Durch die Inflation im Libanon steigen die Mieten, viele Menschen sind von Rausschmiss und Zwangsräumung bedroht. Auch unsere Korrespondentin ist betroffen. Die Initiative „Housing Monitor“ versucht, Mieterinnen und Mietern zu helfen.
Von Julia Neumann, Beirut
Zwei Wochen ohne Wasser aus dem Hahn zu leben ist machbar, aber kompliziert. Das habe ich gelernt, als mein Vermieter die Leitung zudrehte, die vom Tank auf dem Dach in unsere Wohnung führt. Im Libanon liefert der Staat Wasser, das zunächst in den Tank fließt. Weil dieses Wasser aber generell nicht trinkbar ist, gibt es zusätzlich Trinkwasser in Plastikbehältern zu kaufen.
Die werden jetzt umgefüllt: Die Klospülung wird ersetzt durch einen Eimer Wasser, das mit Schwung in die Schüssel gekippt wird. Eine andere Gallone kommt in einen Spender, der das Wasser durch Strom erhitzt. Das ist eigentlich für Tee oder Kaffee gedacht – mit einer Schüssel unter dem Auslauf wird nun der Abwasch gemacht. Zum Duschen geht es zu einer Freundin.
Im Libanon können sich viele Menschen Essen, Medizin, Benzin und Strom kaum noch leisten. Jahrelange Korruption hat den Staat geplündert. Die Inflation gepaart mit der Pandemie und einer Explosion in der Hauptstadt Beirut haben auch eine Wohnungskrise ausgelöst: Mieter*innen können nicht mehr zahlen, für Vermieter*innen sind die Mieten aber oft die einzige Einnahmequelle.
Hyperinflation führt zu „Lollars“
Der Streit mit meinem Vermieter beginnt mit dem Fall der libanesischen Lira. Alles ist in Ordnung, als ein US-Dollar – umgerechnet 0,90 Euro – für knapp 1.500 Lira gehandelt wird. Eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Stadtmitte kostete über 900 US-Dollar, eine Drei-Zimmer-Wohnung in guter Lage rund 1.900 US-Dollar im Monat. Dann gaben die Banken ab Herbst 2019 keine Devisen mehr aus. Der Staat war pleite und brauchte die Reserven. Im Anschluss schnellte der Wechselkurs in die Höhe; als er bei 3.000 Lira pro US-Dollar steht, stellt mir mein Vermieter ein Ultimatum: Entweder meine Mitbewohnerin und ich zahlen in US-Dollar – oder wir müssen raus.
US-Dollar waren im Libanon ein gängiges Zahlungsmittel im Restaurant, um einen Fernseher oder die Miete in bar zu zahlen. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise im Oktober 2019 rannten die Menschen auf die Bank und wollten ihr Geld in der Hand halten. Mit der hohen Nachfrage fiel die Lira rasanter, Banken gaben für einen deponierten US-Dollar auf dem Konto 3.900 Lira aus, bald 7.000. Ein Ökonom nannte das im schlechten Kurs umgetauschte Geld „Lollar“ – ein lachhaft geringer Betrag. Ab März 2020 beschleunigte Corona den Fall. Hunderttausende verloren ihre Jobs oder wurden zum weiter offiziellen Kurs von 1.500 Lira bezahlt. Während Lebensmittel, Medizin und Benzin teurer wurden, lag der Mindestlohn bei umgerechnet 20 US-Dollar im Monat.
Wie viel darf Miete kosten?
Für importierte Waren war klar, in welchem Kurs sie bezahlt werden: Zum Schwarzmarktkurs. Tabakhändler oder Kioskbesitzer wurden zu Geldwechslern; sie kauften die wenigen US-Dollar, die im Umlauf sind, und verkauften sie an Supermärkte oder Apotheken, damit diese Waren importieren konnten. Lokale Produkte wurden teurer, weil irgendwo in der Produktionskette – zum Beispiel Samen für den Anbau von Tomaten – importiert wurden. Doch was ist mit Mieten?
