„Die schwarze Frau ist ein wertvolles Wesen. Sie geht ihren Weg, schreibt ihre Geschichte, jeden Tag, ohne anzuhalten. Frau der Sonne und des Regens, eine naturgegebene Führung. Übermittlerin von Wissen und Schöpferin von Frieden.“
Von Diana Deutschle, Guapí
Ganz sacht kommt es über ihre Lippen, dieses Lied, das schon die Vorfahren von Teofila Betancurth gesungen haben, als sie ihre Arbeit auf den sonnenverbrannten, staubtrockenen Äckern in Afrika verrichteten. Und wohl auch als sie nach Kolumbien verkauft wurden, als Sklaven, die in den Bergminen nach Gold suchen mussten. Ein Lied, das durch seine tiefen gleichförmigen Tonlagen und die fremd klingenden Silben etwas Urtümliches hat, etwas Beschwörendes und Trostspendendes, ganz so als müsste es die schmerzvolle Vergangenheit der afrikanisch-stämmigen Kolumbianer vergessen machen.
Teofila Betancurth ist eine von ihnen. Rund fünf Millionen Afrokolumbianer leben im Land. Das entspricht elf Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie bewohnen die Atlantik- und die Pazifikküste, wie Teofila und ihre Familie. „Früher war das hier ein Paradies, hier gab es alles im Übermaß“, sagt die Frau mit dem hünenhaften Körper und den Rasta-Zöpfen, während ihr Blick voller Sehnsucht über Guapí wandert, ihre Heimatstadt, die in der zweitärmsten Provinz Kolumbiens liegt. Hier ist sie aufgewachsen, hier ist sie mit ihrem Vater jeden Morgen zum Fischen gefahren, hier hat ihr die Großmutter, die Dorfheilerin und Hebamme, jahrhundertealtes Wissen von Pflanzen und ihrer Heilkraft beigebracht.
Von der Idylle eines Fischerdorfs ist heute wenig übrig geblieben. Der Grund: Die Zahl der Bevölkerung in Guapí ist explodiert. Rund 30.000 Menschen leben hier in einer der südlichsten Städte Kolumbiens, nahe der ecuadorianischen Grenze. Kunterbunte Städte sind das, mit gelb und grün bemalten Häusern ohne Fenstern, dazwischen stehen Blechhütten. An jeder Ecke quillt der Müll aus Plastiktüten. Die Straßen sind zu jeder Tageszeit voller Menschen. Immer wieder fällt der Strom aus, Telefon und Internet gibt es nur im Rathaus. Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser.
Vor den Toren der Stadt tummeln sich die großen Kutter internationaler Reedereien, die auf der Suche nach Schalentieren sind und den kleinen Fischern den Fang wegschnappen. Und im Landesinnern treten immer mehr Großkonzerne auf, die den Wald abholzen und die Erde aufbohren, um Gold und andere Erze abzubauen. Die Arbeitslosigkeit an der Pazifikküste ist insgesamt hoch, die Analphabetenrate auch. 34 Prozent leben in extremer Armut.
Kolumbianischer Bürgerkrieg hinterlässt seine Spuren
„Und Guapí steht da vergleichsweise noch gut da, weil wir abseits und in einem der regenreichsten Gebiete weltweit gelegen sind, so dass wir zumindest unser Land bebauen können“, sagt Teofila, die aus einer Familie mit elf Kindern stammt und wie ihre Großmutter Hebamme ist. Mit ihrer Einschätzung hat sie Recht. Die größeren Siedlungen im Norden der Pazifikküste, zumeist Hafenstädte, sind viel stärker gezeichnet von Elend, Gewalt und Korruption. Hierher hat es viele afrokolumbianische Familien verschlagen. Viele sind Opfer des kolumbianischen Bürgerkriegs, der seit über 50 Jahren im Land tobt und bisher rund 200.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Gewalt der Konfliktparteien der Paramilitärs, Guerilla und Armee prägt bis heute den Alltag vieler Landbewohner. Immer wieder werden Menschen getötet und vertrieben, Schätzungen zufolge handelt es sich um 5,7 Millionen, die Land und Besitz verlassen mussten. Darunter viele Afrokolumbianer – besonders Frauen und Kinder – vergessen von Regierung und dem Rest der kolumbianischen Gesellschaft.
