Noch immer gibt es kaum Dirigentinnen. Vor allem an der Spitze berühmter Ensembles sind sie rar. In Frankreich leitet keine einzige Chefdirigentin ein großes Orchester. Auch Claire Gibault hat es, trotz internationaler Bekanntheit, nicht auf einen solchen Posten in ihrer Heimat geschafft – umso stärker ist ihre Leidenschaft und der Kampf für mehr Gleichberechtigung.
Von Carolin Küter, Paris
Claire Gibault war 13 Jahre alt, als ihr klar wurde, was sie im Leben machen wollte: Ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihre Überzeugungen mit anderen teilen und zusammen etwas Bewegendes schaffen. Ihr Medium dazu ist die Musik. Ihr Platz hinter dem Podium. Ein Ort, zu dem sie als Jugendliche in der Orchesterklasse des Konservatoriums im nordwestfranzösischen Le Mans problemlos Zugang bekam.
Immer dann, wenn der Direktor des Instituts wegen organisatorischer Aufgaben nicht dirigieren konnte, durfte seine ehrgeizige Schülerin seinen Platz einnehmen. Gibault fühlte sich sofort in ihrem Element. „Das war von Anfang an belebend, es war erhebend“, schwärmt sie. Den Platz streitig machte ihr damals niemand, so die 72-jährige Französin, die heute eine der wenigen international bekannten Dirigentinnen ist. „Wirklich schwer haben es Frauen erst, wenn sie auf Posten mit viel Ruhm und Geld aus sind.“
Das gilt in der klassischen Musik wie in kaum einer anderen Branche. In Frankreich sind laut dem Autoren- und Komponistenverband SACD nur vier Prozent der Dirigenten weiblich. Neben Gibault gibt es weitere bekannte Dirigentinnen: Nathalie Stutzmann, Laurence Equilbey, Emmanuelle Haïm. Sie alle stehen an der Spitze eines Orchesters, das sie selbst gegründet haben, waren in ihrer Heimat jedoch nie Leiterinnen eines großen staatlichen Ensembles. Das ist nicht unbedingt ungewöhnlich, denn Generalmusikdirektoren – so der Titel des permanenten Chefdirigenten eines Orchesters – stammen oft aus dem Ausland.
Aber in Frankreich leitet an staatlichen Theatern, Opern oder Musikhäusern auch keine einzige internationale Dirigentin ein Orchester. Anders im deutschsprachigen Raum, hier gibt es ein paar Ausnahmeerscheinungen: Zum Beispiel die Australierin Simone Young, die zehn Jahre lang Intendantin und Generalmusikdirektorin an der Staatsoper Hamburg war. Oder aktuell die Britin Julia Jones, Generalmusikdirektorin der Stadt Wuppertal. Auch in Österreich leiten Frauen große Orchester. Europaweit sind laut Gibault sechs Prozent der Dirigenten weiblich. „Es gibt also wirklich noch viel zu tun“, sagt sie.
Gibault hat bereits einiges getan: Sie gründete mit dem „Paris Mozart Orchestra“ ihr eigenes Orchester, das sie ihren Angaben zufolge paritätisch besetzt. Außerdem gibt sie Meisterklassen, mit denen sie besonders Frauen fördern will. Dabei wirkt sie im Gespräch nicht wie eine Kämpferin – eher wie eine Künstlerin, die gelernt hat, sich durchzusetzen, weil sie an ihr Talent glaubt und ihre Leidenschaft ausleben will.
Ihre Statur ist groß und schlank, ihre Gesten grazil und ausschweifend. Ihre Stimme klingt sanft und träumerisch, wenn sie über Musik spricht. Sie zögert oft, bevor sie auf eine Frage antwortet. In ihrer 2010 erschienenen Autobiografie „La Musique à mains nues“, zu Deutsch „Musik mit bloßen Händen“, beschreibt sie sich als schüchternes Kind, das sich „in der Stille einschloss“. Statt Worten habe sie die Musik als Sprache gewählt, mit der sie früh Erfolgserlebnisse gehabt habe. Ihr Vater, Lehrer für Musikerziehung, habe ihr das Gefühl gegeben, seine beste Schülerin zu sein, schreibt sie. „Auf dieses Vertrauen habe ich mein ganzes Leben aufgebaut.“
Gute Voraussetzungen für eine Karriere, die mit mehr Aufmerksamkeit begann, als Gibault lieb war. 1969 beendete die damals 25-Jährige ihr Studium am Konservatorium in Paris mit der Auszeichnung als Klassenbeste. Für die Zeitung „France Soir“ eine Sensation, in etwa gleichbedeutend mit der Mondlandung. Das Blatt setzte die junge Dirigentin neben Neil Armstrong auf ihre Titelseite. „Ein Mann hat den Mond betreten“, stand über dem Foto des Astronauten. „Eine Frau hat ein Orchester dirigiert“, neben einem Bild von Gibault.