Für unseren Vermieter war die Sache klar: Er hat Anspruch auf seine 500 US-Dollar im Monat. Doch meine Mitbewohnerin hat US-Dollar auf der Bank, die sie für einen schlechten Kurs hätte abheben müssen. Und ich fand 500 US-Dollar für die runtergekommene Wohnung am Stadtrand ohne Heizung und mit sechs Stunden Stromausfall pro Tag ohnehin happig. Ein befreundeter Anwalt setzte einen Brief auf, denn das libanesische Recht besagte, dass wir weiter im alten Umrechnungskurs in Lira zahlen dürften. Der Vermieter gab zunächst Ruhe.
Aufklärung für unwissende Mieter*innen
Das Problem: Viele Mieter*innen wissen aber nicht um ihre Rechte. Das „Housing Monitor“-Projekt bietet eine Telefon-Hotline, über die Menschen Verstöße im Wohnungswesen wie Mieterhöhungen melden können. Das Projekt gehört zu der privaten Organisation „Public Works Studio“, die sich um die Wohnbedürfnisse von Menschen im Libanon kümmert, vor allem von armen oder geflüchteten und ausländischen Hausangestellten, die die nur selten Zugang zu Anwälten haben. Der „Housing Monitor“ wird vom „Arab Council for Social Sciences“ (ACSS) und kleineren Spenden unter anderem von der Heinrich-Böll- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.
„Unsere Interventionen sind immer fallspezifisch“, erklärt Jana Haidar, Koordinatorin beim „Public Works Studio“. „Manchmal regelt es eine Anwältin mit einer Rechtsberatung für die Mieter*innen, damit sie danach selbst verhandeln können. Aber Migrant*innen, die oft keine Papiere haben oder Geflüchtete, die nicht registriert sind, möchten den Konflikt nicht eskalieren. Sie möchten keine Anwälte von uns, weil sie eine aggressive Antwort fürchten.“ Dann setzt der „Housing Monitor“ auf Einsicht der Vermieter und bietet zum Beispiel an, ihnen bei möglichen eigenen Wohnproblemen zu helfen.
„Viele Vermieter sind nämlich selbst Mieter“, weiß Haidar. Manchmal fragt die Organisation eine Person, die beide Parteien gut kennt, um zu vermitteln. Mehr als 600 Beschwerden hat das Projekt seit Januar 2020 registriert. Nach eigenen Angaben konnten 92 Zwangsräumungen verhindert und für hunderte Menschen sichere Wohnbedingungen verhandelt werden. Die meisten der Beschäftigten von „Housing Monitor“ sind übrigens Frauen, denn die Gründerinnen seien Frauen, „die anderen Frauen etwas zutrauen“, sagt Haidar.
„Im Libanon sind die meisten Besitzer*innen von Wohnraum Männer. Wenn wir alle einrechnen, auch die nicht-libanesischen Bürger*innen, ist es höchst disproportional.“ Von Räumungen sind deshalb mehr Frauen betroffen und mehr Frauen bitten bei der Organisation um Hilfe. Das Krux dabei ist: Wohnraum wird meist vererbt. „Unsere Erbschaftsregelungen basieren noch auf religiösen Gerichten“, erklärt Haidar. Frauen erben nur die Hälfte dessen, was der Mann erbt. „Männer haben besseren Zugang zu Ressourcen, die es ihnen erlauben, mehr Wohnraum zu besitzen.“
Explosion verschlimmert die Wohnsituation
Rückblick: Am 4. August 2020 detonierten hunderte Tonnen falsch gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Viele Gebäude wurden bei der Explosion beschädigt. 30.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Viele Vermieter*innen können sich die Renovierung nicht leisten – Glas oder Aluminium müssen in Dollar bezahlt werden. Zwar sind hier viele Nichtregierungsorganisationen eingesprungen, doch eine frisch renovierte Wohnung bot vielen Vermietern den Anreiz, die Miete in Dollar zu verlangen.
