Vielfalt ist wichtig, um die Gesellschaft in all ihren Facetten widerzuspiegeln. Deshalb starten wir heute eine neue Kooperation und veröffentlichen den ersten Text von „andererseits“, einem Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. An jedem letzten Mittwoch im Monat übernehmen wir einen Text von Clara Porak. In ihrer fünfteiligen Serie blickt sie auf ihren Bruder, der das Down-Syndrom hat.
Von Clara Porak, Wien
Hallo, ich bin Clara, Journalistin bei „andererseits“. Mein jüngerer Bruder wurde mit Down-Syndrom geboren. Behinderung und wie es ist mit jemandem aufzuwachsen, der andere Erfahrungen macht, beschäftigt mich deshalb schon mein ganzes Leben. Trotzdem habe ich oft das Gefühl, das nicht wirklich in Worte fassen zu können. Deshalb möchte ich gemeinsam mit der „andererseits“-Community herausfinden, was das Geschwister Sein von jemandem mit Behinderung bedeuten kann und warum wir so selten darüber sprechen.
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Mein Bruder Matthias und ich
Wenn wir einschlafen, liegen unsere Hände ineinander. Mein Bruder schläft auf einer Matratze neben mir, meine Schwester im Hochbett über uns. „Gute Nacht“, sagt sie jeden Abend. „Gute Nacht“, sage ich. „Mhm“, murmelt mein Bruder und dann, wenn wir nur noch halb wach sind, verhaken wir unsere Finger.
Heute, fast 15 Jahre später, glaube ich manchmal, seine Hände noch immer in meinen zu spüren, abends im Bett. Mein Bruder, Matthias, war meine Selbstverständlichkeit. Er wurde genau zwei Jahre nach mir geboren. Er war also da, seit ich denken kann. Und für mich war klar, dass ich für immer so leben möchte, am liebsten so nah, dass ich nicht aufhören müsste, seine Hand zu halten.
Jetzt ist das anders. Ich bin 25 Jahre alt, jeder Schritt in mein Leben als Erwachsene ist ein Schritt weg von Matthias. Matthias wurde mit Trisomie 21 geboren, früher nannte man das Down-Syndrom. Unsere Welt ist nicht gemacht für ihn. Mir wird das mit jedem Jahr deutlicher, das ich älter werde.
Während ich die Schule, mein Studium abschließe und immer weiter in der Mitte der Gesellschaft lande, wird mein Bruder mehr und mehr nach außen gedrängt. Für mich gibt es in unserer Welt immer mehr, für ihn viel weniger Optionen: Menschen mit Lernschwierigkeiten (früher intellektuelle Behinderung) wie mein Bruder besuchen meist von Anfang ihres Lebens an Sondereinrichtungen: Eine Schule, in die nur Menschen mit Behinderungen gehen.
Sie wohnen oft immer noch in Heimen oder Wohneinrichtungen, die ihnen nur wenig Freiheit einräumen. Sie arbeiten in sogenannten Werkstätten, in denen sie keine reguläre Bezahlung bekommen, sondern von Sozialleistungen abhängig sind. Das alles geschieht, obwohl seit über zehn Jahren eine UN-Behindertenrechtskonvention gilt, die ihnen Teilhabe verspricht: Eigentlich sollte Matthias also längst dieselben Möglichkeiten haben wie ich.
Zehn Millionen Menschen mit Behinderung
Dass das nicht so ist, kommt auch daher, dass Menschen mit Behinderungen oft als kleine Randgruppe wahrgenommen werden. Das sind sie aber nicht. Allein in Österreich gibt es 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen, in Deutschland gibt es 10,4 Millionen. Behinderung ist ein weiter Begriff, der viele unterschiedliche Erfahrungen umfasst. Natürlich ähneln nicht alle den Erfahrungen meiner Familie. Aber dazu, wie viele Menschen mit Behinderungen Geschwister haben, gibt es keine Zahlen.