„Ich fand das lächerlich,“ so die Dirigentin, „was soll das heißen? Ein großer Schritt für eine Frau, ein kleiner Schritt für die Menschheit?“ Damals sei ihr bewusst geworden, dass sie nicht einfach nur ihren Beruf ausüben könne, sondern besonders beurteilt werde. So habe sie den Eindruck gehabt, dass einige Journalistinnen ihre offenen Rechnungen durch sie hätten begleichen wollen und ihr aggressive Äußerungen gegenüber Männern in den Mund legten. Viele Fotos hätten sie in möglichst herrischen, maskulinen Posen gezeigt.
Gibault hebt ihre Stimme, wenn sie davon erzählt und erklärt dann wieder in einem sanften, melodischen Auf und Ab, dass sie mit ihrer Arbeit mit dem Orchester eigentlich das genaue Gegenteil erreichen wollte: „Ich wollte überzeugen, Gemeinsamkeit schaffen, teilen.“ Hoffnungsträgerin zu sein sei eine Belastung für sie gewesen. „Man fragt sich, werde ich es schaffen? Werden sie mich lassen?“
Ihre erste feste Stelle tritt Gibault in den 70er Jahren als Assistentin des Dirigenten Theodor Guschlbauer an der Oper im französischen Lyon an. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie den Österreicher als Studienabgängerin bei einem Treffen einfach gefragt habe, ob sie seine Assistentin sein könne. Später wechselte sie für einige Jahre in die nahe gelegene Alpenstadt Chambery, um dort das Kammerorchester zu leiten. In den 80ern kehrte sie nach Lyon zurück, dieses Mal als Assistentin des englischen Dirigenten John Eliot Gardiner. Zwischendurch dirigierte sie als Assistentin von Claudio Abbado in Mailand und folgte dem italienischen Maestro auch nach Wien.
Auch die erste Begegnung mit dem mittlerweile verstorbenen ehemaligen Generalmusikdirektor der Mailänder „Scala“ und der Berliner Philharmoniker, die Gibault in ihrem Buch als „eine der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben“ beschreibt, geschah nicht zufällig. Sie bat einen italienischen Dirigenten, der an der Oper in Lyon ein Gastspiel hatte, sie mit Abbado bekannt zu machen. Vor dem Treffen schickte sie Abbado eine Aufnahme, auf der zu hören war, wie sie „Pelléas et Mélisande“ von Claude Debussy dirigierte – eine Oper, die dieser bald in Mailand aufführen wollte. Die Konsequenz: Er machte die 38-Jährige zu seiner Assistentin.
Wiener Oper wehrte sich gegen eine Frau als Dirigentin
Claire Gibaults Leidenschaft und Zielstrebigkeit haben sie weit gebracht: Sie war in den 90ern die erste Frau, die das Orchester an der „Scala“ dirigierte. Von 2000 bis 2002 leitete sie das Orchester der Kulturstiftung „Fondazione Musica“ in Rom. Sie dirigierte am „Royal Opera House“ in London, an der Philharmonie in Kopenhagen und trat zusammen mit Startenor Placido Domingo 2002 an der Washingtoner Oper auf. In ihrer Karriere hat es immer wieder Männer gegeben, die sie förderten, auch gegen Widerstände: so zum Beispiel der Franzose Jean-Pierre Brossmann, 2005 Direktor am Pariser Theater „Châtelet“.
Die Musikerin schreibt in ihrem Buch, dass der Manager des Orchesters, das dort auftreten sollte, vorgeschlagen habe, statt ihr einen jungen Kollegen dirigieren zu lassen. Brossmann weigerte sich, am Ende wurde das Orchester ausgetauscht und Gibault konnte auftreten. Die Dirigentin schwärmt zudem von ihrem Mentor und Freund Abbado, der ihr viel ermöglicht habe. Doch gegen einige Ressentiments setzte auch er sich nicht durch: Anfang der 90er war Abbado Generalmusikdirektor in Wien und wollte seine Assistentin Gibault das Orchester der Staatsoper dirigieren lassen. Doch die ausschließlich männlichen Musiker weigerten sich, sich auch nur bei einer Probe von einer Frau leiten zu lassen.
