. Wie ein Gewitter, ein lautes Flugzeug oder das Nachbeben eines Bombenanschlags. Sie lacht. „Das ist nur ein israelischer Kampfjet, der die Schallmauer durchbricht“, erklärt sie entspannt.
Die 23-jährige Libanesin hat den Krieg mit Israel im Sommer 2006 miterlebt und ist so schnell nicht erschreckt. „Damals war ich ein Kind. Ich habe einfach aus dem Fenster geblickt und abwartend zugeschaut, wie die Bomben fielen.“ Israel nutzt das wie Anschläge klingende Krachen als psychologische Waffe, um Angst zu verbreiten.
In Israel und in den von Israel besetzten syrischen Golanhöhen wurden nach israelischen Angaben 45 Zivilist*innen und mindestens 73 israelische Soldaten getötet. In Israel schätzen die Behörden den Schaden an Häusern und Bauernhöfen auf mindestens 273 Millionen Dollar. Die Schäden an Wohnhäusern im Libanon werden auf 2,8 Milliarden US-Dollar geschätzt. 99.000 Wohneinheiten seien laut Weltbank beschädigt oder zerstört.
Am 27. November trat eine Waffenruhe in Kraft – doch sie ist fragil. Laut UN-Friedensmission Unifil hat Israel „etwa 100“ Mal gegen das Waffenstillstandsabkommen verstoßen. Die Hisbollah schoss daraufhin Raketen auf einen israelischen Militärposten in den umstrittenen Schebaa-Farmen. Ein israelischer Militärsprecher bekräftigte zudem ein Sperrgebiet im Südlibanon: Er nannte zehn Dörfer, in welche die libanesische Bevölkerung nicht zurückkehren sollte.
Vor allem Menschen im Südlibanon spürten und spüren den Krieg. Rund 100.000 waren Monate lang evakuiert, einige können nicht zurück, weil ihre Häuser zerstört sind. In ehemaligen Hotels oder Schulen hatten Kommunen und Hilfsorganisationen Notunterkünfte eingerichtet. Einige Menschen blieben aber in ihren Häusern.
Die Situation von Frauen, Migrant*innen und Queers
„Die Sicherheitslage ist katastrophal und sehr angespannt“, sagt Jasmin Lilian Diab. Sie kommt aus dem Südlibanon und ist Expertin für Migration, Gender und Konfliktforschung an der Libanesisch-Amerikanischen Universität. „Die Leute haben große Angst, sich zu bewegen. Es gibt Menschen, die im Süden wie gefangen sind.“ Diab hat Anfang des Jahres für UN Women, die Frauenrechtsorganisation der Vereinten Nationen, analysiert, welchen Einfluss der Krieg an der Südgrenze auf Frauen und vulnerable Gruppen wie Migrant*innen hat.
„Für die Libanes*innen ist es etwas einfacher“, sagt sie, denn viele dieser Familien könnten in die Hauptstadt Beirut ziehen, wo sie Bekannte und Verwandte hätten oder ein Haus besäßen. Generell habe diese Gruppe eher stabile Einkommensquellen. Einige könnten aber nicht zurück, weil ihr Haus durch israelische Angriffe in Schutt liege. Weniger gut sehe es für Migrant*innen aus, erzählt Diab. Sie würden sich häufig „mit freiberuflichen Tätigkeiten, Tages- oder Gelegenheitsjobs über Wasser halten.“
Das gelte vor allem für Syrer*innen, migrantische Arbeiterinnen und Frauen im Allgemeinen. Viele der Geflüchteten, mit denen sie gesprochen habe, hätten zuvor festere Einkommensquellen gehabt, in kleineren Unternehmen oder Fabriken. „Doch diese Arbeitsplätze fallen weg, Fabriken wurden wegen des Kriegs geschlossen oder laufen mit geringer Kapazität.“
Viele Geflüchtete arbeiten als Tagelöhner*innen in der Landwirtschaft. „Doch Aufenthalte auf offenem Feld sind gefährlich. Ein großer Teil des Landes im Süden ist mit weißem Phosphor belastet.“ Die chemische Substanz wird in Artilleriegeschossen, Bomben und Raketen verteilt und entzündet sich bei Kontakt mit Sauerstoff. Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ hat den Einsatz von weißer Phosphormunition durch das israelische Militär zwischen Oktober und Juni in mindestens 17 Gemeinden im Südlibanon dokumentiert.
Für die Menschen, die nicht fliehen konnten, oder jetzt zurück kommen, seien gemeinschaftliche Unterstützungsnetze wichtig, sagt die Wissenschaftlerin Diab. „Initiativen, humanitäre Organisationen und kleinere NGOs organisieren Behelfsunterkünfte oder spenden Essen. Denn die Kommunen im Süden haben derzeit nur sehr begrenzte Kapazitäten.“ Organisationen und Gemeinden müssten Frauen und andere gefährdete Gruppen stärker in die Planung, Entscheidungsfindung und Umsetzung ihrer Hilfspläne einbeziehen, empfiehlt Diab.
Ein staatliches Hilfsprogramm gibt es nicht. Der Staat ist pleite, daher fließen kaum staatliche Mittel. Während der Gefechte hatten Behörden geschlossen, sagt Diab, ebenso wie Kliniken, die sonst medizinische Hilfe anbieten. Viele medizinische Einrichtungen im Südlibanon sind nun zerstört oder nicht voll funktionsfähig. Auch davon seien Frauen, Queers oder Migrant*innen stärker betroffen.