Fest steht: Es geht um mehrere Millionen Menschen in Deutschland und Österreich. Trotzdem spricht kaum jemand darüber wie es ist, neben jemandem mit Behinderung aufzuwachsen. Warum ist das so und was bedeutet das Geschwister sein?
Vor rund zwei Wochen habe ich eine Umfrage gestartet und die „andererseits“-Community, gebeten, mir zu erzählen, wie es euch geht, mit dem Geschwister sein. Innerhalb von wenigen Stunden machen über 50 Leute mit. 50 Geschichten, 50 Menschen, denen es so geht wie mir. Alle eure unterschiedlichen und doch ähnlichen Geschichten zu lesen, hat mich sehr bewegt.
Rückmeldung von der „andererseits“-Community
Ich habe sie nach und nach gelesen, nach drei oder vier davon musste ich meistens eine Pause machen und tief durchatmen, oft habe ich geweint. Da erkenne ich so viel von mir wieder. Da sind Menschen, die etwas, das ich nie wirklich sagen konnte, sagen. Etwas reißt auf in mir. Ich denke mir: Ich bin gar nicht alleine.
Unsere Welt ist nicht gemacht für Menschen wie meinen Bruder Matthias. Ich habe aber keine Lust mehr, deshalb traurig oder ängstlich zu sein.
Jetzt wo ich eure Geschichten kenne, finde ich: Es wird Zeit, die Welt ein bisschen durcheinander zu werfen. Für die, die noch nicht verstehen, was mir so weh tut, möchte ich den Abstand zeigen, zwischen dem, wie die Welt ist und wie sie sein sollte.
Und für mich, für euch, die wir in diesem Abstand leben, möchte ich sie so lange durcheinander werfen, bis sie zu dem, was wir sehen und hören und fühlen zu passen beginnt. Lasst uns die Welt ein bisschen durcheinanderwirbeln! Diese Serie, die wir in fünf Folgen geplant haben, soll ein erster Anstoß dazu sein.
Der Grund, warum ich meine Umfrage begonnen habe, war der Wunsch nach jemandem, der weiß, was für ein Geschenk es ist, Geschwister zu haben – egal ob mit Behinderung oder ohne. Ein bisschen ist dieser Wunsch schon in Erfüllung gegangen. Ich lese die ersten Ergebnisse unserer Umfrage am Abend des Tages, an dem wir sie gestartet haben. Viele von euch erzählen, dass es schön ist oder war mit einem Geschwisterkind mit Behinderung aufzuwachsen:
„Er war sehr charismatisch und richtig sonnig. Er hat die unterschiedlichsten Menschen in Sekunden für sich gewonnen, obwohl er kaum sprechen konnte“, schreibt eine Schwester über ihren älteren Bruder.
„Weil er frei war von Hemmungen und gesellschaftlichen Regeln, wurde ihm ein Leben mit einer Art von Natürlichkeit ermöglicht, wovon man nur träumen kann. Obwohl er so viel Schmerz aushalten musste, war er voller Leben und hatte eine ungebremste Freude und Spaß an allem Möglichen.“
Eine andere Person beschreibt ihre Schwester so: „Ich bin sehr froh und dankbar für alles was ich von und durch meine behinderte Schwester lerne. Dadurch wurde ich schon viel früher für Behinderung(en) und den Umgang damit sensibilisiert.“
Ihr erzählt von schönen Momenten, vom gemeinsamen Urlaub, davon was ihr gelernt habt. Aber es geht auch um die Verantwortung und darum, wie schwierig es sein kann, wenn eine Person in der Familie mehr Unterstützung braucht:
„Es hat mich selbstständig werden lassen, weil meine Mutter sehr viel mit meinem Bruder unterwegs war in Kliniken und Physio usw. Ich bin auch sehr sensibel, wenn es um meinen Bruder geht, weil er eben diese Behinderung hat.“
Die Geschwister-Serie umfasst fünf Teile
In der zweiten Folge dieser Serie „Neben Dir – was bedeutet es Geschwister von jemandem mit Behinderung zu sein?“ geht es darum, wie anders sich eine Familie strukturieren kann, wenn jemand mit Behinderung Teil davon ist. Und wie das Aufwachsen mit jemandem mit Behinderung eine Familie verändert. Denn darum geht es auch in vielen eurer Antworten:
„Ich habe erst als Erwachsene langsam realisiert, was mir das Aufwachsen mit meinen Bruder abverlangt hat. Ich kannte es nicht anders, für mich war es ‚normal‘ so. Die Prägung, meine Bedürfnisse zurückzustecken und mich unterzuordnen, hält bis heute an“, schreibt zum Beispiel eine Schwester. Und es geht um dieses merkwürdige Gefühl, das ich so gut kenne: „Ich habe mich eher manchmal schuldig gefühlt, dass mir so viel mehr Türen offenstehen als ihr“, schreibt eine junge Frau über ihre Schwester.
