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„Wir bluten nicht zum Spaß“
Neue Armut in der Türkei

12. April 2023 | Von Ellen Rudnitzki
In vielen Stadtviertel von Istanbul wohnen bescheidener Wohlstand und äußerste Armut Tür an Tür. Alle Fotos: Ellen Rudnitzki

Seit Monaten stöhnt die Bevölkerung in der Türkei über eine Hyperinflation von über 80 Prozent. Das stürzt viele Menschen in eine noch nie gekannte Armut. Dabei sind Frauen besonders betroffen: Sie werden schneller entlassen, müssen bei der Jobsuche häufig zu Gunsten der Männer zurückstecken. Gleichzeitig sind es auch oft Frauen, die versuchen, einen Ausweg zu finden.

Von Ellen Rudnitzki, Istanbul

Ayşe Tükrükçü hat viel zu tun in diesen Tagen. Die 55-Jährige ist Besitzerin des Hayata Saril Cafés in der Nähe des Taksim Platzes im Herzen Istanbuls. Tagsüber ist das Café beliebter Treffpunkt von Geschäftsleuten und Angestellten, die ihre Mittagspause hier verbringen. Die meisten Gäste zahlen nicht nur ihre Rechnung, sondern stecken auch noch eine Spende in die bereitstehende Box. Diese Unterstützung ist wichtig für Tükrükçü, denn ab 20 Uhr, wenn das Café geschlossen hat, beginnt für sie die zweite Schicht: Zusammen mit sechs, sieben Mitarbeitenden verpackt und verteilt sie Essen an Obdachlose und Menschen, die sich eine normale Mahlzeit nicht mehr leisten können.

Wie es sich anfühlt, arm und obdachlos zu sein, weiß die resolute Gastronomin aus eigener Erfahrung: Geboren in Gazi Antep, aufgewachsen in Berlin, kehrte sie als 23-Jährige wieder in die Türkei zurück. Aus der Einkaufsleiterin eines Supermarkts in Deutschland wurde in der alten Heimat erst die Ehefrau, dann eine Prostituierte – ein Job, zu dem ihr damaliger Ehemann sie zwang. Zweieinhalb Jahre arbeitete sie in einem Bordell in Istanbul. Schließlich floh sie aus der Ehe und landete zunächst auf der Straße, bis sie nach zwei Monaten Unterschlupf bei einer Freundin fand.

2007 eröffnete sie ihr Café mit geliehenem Geld und wurde erfolgreich. Ein Erfolg, den sie von Beginn an teilen wollte. Dass die Essensausgabe allerdings für so viele Menschen einmal eine nahezu existenzielle Bedeutung haben würde, hätte sie sich früher nicht vorstellen können. „Meine Arbeit war noch nie so wichtig wie heute“, meint sie. „143 Essen waren es an diesem Abend und es werden täglich mehr.“

Ayşe Tükrükçü beim Verpacken der Mahlzeiten.

Die Krise reißt alle mit

Die Angst vor der Armut geht um in diesen Tagen und Frauen sind noch einmal mehr betroffen: Wenn die Arbeitsplätze rar werden, sind es zunächst die Mitarbeiterinnen, die entlassen werden. Nach einer Studie des internationalen Dienstleisters Deloitte liegt ihre Arbeitslosenquote landesweit mittlerweile bei 33,7 Prozent. Das betrifft auch immer mehr junge, gute ausgebildete Frauen wie Hatice Güngör. Die 35-Jährige hat sich im Hayata Saril Café einen Tee bestellt, wie so oft, bevor sie ihren Sohn von der Schule abholt. Hatice Güngör hat ein Dolmetscherinnenexamen und arbeitet als Übersetzerin.

