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Wenn es nur noch ums Überleben geht
Ostukrainerinnen erzählen von ihrer Flucht

20. April 2016 | Von Pauline Tillmann
Als Lydia Ponomarenko eine Handgranate vor dem Kellerfenster fand, wusste sie, dass nur mehr die Flucht bleibt. Fotos: Pauline Tillmann

Vor genau zwei Jahren begannen die Besetzungen von öffentlichen Einrichtungen in der Ostukraine nach der Revolution in Kiew und der Annexion der Krim durch Russland. Es folgte die “Anti-Terror-Operation” Kiews, die Gefechte der ukrainischen Armee mit den Separatisten weiteten sich schnell aus. Mittendrin befanden sich viele Zivilisten. Die meisten von ihnen sind aus den Gebieten rund um Donezk und Luhansk geflohen und haben – unter anderem – in Odessa ein neues Zuhause gefunden. 

Von Pauline Tillmann, Odessa

Natalia Iwanenko, 36 Jahre, ist mit ihrer sechsjährigen Tochter und ihrem Mann geflüchtet: 

„Wir haben Luhansk am 2. Juni 2014 verlassen. An diesem Tag wurde unser Stadtteil vom Militär eingenommen – unser Haus geriet unter Beschuss. Deshalb haben wir schnell Shorts, Pantoffeln, Badesachen und einige Dokumente zusammengepackt und sind los. Wir hatten zwei Taschen dabei, weil wir dachten, dass wir bald wiederkehren. Mein Vater, 60 Jahre alt, blieb zurück. Er sagte: Ich kann nicht einfach so weggehen. Wenn ich mit ihm telefoniere, frage ich ihn, wie es ihm geht, was es in den Supermärkten zu kaufen gibt. Die Preise für Lebensmittel in Luhansk sind seitdem stark angestiegen. Es gibt nur noch Waren aus Russland und Belarus. Die Auswahl ist beschränkt. Milch und Eier sind zur Mangelware geworden.

Wir haben uns für Odessa entschieden, weil wir hier Verwandte haben. Ursprünglich wollten wir nur einen schönen Sommer hier verbringen. Baden, auf andere Gedanken kommen und dann wieder nach Luhansk zurückkehren. Am Anfang war es schwierig, eine Wohnung zu finden. Die Vermieter hatten Angst, dass wir die Miete nicht bezahlen können oder dass Leute mit Maschinengewehren an ihre Tür klopfen. Zum Glück habe ich schnell eine Anstellung in einer Immobilienagentur gefunden. Dort verkaufe ich Wohnungen. Schwieriger war es mit dem Kindergartenplatz. Den habe ich nur dank einiger Kontakte bekommen.

Nach Luhansk zurückzukehren, kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Es ist gefährlich, sich auf der Straße zu bewegen. Man kann nur in der Wohnung hocken und zur Arbeit gehen. Aber meine sechsjährige Tochter will sich bewegen, will draußen spielen. Wenn wir einen Ausflug aufs Land machen würden, könnten wir aufgrund der vielen Minen unsere Hände oder unsere Füße verlieren. Außerdem laufen immer noch viele Männer mit Maschinengewehren herum, die von einem Moment auf den anderen ausrasten können. Die Infrastruktur ist kaputt, Freizeitangebote gibt es so gut wie keine.

Das ist kein Leben, sondern ein Überleben, ein Existieren. Wir aber wollen leben. Ich kann dafür erschossen werden, dass meine Tochter die ukrainische Sprache lernt. Wir sind in den Augen der Separatisten Vaterlandsverräter, die hätten bleiben müssen und Hunger leiden. Dann wären wir in deren Augen „anständige Bürger“. So aber haben wir uns auf die falsche Seite geschlagen – und müssen dafür bestraft werden. Meinem Vater schicken wir immer wieder Lebensmittelpakete. Er hat früher auf dem Markt gearbeitet, doch jetzt ist er arbeitslos und kann keine neue Anstellung finden.

