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„Wir brauchen einen kulturellen Wandel“
Ein besonderes Frauenhaus in Argentinien

29. Januar 2020 | Von Tamara Vogel
Mitgründerin Ada Beatriz Rico im Gemeinschaftsraum des „Casa del Encuentro“ in Buenos Aires. Fotos: Tamara Vogel

Das „Casa del Encuentro“ ist nicht nur eine Anlaufstelle für Opfer von häuslicher Gewalt, sondern auch ein Treffpunkt für argentinische Feministinnen. Die Organisation erstellte 2008 den ersten Bericht über Femizide in Argentinien und übernimmt eine Vorreiterrolle im Kampf für Frauenrechte.

Von Tamara Vogel, Buenos Aires

Frauen werden Opfer häuslicher Gewalt, von sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung. Knapp 400 von ihnen hat allein im vergangenen Jahr das „Casa del Encuentro“ betreut. Die Einrichtung in der argentinischen Hauptstadt ist für viele der einzige Zufluchtsort. Es sind Frauen jeden Alters, die hierherkommen. Die meisten von ihnen leben in Armenvierteln oder sind Migrantinnen.

Die heutige Präsidentin der Organisation, Ada Beatriz Rico, gründete mit Fabiana Tuñez und Marta Montesano 2003 das „Casa del Encuentro“, was so viel wie „Haus der Begegnung“ heißt. Während es in Buenos Aires mittlerweile viele Einrichtungen für Frauen in Not gibt, die von der Stadt betrieben werden, existieren außerhalb der Metropole deutlich weniger Beratungsstellen. Daher suchen im Casa auch Frauen aus dem Ballungsraum der Hauptstadt Hilfe.

„Argentinien hat inzwischen eine Fülle an Gesetzen auf nationaler Ebene, die Frauen schützen. Allerdings fehlt es an der richtigen Implementierung und Schulung von Mitarbeitern. Seit 2009 gibt es ein Schutzgesetz zur Bestrafung von Gewalt gegen Frauen, das auch verbale Gewalt einschließt. Wenn eine Frau eine Anzeige auf einer Polizeiwache macht, weil sie von ihrem Mann mit Worten bedroht wurde, wissen die meisten Polizist*innen gar nicht, dass dieses Gesetz überhaupt existiert“, sagt Rico.

Das Team der gleichnamigen Nichtregierungsorganisation besteht ausschließlich aus Frauen, die ehrenamtlich in unterschiedlichen Bereichen arbeiten. Die Arbeitsgruppen befassen sich mit der Umsetzung von Gesetzen oder organisieren Schulungen für Mitarbeiter*innen und die interessierte Öffentlichkeit. Doch der Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt das Hilfezentrum: Das ist an drei Nachmittagen in der Woche geöffnet und bietet hilfesuchenden Frauen Rat und Gespräche an. Das Casa setzt dabei auf Mundpropaganda und macht in den sozialen Medien auf das kostenlose Angebot aufmerksam. Finanziert wird es durch Spendengelder.

Selbstwertgefühl stärken

An jedem der drei Tage kümmern sich eine Sozialarbeiterin, eine Anwältin und eine Psychologin um die Frauen. Da es sich immer um die gleichen Mitarbeiterinnen handelt, soll ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Maximal sind acht Treffen vorgesehen, bei denen es nicht um eine Therapie geht sondern darum, das Selbstwertgefühlt der Frauen zu stärken. Laut Rico hätten sie oft das Gefühl, schwach zu sein. Dabei will Psychologin Hilen Ottone vermitteln: „Ihr seid stark, ihr könnt das!“ Über die persönlichen Geschichten im Haus dürfen und wollen die Mitarbeiterinnen nicht sprechen.

Psychologin Hilen Ottone.

„Wir sagen den Frauen nicht, was sie tun sollen. Wir möchten ihnen verschiedene Optionen aufzeigen und ihnen das nötige Selbstvertrauen mit auf den Weg geben, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können“, so Ottone. Mitgründerin Ada Beatriz Rico weist darauf hin, dass eine große Mehrheit der Frauen bei ihrem Partner bleibe: „Wir verurteilen diese Entscheidungen nicht. Viele Frauen trennen sich nicht, weil sie die Hoffnung haben, dass sich ihr Partner ändern wird oder weil Kinder im Spiel sind.“

Neben der Arbeit begeistert die Mitarbeiterinnen auch die Tatsache, unter Gleichgesinnten zu sein. „Ich finde es spannend, hier auf andere Feministinnen zu treffen, mit denen ich über aktuelle Themen debattieren kann. Wir sind nicht nur ein Hilfezentrum, sondern auch ein Treffpunkt für uns Frauen“, sagt Psychologin Ottone. Auch die Soziologin Valeria Colombo schwärmt von der besonderen Atmosphäre im Haus: „Wir sprechen hier von „Sororidad“, also der Schwesterlichkeit unter Frauen in Bezug auf soziale Geschlechterfragen.“

Colombo ist eigentlich Informatikerin und hat einen zweiten Universitätsabschluss in Soziologie erworben. „Während des Studiums habe ich mich intensiv mit feministischen Theorien beschäftigt. Nach meinem Abschluss wollte ich mein theoretisches Wissen in der Praxis anwenden“, erinnert sich Colombo. Das war 2012. „Wir wollten damals in erster Linie einen Treffpunkt für Frauen schaffen“, erinnert sich Rico. Doch bereits ein Jahr nach der Eröffnung suchten immer mehr Angehörige verschwundener Frauen das Casa auf. Damals gab es kaum staatliche Einrichtungen, an die sich betroffene Familienmitglieder wenden konnten, die hinter dem Verschwinden Frauenhandel vermuteten.