Ob sie solch eine Behandlung nicht wütend mache? „Das ist Teil des Kampfes, den ich in meinem Leben führe“, sagt Gibault. Gewöhnen musste sie sich an große und kleine Diskriminierungen früh: Im Studium am Pariser Konservatorium hielten es ihre männlichen Kommilitonen für unangebracht, dass sie Wagner dirigierte, erinnert sie sich. „Dass eine Frau ein paar wohltemperierte Klassiker dirigierte, das war ja vielleicht noch in Ordnung, aber nicht, dass sie ihre Sinnlichkeit über romantische Musik ausdrückt.“
Heute würde man sich im Allgemeinen nicht mehr trauen, solch offensichtlich sexistischen Kommentare zu machen. Doch trotzdem gäbe es immer wieder kleine Spitzen. Kürzlich habe sie ein Direktor einer Pariser Kulturinstitution gefragt, ob sie nicht bald in Rente gehen wolle, erzählt die 72-Jährige. Über einen 80-jährigen Mann, der ein Orchester dirigiere, wundere sich hingegen niemand. „Da habe ich einfach nur gedacht, armer Idiot. So etwas bestärkt mich darin, dass man sich nichts gefallen lassen darf.“
Gibault: Frauen sollten eigene Orchester gründen
Anfang der 2000er Jahre hatte sie dann doch zumindest für kurze Zeit genug: Sie wollte aus Italien wieder nach Frankreich zurückkehren und bewarb sich unter anderem bei staatlichen Ensembles wie dem Orchester der Bretagne oder dem Symphonieorchester in Toulouse – erfolglos. „Ich bin nicht mal in die engere Wahl gekommen“, erbost sich Gibault noch heute. „Man hat mir nur über die Sekretärin mitgeteilt, dass ich nicht berücksichtigt wurde.“ Stattdessen seien junge Männer genommen worden, die nicht einmal annähernd so viel Erfahrung gehabt hätten wie sie. „Da bin ich eingeknickt, ich hatte diese gläserne Decke satt.“
Gibault beschloss, nicht weiter zu versuchen, Generalmusikdirektorin zu werden. 2004 nahm sie stattdessen den Vorschlag der Mitte-Rechts-Partei UDF an, über deren Liste ins Europaparlament einzuziehen: „Ich habe mir gesagt, ich werde für die anderen kämpfen.“ Als Mitglied des Kultur- und des Gleichstellungsausschusses arbeitete sie federführend an einem Bericht über die Diskriminierung von Frauen in der darstellenden Kunst. Das Ergebnis: Frauen sind im Kulturbetrieb in Leitungspositionen unterrepräsentiert. Gibault zog daraus persönlich die Erkenntnis: „Wenn Frauen in Europa die Leitung von Kulturinstitutionen haben wollen, müssen sie sie selbst gründen.“
Mit dieser Einsicht kehrte die 63-Jährige nach fünf Jahren wieder vollständig zum Dirigieren zurück. 2010 gründete sie das „Paris Mozart Orchestra“. Das Ensemble aus etwa 40 Musikerinnen und Musikern tritt nicht nur in etablierten Konzertsälen, sondern auch in Gefängnissen und Schulen in Pariser Vorstädten auf. Frust darüber, es nie auf einen ruhmreichen Posten als Generalmusikdirektorin geschafft zu haben, bemerkt man bei ihr nicht mehr, wenn sie von der Arbeit mit ihrem Orchester erzählt. „Nur weil man in einem großen Saal auftritt, ist man noch kein großer Künstler,“ erklärt Gibault, „es ist auch eine Art von Stolz, darauf nicht angewiesen zu sein.“
Hoffnung auf Wandel
Ihr Ensemble sieht sie als „revolutionäre Brutstätte“, das zusammen mit anderen, als Vorbild für etablierte Orchester dienen könnte. Tatsächlich wollen die Ministerien für Kultur und Gleichstellung in Frankreich mit konkreten Maßnahmen gegen die Benachteiligung von Frauen im Kulturbetrieb vorgehen. So soll die Anzahl der Institutsleiterinnen je nach Bereich jährlich um fünf bis zehn Prozent steigen, bei Nichteinhaltung drohen finanzielle Konsequenzen. Claire Gibault ist guter Hoffnung, dass sich mit der aktuellen Regierung tatsächlich etwas ändern könnte, denn Kulturministerin Francoise Nyssen habe sie persönlich gebeten, sie zu beraten.
„Ich habe ihr gesagt, dass wir einen wirklichen Wandel brauchen. Die Vergabe von Subventionen muss sich an einem gerechteren Gesellschaftsbild orientieren.“ Jungen Dirigentinnen sollten trotzdem nicht auf den institutionellen Wandel warten. Gibaults Rat: „Gründe dein eigenes Ensemble. Wenn du kein Geld dafür hast, mach es zusammen mit Freunden. Aber warte nicht darauf, dass man auf dich zukommt.“