Geboren ist sie in der Türkei, aufgewachsen in Deutschland. Seit zwölf Jahren lebt sie nun in Istanbul. Zusammen mit ihrem Mann hatte die Familie ein gutes Einkommen. Jetzt reicht das Geld vorne und hinten nicht mehr und sie hat Angst vor der Zukunft: „Ich habe einen zwölfjährigen Sohn und es ist nicht einfach, die Miete, die Schule, das Essen zu bezahlen; ich mache mir Gedanken, kann ich mir nächsten Monat noch die Milch leisten, den frischen Joghurt? Früher habe ich gedacht, egal, was passiert, Gemüse können wir immer noch essen. Doch das stimmt nicht mehr, früher kostete ein Kilo Tomaten umgerechnet 20 Cent, heute 1,30 Euro.“ Immer wieder überlegt sie, ob sie nicht in den Süden, nach Anatolien, ziehen soll. Dort ist alles viel billiger als in der Metropole Istanbul. Doch dann würde ihr Mann als Elektroingenieur seine Festanstellung verlieren und alles würde noch schwieriger.


 

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Wenn aus Armut Hunger wird

Die Pandemie und eine abenteuerliche Wirtschaftspolitik haben die Preise explodieren lassen. Die Journalistin und Politikerin Hacer Foggo kämpft seit Jahren gegen die Verelendung in ihrem Heimatland. Zusammen mit Freund*innen gründete die 56-Jährige ein Netzwerk gegen extreme Armut. Eine Armut, die ihr, wie sie glaubte, in all den Jahren vertraut geworden ist, doch „in den letzten Monaten“, sagt sie, „ist diese ,normale‘ Armut in Hunger übergegangen, es gibt tatsächlich nichts mehr zu essen.“ Das sei eine Krise, die die ganze Gesellschaft verändere.

„Die Menschen werden seelisch und körperlich krank, immer mehr Kinder müssen arbeiten anstatt in die Schule zu gehen. Das wird sich auch auf die Zukunft auswirken“, glaubt sie. Berührungsängste mit den Ärmsten der Armen hat Hacer Foggo nicht. Als eine der Berater*innen des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP setzt sie sich auch hier für Menschen ein, die von der Gesellschaft abgehängt werden. Immer wieder wird dann aus der eleganten Politikerin eine Frau, die die Ärmel hochkrempeln und zupacken kann.

Ihr Klientel kennt sie sehr genau, besucht sie in ihren Hütten, oft in Stadtvierteln, in denen ein bescheidener Wohlstand und äußerste Armut Tür an Tür existieren. Dort reihen sich moderne Häuser neben sogenannten Gecekondus, also Behausungen, die über Nacht hochgezogen werden. So wie die Hütte von Asli Han. Jeden Tag steht die alte Frau hier und wartet auf Handwerker, die sie irgendwie bezahlen kann und die ihr die maroden Türen und Fenster abdichten, durch die der kalte Wind fegt. Vielleicht kennt ja irgendjemand irgendwen, der Mitleid mit ihr hat.

Journalistin und Politikerin Hacer Foggo kämpft gegen die Verelendung in der Türkei.

Bis dahin wohnt sie bei Verwandten, doch die können eine Esserin mehr eigentlich nicht gebrauchen. Sie erzählt: „Manchmal melden sich jetzt Menschen, von denen ich dachte, sie hätten sich endgültig befreien können aus der Armutsspirale.“ Wie der junge Mann, dessen Familie sie geholfen hat, als er noch ein kleiner Junge war. Jetzt ist er 24, ist verheiratet und hat ein Baby. Vor Kurzem habe er sie angerufen und gesagt, er könne keine Windeln für das Baby kaufen und sie um Hilfe gebeten. Mittlerweile kämen solche Anrufe längst nicht mehr nur aus den armen Bezirken, sondern aus ganz Istanbul.

Und in ganz Istanbul bilden sich vor vielen Bäckereien lange Schlangen. Hier kann man ein oder – wenn man Glück hat – auch zwei Brote umsonst bekommen, das sogenannte „Askida“-Brot, das Brot für die Armen. Das System: Wer mag, kauft nicht nur Brot für die eigene Familie, sondern kann gleich mehrere Brote bezahlen, die dann an die Menschen verteilt werden, die sich selbst das nicht mehr leisten können. In den Schlangen stehen fast ausschließlich Frauen – und das hat einen Grund: „Mein Mann hätte auch Zeit, er ist auch arbeitslos“, erklärt Melahat Ak, „aber er wird schnell wütend, wenn er warten muss, ich kann in Ruhe warten, bis ich etwas zu essen für mein Kind habe.“ 

Hacer Foggo auf einer Konferenz (links) und vor einer der vielen Hütten.