Auch eine Anlaufstelle für Opfer von Frauenhandel

In Argentinien ist das ein großes Problem: Meist werden die Mädchen und Frauen durch falsche Jobversprechen auf Flyern oder in den sozialen Netzwerken von kriminellen Banden angelockt und häufig zu Opfern von Zwangsprostitution im Inland und den Nachbarstaaten. Im ersten Halbjahr 2018 wurden in Argentinien insgesamt 624 Menschen, die sexueller oder arbeitsrechtlicher Ausbeutung ausgesetzt waren, vom Ministerium für Justiz und Menschenrechte befreit. Die Mehrheit dieser Opfer – 372 – waren erwachsene Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, vorwiegend aus Bolivien und Paraguay. „Wir wollten als Organisation erreichen, dass sich der Staat dieser Thematik in Form von Hilfsangeboten stärker annimmt. Das haben wir geschafft“, erzählt Rico. Es gibt inzwischen sogar eine kostenlose Hotline, an die man*frau sich wenden kann.

Frauen werden in Argentinien immer wieder Opfer von Zwangsprostitution (Foto: Unsplash).

Daneben kamen zunehmend Opfer häuslicher Gewalt in die Einrichtung, dessen Extrem der Femizid ist. Femizid bezeichnet einen Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. Laut den Vereinten Nationen wurden 2017 weltweit knapp 60 Prozent der weiblichen Mordopfer von einem Familienmitglied oder Partner getötet. Letzteres war zum Beispiel auch bei Chiara Páez der Fall: Als die damals 14-Jährige im dritten Monat schwanger war, verlangte ihr damaliger Freund, das Kind abtreiben zu lassen. Als der Streit eskalierte, schlug der Junge Chiara tot und vergrub ihre Leiche im Garten seiner Großeltern. Im September 2017 wurde er zu 21 Jahren Haft verurteilt. Dieser Femizid war der Beginn der Frauenbewegung „Ni una menos“, zu Deutsch „Nicht eine weniger“, die sich im Juni 2015 konstituierte und später in ganz Lateinamerika ausbreitete.

Die ersten Treffen der Journalistinnen, die die Bewegung ins Leben gerufen haben, fanden im „Casa del Encuentro“ statt, das als neutraler Ort gewählt wurde, um sich keiner politischen Richtung zuordnen zu müssen. „Seit ,Ni una menos‘ weiß jeder von der Problematik der Femizide im Land. Früher war das ein Thema, das wir nur unter uns besprachen. Doch jetzt ist es in der gesellschaftlichen Debatte fest verankert“, erzählt die Soziologin Valeria Colombo. Die Organisation erreichte 2012 die Aufnahme des Femizids in das Strafgesetzbuch. Demzufolge wird die Strafe verschärft, wenn das Motiv für den Mord das Geschlecht einer Frau oder Transgender-Person war.

Der unsicherste Ort ist das eigene Zuhause

Vor elf Jahren erstellte das „Casa del Encuentro“ den ersten Bericht über Femizide in Argentinien. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine offiziellen Statistiken. Früher wurde in Argentinien im Kontext eines Femizids von einem „crimen pasional“, also einem „Verbrechen aus Leidenschaft“, gesprochen. Inzwischen dominiert die Bezeichnung „violencia de genero“, also „geschlechtsspezifische Gewalt“.

Der erste Bericht glich einer Mammutaufgabe: 35 Freiwillige durchsuchten ein Jahr lang täglich 46 Medien auf Nachrichten über Morde an Frauen. Dabei teilten sie das Land in Zonen auf und lasen neben großen Tageszeitungen auch regionale Zeitungen in den 23 Provinzen des Landes sowie Blogs. „Uns war natürlich bewusst, dass diese Zahl nicht die Realität wiederspiegelte, denn in vielen ländlichen Gegenden gibt es keine regionalen Zeitungen“, sagt Ada Beatriz Rico rückblickend. Ein Jahr später untersuchten sie bereits 250 Medien auf Nachrichten über Femizide. Im Jahr 2015 begann der Oberste Gerichtshof mit der Erstellung eines nationalen Registers für Femizide in Argentinien. Gleichzeitig wollte das „Casa del Encuentro“ seine Berichte weiterführen und veröffentlicht sie bis heute.

Die Statistiken zeigen, dass der unsicherste Ort für eine Frau die eigenen vier Wände sind. 60 Prozent der Femizide geschehen zu Hause. Im Jahr 2018 wurden 273 Frauen in Argentinien getötet – 173 von ihren (Ex-)Partnern. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2018 laut Bundeskriminalamt 122 Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet. Die meisten Frauenmorde in Argentinien ereignen sich an Feiertagen wie Muttertag oder Weihnachten.

„Das sind sehr traditionelle Festtage. Wenn Frauen hier das Wort ergreifen und mitbestimmen wollen, passt das vielen Männern oft nicht“, so Rico. Die Zahl der Femizide sei über die Jahre hinweg konstant geblieben. „Das wird auch in naher Zukunft so bleiben. Wir brauchen einen kulturellen Wandel“, glaubt die Organisationspräsidentin. Informatikerin und Soziologin Valeria Colombo setzt ihre Hoffnung vor allem auf die sozialen Medien: „Ich denke, dass uns Facebook und Co. uns dabei helfen können mehr Menschen zu erreichen und so die Entwicklung schneller voranzutreiben.“

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Von Tamara Vogel, Berlin

Tamara Vogel berichtet als freie Journalistin für Online, Video und Print schwerpunktmäßig über politische Entwicklungen und soziale Bewegungen in Lateinamerika, vor allem in Argentinien. Dort hat sie nach ihrem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft ein Jahr lang gelebt. Derzeit wohnt sie in Berlin und ist in der Social-Media-Redaktion des Handelsblatts tätig. Mehr unter: www.tamaravogel.com.

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