Was in diesen Geschichten oft klar wird: Die Familien sind mit dem Thema Behinderung oft weitgehend alleine, viele staatliche Hilfen greifen nicht weit genug. Natürlich ist das eine massive Belastung, ich kenne das gut aus meiner eigenen Familie, dieses Gefühl, um Unterstützung kämpfen zu müssen, das war bei uns immer schon da.
Darum wird es in der dritten Folge gehen: Um eine Welt, die nicht gut genug ist, für Menschen wie meinen Bruder. Die Geschichten so vieler Menschen zu lesen, denen es geht wie mir hat mich nämlich wütend gemacht. Einerseits auf die großen Systeme, Arbeit, Bildung, die nicht für Menschen wie meinen Bruder gebaut werden und andererseits auf die vielen, kleinen Erfahrungen, die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen auch deshalb machten.
Zum Beispiel das Gefühl, das einem viele geben, anders und belastet zu sein. Das war auch ein wichtiges Thema in vielen eurer Antworten: von vielen war auch „Viele haben Mitleid mit meiner Schwester, meinen Eltern und mir. Diese Blicke sind manchmal nicht zu ertragen gewesen“, schreibt eine Schwester. „Es war auch sehr schmerzhaft für mich, wenn er Ablehnung erfahren hat“, eine andere über ihren Bruder.
Manche von euch haben ihre Geschwister schon verloren. Auch wenn ich das sicher nur schwer nachfühlen kann, ich weine nur beim Gedanken daran, ohne meinen Bruder leben zu müssen. Es tut mir sehr leid, dass ihr eure Geschwister verloren habt. Darum wird es in der vierten Folge gehen. Ich möchte ihnen und euch mit eurer Erlaubnis einen ganz besonderen Platz in dieser Serie geben.
In der fünften Folge möchte ich eine Art Anleitung für Geschwister und alle schreiben, die keine Lust haben sich damit abzufinden wie die Dinge nun mal sind. Diese Serie soll deine Einladung sein, es auch nicht mehr zu tun. Ich glaube, dass alle Menschen etwas zur Veränderung beitragen können. Darüber, wie das für unterschiedliche Menschen aussehen kann, werde ich in der letzten Folge mit Menschen mit Behinderungen sprechen. Lasst uns gemeinsam überlegen, wie sich unsere Gesellschaft verändern würde, wenn alle Menschen gleichberechtigt daran teilhaben könnten. Ich freue mich in der Zwischenzeit, wenn Du mir schreibst, wie Dir dieser Text gefallen hat: clara.porak@andererseits.org
Weitere Infos zu unserem Kooperationspartner:
Der Text stammt aus „andererseits“ – einem Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. Bei „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderungen Journalismus – gleichberechtigt, kritisch und fair bezahlt. Freitags verschickt die Redaktion einen Newsletter für alle, die Behinderung verstehen möchten.