In Odessa verdiene ich etwa 170 Euro im Monat, mein 19-jähriger Sohn bringt auch etwas Geld nach Hause. Durch den Krieg habe ich gemerkt, dass wir eigentlich gar nicht viel zum Leben brauchen – nur Frieden. Die Werte verschieben sich. Früher hat man sich teure Handys gekauft. Heute geht es nur darum, dass man satt ist, ein Dach über dem Kopf hat und dass man nicht ständig um sein Leben fürchten muss. In Odessa gibt es viele Möglichkeiten, man kann hier arbeiten und gleichzeitig entspannen. Das ist eine Stadt, in der immer etwas los ist, in der gefeiert wird, in der es viele Parks gibt. Ich denke, wir werden in Odessa bleiben – auch dann, wenn der Krieg in der Ostukraine irgendwann vorbei sein wird.“

Natalia Iwanenko (l.) und Tatjana Zimdamok dachten, sie würden nur für kurze Zeit fliehen. Mittlerweile leben sie eineinhalb Jahre in Odessa.

Tatjana Zimdamok, 37 Jahre, ist mit ihrer zwölfjährigen Tochter und ihrer Mutter geflüchtet: 

„Am 10. Juli 2014 haben wir Luhansk den Rücken gekehrt. Der Grund: Es tobte Krieg und die Separatisten waren an der Macht. Wir haben die Nächte im Keller verbracht, weil unsere Wohnung in der Nähe des Flughafens lag. Jeden Tag gab es neue Beschüsse und Bombardements. Tagsüber liefen die Männer in ihren Uniformen und Maschinengewehren durch die Straßen. Für uns war das irgendwann ein ganz normaler Anblick.

Ich habe früher in der Stadtverwaltung gearbeitet, doch die wurde bereits im Mai 2014 evakuiert. Wir haben lange gewartet – eigentlich bis zum letzten Moment. Erst als die Granaten in den Straßen explodiert sind, haben wir unsere Sachen gepackt. Denn da haben wir begriffen, dass auch wir in Stücke gerissen werden können. Ich kann mich erinnern, dass es schwierig war, Zugtickets zu bekommen. Es wurden zwar zusätzliche Züge eingesetzt, aber der Bahnhof war völlig überfüllt. Ich habe für ein Zugticket stundenlang in einer Menschenschlange angestanden. Die Stimmung war aufgeheizt, mitunter panisch.

Wir haben uns für Odessa entschieden, weil hier das Schwarze Meer vor der Tür ist. Ein paar Wochen auf andere Gedanken kommen und dann geht’s wieder zurück, so unser Plan. Ich bin gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Tochter geflohen. Insgesamt hatten wir drei Koffer, voll mit Sommerkleidern, ein paar Flipflops und Turnschuhen. Mein Mann kam später nach, doch er erlitt wenig später einen Hirnschlag. Seine Nieren funktionierten nicht mehr richtig, aber in Luhansk gab es kein Dialysegerät. Und in Odessa war es dann zu spät.

In der Kleiderkammer haben wir Kleidung für Herbst und Winter bekommen sowie Kissen, Decken, Bettwäsche und Hygieneartikel. Am Anfang haben wir uns ziemlich verloren gefühlt. Schließlich war alles fremd. Zum Glück habe ich schnell eine Anstellung als Kindermädchen gefunden und konnte mein eigenes Geld verdienen. Was mich überrascht: Die Odessiten bringen immer noch Spenden – egal ob Geschirr, Handtücher, Bettwäsche hierher. Und das obwohl der Krieg nun schon zwei Jahre andauert! Früher hätte ich so einen Grad an Solidarität nicht für möglich gehalten.

Ich hatte am Anfang vor allem damit zu kämpfen, die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Alles wirkte surreal. Man kannte niemanden, man fühlte sich verloren und allein. Doch dann haben wir den Entschluss gefasst, weiterzuleben. Und nach zwei Jahren haben wir uns daran gewöhnt. Nun ist Odessa unser Zuhause. Gleichzeitig haben wir immer noch eine Wohnung in Luhansk, die unbeschadet geblieben ist. Meine Schwiegereltern schauen dort nach dem Rechten und bezahlen die Nebenkosten. Vielleicht können wir die Wohnung ja eines Tages verkaufen.