In direkter Nähe des Hafens lebten vor allem arme Menschen. Jana Haidar erklärt: „Wir wissen, dass eine Reihe von Syrer*innen bei Verwandten und in Lagern untergekommen sind. Wir wissen, dass es zumindest eine Familie gibt – der Fall ist aber exemplarisch – die ihr Haus verloren hat und nun ständig umziehen muss, weil sie durch die Explosion des Hafens auch ihre Arbeit verloren hat. Also mieten sie für kurze Zeit, bis der Vermieter sie rausschmeißt, weil sie nicht bezahlt haben.“ Die Menschen haben ständig Sorge vor der Zwangsräumung. Die Menschen zögen in Häuser, die seit der Explosion nicht renoviert wurden, weil sie billiger seien. Sie hätten keine Fenster, Türen oder Toiletten. Es handele sich also um eine billigere Variante, nur zu sehr schlechten Bedingungen.
Können Anwältin und Polizei helfen?
Als ich im Frühjahr 2021 in Deutschland bin, folgt ein Nachspiel. Der Vermieter stellt meiner Mitbewohnerin zunächst den Strom ab. Er ruft die Polizei und sagt, sie habe die Wohnung illegal beschlagnahmt. Meine Mitbewohnerin ruft bei „Housing Monitor“ an. Als ich zurück bin, stellt er auch das Wasser ab. Eine Anwältin, die pro bono für die Organisation arbeitet, geht mit uns zur Polizei und danach auf das Dach, auf dem der Tank steht. Nach zwanzig Minuten findet der Klempner den zugedrehten Hahn. Der Vermieter erklärt der Polizei, wir seien illegal in der Wohnung – er will uns raushaben.
„Es gibt eine Vereinigung für Vermieter. Die verkünden gerade, dass sie bei den niedrigen Preisen nichts vermieten“, sagt Haidar. Dabei stünden mindestens 20 Prozent des Wohnraums in Beirut leer. Es gebe aber keine Einheit oder Behörde, die sich um die Mieterinnen kümmere. Auch sozialen Wohnraum gebe es nicht. „Wenn Mieter sich entscheiden, vor Gericht zu ziehen, sind sie meist in einer besseren finanziellen Situation als die Leute, die bei uns anrufen“, so Haidar.
Einen Tag, nachdem Anwältin, Polizei, Vermieter, Anwalt des Vermieters und ich auf dem Dach um den Klempner herumstanden, haben wir wieder kein Wasser. Ich suche nach einer neuen Wohnung. Gleichzeitig setzt sich „Housing Monitor“ für ein Recht auf Wohnen ein. Das heißt, Zugang zu sicherem, nachhaltigen, adäquatem Wohnraum. Denn die meisten Mieter*innen würden die Häuser verlassen, so Haidar, obwohl sie im Recht seien. Der Grund sei der mentale Gesundheitszustand – sie fühlten sich nicht mehr sicher in ihrem Zuhause. Das libanesische Recht besagt, dass die Miete wie vereinbart in Lira gezahlt wird – auch, wenn sie durch die Inflation weniger wert ist.
Am Ende geben auch wir auf und ziehen aus. Noch immer schüttelt es mich, wenn ich in der Nähe der alten Wohnung bin. Über eine Maklerin habe ich einen netten Vermieter gefunden. Die Miete liegt in der Mitte zwischen dem offiziellen und dem aktuellen Schwarzmarktkurs. Meine Mitbewohnerin lebt wieder in einer Wohnung in derselben Nachbarschaft – sie kann es sich nicht leisten, in ein anderes Viertel zu ziehen. Im Dezember 2021 bekommt der „Housing Monitor“ den „World Habitat Award“ der Vereinten Nationen, dotiert mit 10.000 britischen Pfund. Es ist der wichtigste Preis für die Lösung von Wohnproblemen. Er bringt nicht nur Geld und Anerkennung, sondern vor allem mehr Bekanntheit.
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