Wie Melahat Aks Ehemann werden viele Männer in der Krise praktisch unsichtbar. Wer seine Familie nicht mehr ernähren kann, wird tief in seiner Ehre verletzt, viele Männer schämen sich für ihre Arbeitslosigkeit und verkriechen sich in ihren vier Wänden. So sind es meist die Frauen, die die Dinge in die Hand nehmen und auf Probleme aufmerksam machen. „Probleme von denen ich mir früher nicht hätte träumen lassen, dass es sie gibt: Frauen, die sich Tampons oder Menstruationsbinden nicht mehr leisten können und Stoffreste verwenden müssen“, erzählt die Journalistin Hacer Foggo.

Gizem Alica und Ceren Gunel demonstrieren für mehr Gleichberechtigung.

„Wir bluten nicht zum Spaß“

Ein Problem, das nicht nur Frauen in den Gecekondus betrifft, sondern zum Beispiel auch Studentinnen, die sich schwer damit tun, einen Nebenjob zu finden. Jetzt gehen sie auf die Straße, wie auf einer Demonstration in Izmir vor ein paar Monaten. Auf ein rot beflecktes Banner schrieben sie: „Wir bluten nicht zum Spaß“. Initiiert wurde der Protest von Studentinnen der Dokuz Eylül Universität in Izmir. Mittlerweile hat er sich über das ganze Land ausgebreitet.

Gizem Alica und Ceren Gunel sind zwei dieser „Campus-Hexen“, wie sie sich selber nennen. In Istanbul haben sie Menstruationsbinden unter die Scheibenwischer der parkenden Autos geklemmt – eine ungeheure Provokation und ein Tabu-Bruch. Menstruation ist in der türkischen Gesellschaft etwas, das Frauen zwar haben, aber nicht öffentlich thematisieren sollen. Tampons oder Binden werden beim Einkauf verschämt und diskret in eine schwarze Plastiktüte gepackt, um sie vor fremden Blicken zu schützen.

„Es ist nicht nur ein Tabu, über Menstruation zu reden, sie soll gar nicht in Erscheinung treten“, sagen Alica und Gunel. Sogar einige Kommilitonen zeigten sich empört. Im Internet mussten die Aktivistinnen einen Shitstorm über sich ergehen lassen. Davon stoppen lassen sie sich aber nicht. Zuletzt haben sie eine Unterschriftenkampagne ins Leben gerufen, die dafür wirbt, Hygieneartikel an der Universität umsonst zur Verfügung zu stellen. Und es ist sogar schon ein Anfang gemacht, denn einige Unis haben sich tatsächlich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen.

Und ein weiterer Erfolg: Die Mehrwertsteuer auf Menstruationsartikel wurde von 19 auf acht Prozent gesenkt. Darauf sind sie besonders stolz. „Wer hält denn das Land am Laufen?“, fragen Gizem Alica und Ceren Gunel und geben auch gleich die Antwort. „Das sind doch wir, die Frauen.“ Frauen wie sie, wie Café-Besitzerin Ayşe Tükrükçü, die Politikerin Hacer Foggo und die unzähligen, die sich einfach nur in eine Schlange stellen, um Brot für die Familie zu besorgen.

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Von Ellen Rudnitzki, Köln

Ellen Rudnitzki ist freie Journalistin und Filmemacherin. Sie war Autorin und Produzentin für DW und WDR, häufig in Südamerika. Seit 20 Jahren arbeitet sie außerdem als Psychoanalytikerin mit eigener Praxis. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin und Teilhaberin der Agîr Media (UG) in Köln.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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