Im Moment arbeite ich in einem gemeinnützigen Fonds, der sich um die Marineoffiziere kümmert. Wenn es die Zeit zulässt, engagiere ich mich als Freiwillige in der Kleiderkammer. Wie meine Perspektive aussieht? Eigentlich bin ich Optimistin, ich hoffe sehr, dass sich alles zum Guten wendet. Am meisten wünsche ich mir, dass der Donbass wieder Teil der Ukraine wird. Gleichzeitig sehe ich, dass viele Familien zerbrochen sind, weil die Meinungen so unterschiedlich sind. Auch ich habe Freunde verloren. Doch das ist wohl der geringste Preis. Ich bin froh, dass wir nicht mit unserem Leben bezahlen mussten.“

Lydia Ponomarenko, 73 Jahre, ist allein geflüchtet: 

„Ich komme ursprünglich aus Donezk. Meine Wohnung habe ich im Oktober 2014 verlassen, nachdem mein Balkon beschossen wurde. Überall nur noch Scherben. Wir haben viel Zeit im Keller verbracht und hatten Angst zu schlafen. Der Moment, in dem ich begriffen habe, dass ich weg muss, war, als auf dem Parkplatz neben dem Keller eine Granate lag. Sie ist nicht explodiert, sonst wäre ich wohl nicht hier (weint).

Am Anfang haben wir das alles nicht so ernst genommen. Wir glaubten, die Bewaffneten verhielten sich wie Kinder. Sie würden ein bisschen kämpfen und sich dann wieder beruhigen. Doch sie beruhigten sich nicht. Der Konflikt schaukelte sich immer weiter hoch. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war: Wie kann ich mich retten? Also bin ich mit dem Zug nach Odessa gefahren. Hier war es ruhig, Bekannte empfingen mich, in der Kleiderkammer bekam ich das Nötigste.

Ich wohne hier mit einer anderen Frau zusammen. Alleine könnte ich mir die Miete von meiner kleinen Rente einfach nicht leisten. Als ich in Odessa angekommen bin, habe ich zunächst im Hostel gearbeitet. Dort habe ich geputzt und gekocht. Doch das Hostel musste irgendwann dichtmachen. Meine Rente beträgt gerade mal 40 Euro im Monat. Lebensmittel und etwas zum Anziehen bekomme ich von der Kleiderkammer. So etwas wie Sozialhilfe gibt es in der Ukraine nicht. Ohne die Unterstützung der Freiwilligen könnte ich nicht überleben.

Nicht mal alle jungen Leute finden Arbeit – was soll ich da sagen? Und in Odessa gibt es wenige Fabriken. Ich würde mir gerne etwas dazuverdienen, aber ich finde nichts. Mein Sohn lebt in Mariupol. Er hat zwei Kinder und ein kleines Einkommen. Deshalb kann er mich finanziell leider nicht unterstützen. Natürlich will ich nach Hause, nach Donezk. Das Eigene ist nun mal das Eigene. Hier in Odessa fühle ich mich noch immer fremd, manchmal schäme ich mich auch aufgrund meiner Armut. Auf der anderen Seite sind in Donezk die Preise stark gestiegen. Ich könnte mir dort wohl auch keine Lebensmittel mehr leisten.“

Dina Kazatsker von der Kleiderkammer in Odessa im Gespräch darüber, was die Binnenflüchtlinge am meisten benötigen:

 

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Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von DEINE KORRESPONDENTIN. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. Pauline ist regelmäßig als Coachin, Beraterin und Speakerin im Einsatz. 2022 erschien ihr Buch „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“, außerdem hat sie das Buch „Frauen, die die Welt verändern“ herausgegeben. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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