All das konnte und wollte Teofila Betancurth irgendwann nicht länger mitansehen. Die einfache Frau vom Land, ohne Berufsausbildung, mit 16 Jahren verheiratet und mit 17 Mutter, beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. „Und ich kann stur sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ich bin eben eine rustikale Frau“, sagt sie während über ihr gutmütiges Gesicht ein kurzes Lächeln huscht. „Alles fing damit an, dass wir Kranke hatten, aber kein Krankenhaus. Ich sagte zu mir: Wir müssen diese Menschen versorgen – wie schaffen wir das nur? Ich zerbrach mir Tag und Nacht den Kopf, es war eine Qual. Doch während einer weiteren schlaflosen Nacht kam mir die Idee: Wir machen es wie unsere Vorfahren. Wir pflanzen Heilkräuter.“ Das war vor 22 Jahren. Der Auftakt zu einem Projekt, das vielen Menschen in der Region Perspektive und Hoffnung geben sollte.
Doch zunächst braucht die damals 29-Jährige Mitstreiterinnen; allein kann sie nichts ausrichten, noch viel weniger gegen die Meinungsführerschaft der Männer. Teofila Betancurth besinnt sich dabei auf die traditionell starke Rolle der Frau, wie ihre Großmutter es ihr gezeigt hatte: „Die Frau ist seit jeher Basis und Motor einer Familie, des Lebens überhaupt! Sie zieht auf und erzieht, sie füttert und ernährt, sie vermittelt Werte und Wissen, sie trifft die wesentlichen Entscheidungen, was das Wohl ihrer Kinder angeht und beeinflusst Entwicklung, Wachstum und das Selbstverständnis künftiger Generationen.“
Kräuter als Weg aus der Krise
Ihre Idee: Die Frauen sollen Gewürze, Heil- und Küchenkräuter selbst anbauen. „Die meisten Familien haben einen Garten. Der liegt aber in der Regel brach, weil niemand den jungen Frauen beigebracht hat, wie man anbaut und pflanzt.“ Also erzählt sie Freundinnen und Nachbarinnen von ihrer Idee. Die reisen, genau wie Teofila, in die Stadt und in afrokolumbianische Gemeinden im Umland. Manchmal sind sie mehrere Tage, gar Wochen unterwegs. Ihre Reisen sind strapaziös und auch gefährlich.
„Der Anfang war sehr schwer“, erinnert sich Teofila, „die Menschen fühlen sich hier oftmals verloren und sind leer, nur leer. Wer sie zu einer Arbeit bewegen will, die kein schnelles und sicheres Geld bringt, hat es schwer. Daher haben wir es über die kulturelle Ebene versucht. Wir haben den Frauen gezeigt: Schau mal, das haben deine Urahnen in Afrika schon gepflanzt. Damit haben sie dies und jenes traditionelle Gericht gekocht. Und damit haben sie die Krankheiten ihrer Kinder geheilt. Das kannst du auch! Wir erzählen ihnen überlieferte Geschichten. Insgesamt überzeugt das dann doch, denn die meisten hier lechzen nach Identität, sie sehnen sich nach einer Gemeinschaft mit verbindlichen Werten – und die haben wir ihnen über praktische Arbeit gegeben.“
Das Projekt hat Erfolg: Heute sind 300 Frauen in der Region rund um Guapí beteiligt – und hinter jeder Frau steht eine ganze Familie. Zunächst erhält jede einen Einführungskurs von Teofila und ihren Helferinnen. Sie erklären ihnen, wie man aussät und pflanzt, Samen züchtet und erntet. Eine alte Tradition ist es, die Kräuter und Gewürze auf Hochbeeten anzubauen. „Azoteas” nennen sie das hier. Auf diese Kräuterbetten schichten die Afrokolumbianerinnen die fruchtbare Erde der Pazifikregion – und wenn der Fluss wieder über die Ufer tritt und alles überschwemmt, kann er Saat und Pflanzen nicht mitreißen, wohl aber ganz sanft düngen.
