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Wenn aus Recht plötzlich Verbrechen wird
US-Bundesstaaten verbieten Abtreibung

9. Oktober 2022 | Von Marinela Potor
Ein Schwangerschaftsabbruch gilt für viele Menschen in den USA als medizinisches Grundrecht. Foto: Samuel Crankshaw, ACLU of Kentucky)

Nach einer einschneidenden Entscheidung des Höchsten Gerichts, des sogenannten „Supreme Courts“, ist in vielen Bundesstaaten der USA aus dem Recht auf Abtreibung ein Verbrechen geworden. Dies wird verheerende Gesundheitsfolgen für viele Schwangere haben – und doch gibt es auch Hoffnung.

Von Marinela Potor, Cincinnati

Als der „Supreme Court“ am 24. Juni 2022 das Gerichtsurteil „Roe v. Wade“ aus dem Jahr 1973 zurücknahm, hob dies mit einem Schlag das landesweite Grundrecht auf Abtreibung auf. Mit seiner Entscheidung katapultierte der Oberste Gerichtshof der USA das Land zurück in die 1970er Jahre. So waren vor 1973 Schwangerschaftsabbrüche in 33 von 50 Bundesstaaten verboten und in 13 Staaten nur unter besonderen Umständen erlaubt.

Abtreibungen gab es dennoch überall: illegal durch mutige Ärtz*innen oder durch riskante Selbsteingriffe. Das Roe-Urteil erklärte den Abbruch zum Grundrecht, womit viele Schwangere erstmals sicher abtreiben konnten. Jetzt, knapp 50 Jahre später, scheint sich die Uhr zurückzudrehen. Denn seit der Entscheidung im Juni ist Abtreibung nicht mehr landesweit geschützt und 14 Staaten haben bereits Verbote eingeführt.   


 

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Urteil ist Ergebnis jahrzehntelanger Planung

Während Außenstehende von dem Urteil schockiert waren, hatten Expert*innen dies erwartet. „Diese Entscheidung kam nicht überraschend. Sie war seit Jahrzehnten in Arbeit“, sagt etwa Jackie McGranahan von der Menschenrechtsorganisation „American Civil Union“, kurz ACLU, in Kentucky. Kentucky ist einer der Bundesstaaten, in dem seit dem 24. Juni einige der striktesten Regelungen im Land gelten.

Dort sind derzeit Abtreibungen ab der ersten Schwangerschaftswoche illegal und nur in Ausnahmefällen erlaubt, etwa wenn das Leben der gebärenden Person gefährdet ist oder gravierende Gesundheitsfolgen zu erwarten sind, wie es etwas schwammig im aktuellen Erlass heißt. Die ACLU Kentucky geht derzeit gerichtlich gegen diese Bestimmungen vor.

„Diese Regulierungen sind nicht aus dem Nichts heraus entstanden“, erklärt McGranahan. Als 2017 und 2018 mit der Ernennung von Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh als Richter zum „Supreme Court“ absehbar war, dass der Oberste Gerichtshof genug konservative Stimmen haben würde, um das Roe-Urteil zu kippen, bereiteten sich einige republikanisch geführte Bundesstaaten wie Mississippi, Texas, Wyoming  oder auch Kentucky mit „Trigger-Gesetzen“ darauf vor.

ACLU-Aktivistin Jackie McGranahan bei einer Rede zu Reproduktionsrechten in Kentucky. | Foto: Samuel Crankshaw, ACLU of Kentucky

Die Idee dahinter: Sollten die Richter*innen des „Surpeme Courts“ die Entscheidung ihrer Vorgänger*innen aus dem Jahr 1973 aufheben, würde Abtreibung damit wieder in die alleinige Rechtsprechung der Bundesstaaten fallen – und diese Gesetze automatisch in Kraft treten. Genau das ist im Juni dieses Jahres passiert, was zur Folge hatte, dass viele schwangere Menschen – je nach Staat – nur wenige Tage oder Wochen nach dem Urteil eine Schwangerschaft nicht mehr beenden durften.

Andere Staaten wie Indiana erließen kurz nach dem Urteil neue Abtreibungsverbote. Diese verbieten Eingriffe nicht nur, sie sehen teilweise auch lebenslange Haftstrafen dafür vor. In vielen Staaten gibt es selbst in Fällen von minderjährigen Schwangeren, Vergewaltigung oder Inzest keine Ausnahmen. Kentucky hat eine Reihe solcher Regulierungen bereits seit 2019 in der Schublade. Bis zum 24. Juni 2022 waren sie allerdings auf Grund des Roe-Urteils größtenteils wirkungslos.

Jane Roe vs. Henry Wade

Roe steht für „Jane Roe“, das Pseudonym einer Frau aus Texas, die gegen den damaligen Bezirksstaatsanwalt, Henry Wade, vor dem „Supreme Court“ für ihr Recht auf Abtreibung klagte. Sie gewann den Fall, und das Urteil bedeutete, dass jeder US-Staat die Möglichkeit abzutreiben garantieren musste. Diese Situation ist insbesondere konservativ-katholischen Gruppen seitdem ein Dorn im Auge.

Anhänger*innen der Anti-Abtreibungsbewegung sehen Schwangerschaftsabbrüche sowie Verhütung als Mord an. Bis Mitte der 1980er Jahre galt diese Sichtweise selbst in der republikanischen Partei als extrem. Doch mit wachsendem Einfluss religiöser Gruppen auf die Partei und in der Hoffnung auf neue Wähler*innengruppen begannen Republikaner*innen die Anti-Abtreibungsbewegung zu unterstützen. Da Abtreibung in den USA lediglich durch die Roe-Entscheidung geschützt war, konzentrierte sich die Partei auf die Umkehr dieses Urteils. 