„Wenn eine Frau einen Gewalttäter angezeigt hat, liegt die Akte jetzt auf Eis. Schwangere müssen weit fahren, um ihr Kind zu bekommen, und in Notunterkünften wird nicht nach Geschlechtern getrennt.“ Ausländische Haushaltsangestellte hätten ihr erzählt, dass sie auf das Haus ihrer Arbeitgeber*innen aufpassen sollten, während diese zu Verwandten nach Beirut geflüchtet sei.
Warum sich das libanesische Militär raus hält
Zurück zu Amani Haidar in der Shopping-Mall. Sie ist Schiitin und wohnt im Norden Beiruts. Trotz der angespannten Lage sieht sie keinen Grund, ihr Haus oder das Land zu verlassen. „Ich habe keine Angst. Wenn Gott möchte, dass ich sterbe, dann sterbe ich“, sagt sie gelassen. Während des heftigen Bombardements, auch auf Viertel in Beirut, blieb sie.
„Es ist nicht die libanesische Regierung oder der libanesische Staat, die beschlossen haben, einen Krieg mit Israel zu beginnen“, erklärt Nada Sehnaoui. Sie ist Künstlerin und als politische Aktivistin Mitglied von „Beirut Madinati“. Die Partei positioniert sich als eine Alternative zu den elitären Parteien, die von korrupten mächtigen Männern und ehemaligen Warlords angeführt werden.
„Die Hisbollah ist nicht allein verantwortlich“, sagt Sehnaoui. Die politischen Parteien hätten alle geholfen, die Ideologie zu prägen, dass die Stärken des Libanon in seinen Schwächen lägen. „Hätte die libanesische Regierung in den 60er und 70er Jahren den Südlibanon mit einer starken Armee verteidigt, bräuchte es keine private Miliz mit einer iranischen Agenda, um den Südlibanon zu verteidigen.“
Libanons politische Führung hat das Militär seit jeher relativ klein gehalten. Zum einen wollte sie einen möglichen militärischen Coup verhindern, zum anderen befürchtete sie, dass eine Wehrpflicht das konfessionelle Gleichgewicht unter den Soldaten stören könnte. Es gibt keinen Sozialstaat, die Lücke füllen politische Parteien. Die wiederum orientieren sich an religiösen Zugehörigkeiten.
Die Stärke der schiitischen Hisbollah liegt darin, dass sie Gewalt und Mord als politisches Druckmittel einsetzt, politische Beschlüsse blockiert und so Regierungen in Krisen stürzt. Einige Parteien profitieren finanziell oder politisch davon, die Machenschaften der Hisbollah zu ignorieren. Korruption zieht sich durch alle Behörden, sie hat das Land 2019 in eine tiefe Wirtschaftskrise gebracht.
Das Militär ist chronisch unterfinanziert, die Gehälter der Soldat*innen sind drastisch gesunken. Die innenpolitischen Strukturen des Libanon verhindern, dass die Regierung über eine Waffenruhe entscheiden kann. Diese ist seit Mai 2022 nur übergangsweise im Amt, seit November 2022 fehlt ein Präsident.
Erinnerung an vergangene Traumata
Viele Libanes*innen denken an vergangene Kriege zurück und die Traumata, die sich in ihren Knochen und Seelen festgesetzt haben. Selbst in der jungen Generation, die gerade über 18 ist, haben viele bereits einen Krieg durchlebt. 2006 hatte Israel den Flughafen angegriffen, eine Ausreise war nur auf dem Landweg möglich. Damals waren auch viele Deutsche über Syrien ausgereist. Doch aufgrund des Krieges dort ist dieser Weg versperrt.
Es leben mehr Libanes*innen in der Diaspora als im Land selbst. Einige versuchen trotz der Anspannung, in den Libanon zurückzukehren – auch schon vor der fragilen Waffenruhe. „Schwer zu erklären, aber der Libanon hat so viel Krieg erlebt, dass ein Gefühl von Fatalismus herrscht. Wir haben das alles schon einmal erlebt“, erklärt die politische Analystin Kim Ghattas auf X. Viele Libanes*innen fühlten das Bedürfnis, bei Familie und Freund*innen zu sein und fänden darin Trost.
„Ich habe den Horror des israelischen Psychoterrors miterlebt, seit ich sechs Jahre alt bin, und es hat mir immer Angst gemacht“ sagt auch die 30-jährige Yara Hijazi. Der einmonatige Krieg 2006 sei traumatisierend gewesen. „Ich stamme aus dem Süden des Libanon und meine Eltern leben dort. Die Familie meiner Mutter kommt aus Tyros, das ständig willkürlich angegriffen wird.“
Hijazi ist Libanesin, seit sechs Jahren lebt sie in Deutschland. Als die Menschen im Südlibanon ihre Häuser im Oktober 2023 evakuiert hatten, hätten viele in ihrem Umfeld in Deutschland sie gefragt, ob ihre Familie dort umziehen könne. „Ich wollte nur noch ins Flugzeug springen und bei ihnen sein. Das war wohl meine posttraumatische Belastungsstörung.“
Auch diesen Sommer bat sie ihren Chef, sechs Wochen in den Libanon reisen zu dürfen, drei Wochen lang von dort zu arbeiten. Normalerweise nutze sie die Wochen im Sommer, um an den Strand zu gehen, zu entspannen. Trotzdem bereut sie die Entscheidung nicht. „Wir sind hier zusammen, egal was passiert. Das ist besser, als weit weg zu sein und sich immer Sorgen zu machen, wie es der Familie geht.“ Die Unsicherheit sei leider normal. „Wir leben weiter.“