So lernen die Beteiligten nicht nur etwas über landwirtschaftliche Praktiken und über die Landschaft, in der sie leben, sondern auch viel über Ernährung und Gesundheit, was für sie und ihre Kinder wichtig ist. „Außerdem geht es darum“, sagt Teofila, „dass die Frauen Verantwortung und Eigeninitiative übernehmen. Sie lernen Werte wie Geduld, Fleiß und Liebe zur Natur selbst zu leben und das an ihre Kinder weiterzugeben. Sie sollen ihren Nachkommen ein echtes Vorbild sein. Nur so können wir unser Leben hier langsam ändern – Schritt für Schritt – und irgendwann endgültig aus dieser Spirale aus Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Kriminalität, die uns umgibt, ausbrechen.“
„Es ist viel Bewegung in unsere Welt hier gekommen“
Inzwischen strukturiert die Kräuterproduktion den Alltag der Familien: Vormittags bleiben die Frauen zuhause und kümmern sich um den Haushalt und Kindererziehung, mittags arbeiten sie in ihrem Kräutergarten. Sie haben Frauengruppen gegründet, helfen sich gegenseitig, singen und lachen. Sie tauschen sich aus und zwar nicht nur über Kräuter sondern über Küche, Heilmedizin, Spirituelles vieles mehr: „Es ist viel Bewegung in unsere Welt hier gekommen, so als ob gerade eine neue Gesellschaft entsteht, eine, die auf Miteinander und Solidarität basiert.
Teofila ist sich bewusst, dass diese Aufbruchsstimmung nur anhält, wenn es den Familien dadurch finanziell besser geht. Heute produziert jede beteiligte Familie ganze Kräuterbüschel, eine Mischung aus dem für die Gegend typischen wilden Koriander, Oregano, Basilikum und zwei weiteren heimischen Kräuterarten. Alles aus organischem Anbau. Die Büschel sind mittlerweile begeht: Inzwischen haben sich die Preise dafür verfünffacht – und geben den Familien heute ein bescheidenes, aber doch wichtiges Zubrot. Damit das auch so bleibt, hat Teofila vor 20 Jahren eine Stiftung namens „Chiyangua“, zu Deutsch wilder Koriander, gegründet. Und sie hat es sogar geschafft, dass die Regierung die Stiftung und ihre Vorhaben finanziell unterstützt. „Allerdings nur sporadisch – wir müssen es selbst schaffen, aus eigener Kraft“, sagt die 51-jährige Afrokolumbianerin mit rauer Stimme.
Und sie haben es geschafft: Täglich gibt es jetzt einen Gemüsemarkt in Guapí. Neue Geschäfte mit Tees, Pasten und Salben aus Kräutern haben ihre Arbeit aufgenommen. Die Stiftung hat ein Restaurant mit traditioneller Afroküche eröffnet. Außerdem forschen die Frauen, wie sie ausgestorbene Pflanzen wieder anbauen und wie Samen archiviert werden können. Sogar die Organisation „Slow Food“ hatte einmal Interesse an den organischen Kräutern aus Guapí und lud Teofila nach Italien ein, um ihre Stiftung vorzustellen. Allerdings ist es Teofilas Frauen noch nicht möglich, Kräuter in so großen Mengen zu produzieren, dass sich der Transport aus von Guapí nach Europa lohnt. Also platzte die Kooperation.
Als Nächstes wollen sie eine Presse bauen, um die Kräuter zu Ölen zu verarbeiten. Die Pflanzen werden mittlerweile über die Grenzen der Region hinaus verkauft: „Wir wollen, dass sie im ganzen Land vertrieben werden. Dann können wir noch mehr Frauen von hier beschäftigen. Jetzt klingt das noch wie eine Utopie, aber es gibt keinen Grund, es nicht wenigstens zu versuchen.“ Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Schon jetzt könnte die große Frau mit den breiten Schultern sehr zufrieden sein. Denn sie hat vor allem auch eins geschafft: Den skeptischen Männern den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihre Blockadehaltung abzubauen: „Wir haben Sensibilität bei den Männern geweckt, die Rechte und den Status der Frau zu respektieren, auf sie zu hören, sie so wahrzunehmen, wie es Tradition ist. Das ist eine ursprüngliche Kraft. Wir brauchen sie, denn das stärkt unsere Welt.“
Heute arbeiten sogar 50 Männer in der Kräuterproduktion. Das freut Teofila, die Mutter von zwei Töchtern und fünffache Großmutter ist – allesamt nur Mädchen. Doch stolz auf das, was sie geschaffen und erreicht hat, will sie noch nicht sein: „Ich möchte, dass wir ein Frauenhaus bekommen. Ich möchte, dass die Frauen auch politisch wahrgenommen werden. Und ich möchte, dass unsere afrokolumbianischen Frauen im ganzen Land respektiert werden – für das, was sie können, für das, was sie sind. Dafür kämpfe ich weiter. Wenn es sein muss, noch weitere 20 Jahre.“