Dazu brachte der republikanische Gesundheitsminister aus Mississippi, Thomas Dobbs, 2021 eine Klage gegen Mississippis damals einzige Abtreibungsklinik, die „Jackson Women’s Health Organization“, vor den Obersten Gerichtshof. Das Gericht stimmte mehrheitlich für die Anklage und entschied damit – anders als der „Supreme Court“ 1973 – dass das Recht auf Abtreibung nicht im Sinne der US-Verfassung sei. Und damit greifen seitdem automatisch die Trigger-Regulierungen in vielen Staaten.

Abtreibung gilt für viele als medizinisches Grundrecht. | Foto:Samuel Crankshaw, ACLU of Kentucky

Gesetze mit „tödlichen Konsequenzen“

„Diese Gesetze betreffen nicht die Personen, die es sich leisten können, für eine Abtreibung in einen anderen Staat zu reisen. Aber sie werden tödliche Konsequenzen haben für Minderheiten und einkommensschwache Gruppen, die ohnehin schon das höchste Gesundheitsrisiko bei Schwangerschaften haben und jetzt noch stärker bedroht sind“, betont Aktivistin Jackie McGranahan.

Schon vor der Entscheidung hatten etwa Afroamerikaner*innen ein dreifach höheres Risiko als Weiße, infolge einer Schwangerschaft zu sterben. „Mit den neuen Gesetzen könnte die Sterblichkeitsrate nun um 21 Prozent für alle und um 33 Prozent für Schwarze steigen“, sagt McGranahan.

Das liege ihrer Einschätzung nach daran, dass mehr Menschen in prekären Situationen Selbstabtreibungen riskieren würden. Darüber hinaus würden die neuen Einschränkungen auch dazu führen, dass mehr Menschen, die andernfalls abgetrieben hätten, jetzt aus Angst vor Strafen oder weil sie keinen Zugang zu Kliniken hätten, eine Schwangerschaft zu Ende brächten. „Geburten sind aber aus medizinischer Sicht viel riskanter als Abtreibungen“, sagt Louise King.

King ist Ärztin, Professorin für Geburtshilfe, Gynäkologie und reproduktive Biologie an der Universität Harvard sowie Vize-Präsidentin für Ethik der US-Gynäkologiekammer „American College of Obstetricians and Gynecologists“. Sie betrachtet Abtreibung als medizinische Grundversorgung und findet es darum absurd, dass die neuen Richtlinien die Gesundheit so vieler Menschen im Land gefährden. „80 Prozent der US-Amerikaner sind für ein Recht auf Abtreibung. Diese Gesetze repräsentieren eine extremistische Minderheit im Land.“

Die fragwürdigen Thesen der Anti-Abtreibungsbewegung

Robin Atkins gehört zu dieser Minderheit, wie sie selbst zugibt. Atkins ist Sprecherin für mentale Gesundheit bei der Anti-Abtreibungsorganisaton „American Association of Pro-Life Obstetricians and Gynecologists“, kurz AAPLOG. Atkins, die selbst in jungen Jahren eine Abtreibung hatte und jetzt Mutter von vier Kindern ist, ist fest davon überzeugt, dass Schwangerschaftsabbrüche immer die falsche Wahl sind.

„Egal, was der Hintergrund ist, Abtreibungen lösen nicht das Trauma, das eine ungewollte Schwangerschaft mit sich bringt“, so Atkins. Zudem würden Aborte zu psychischen Problemen wie Depressionen und erhöhten Selbstmordraten führen. Diese Kausalität lässt sich zwar wissenschaftlich nicht belegen, doch solche undifferenzierten Aussagen sind typisch für die AAPLOG, eine Organisation von Gynäkolog*innen, die Abtreibungen ablehnen.

Nach Recherchen der Watchdog-Organisation „Equity Forward” arbeitet die Lobby-Gruppe seit rund 50 Jahren im Hintergrund, um gemeinsam mit republikanischen Politiker*innen Abtreibungsrechte im Land einzuschränken. Eine ihrer Taktiken: AAPLOG-Ärzt*innen fungieren als Expert*innen in legislativen Anhörungen zum Thema und verbreiten wissenschaftlich fragwürdige Thesen, die in restriktiven Abtreibungsgesetzen resultieren.

Frauen kämpfen um ihr Recht. | Foto: Gayatri Malhotra (Unsplash)

So behauptet die Organisation etwa, dass hormonelle Verhütung Aborte auslöst oder dass Föten ab der siebten Schwangerschaftswoche Schmerz empfinden können. Dabei besagt der wissenschaftliche Konsensus, dass fetaler Schmerz unwahrscheinlich und frühestens ab dem dritten Trimester spürbar ist. Dazu will sich Robin Atkins nicht äußern.

Sie erkennt aber an, dass mit den aktuellen Abtreibungsverboten die Zahl der Selbstabtreibungen und somit die Sterblichkeitsrate aller Voraussicht nach steigen werde. Hier sieht sie allerdings die Schwangeren in der Verantwortung: „Du musst dir stets der Konsequenzen deiner Handlungen bewusst sein. Und wenn du dich dafür entscheidest, eine Abtreibung vorzunehmen, dann trägst du auch das Risiko der möglichen Folgen.“

Daher sei es wichtig, Schwangere in den USA stärker zu unterstützen, sagt Atkins. „Es muss einen besseren Zugang zu medizinischer, aber auch zu psychologischer Betreuung geben. Wir dürfen Frauen in schwierigen Situationen nicht allein lassen.“ Das haben sich auch Abtreibungsbefürworter*innen vorgenommen.

Bürger*innen wehren sich

Denn die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist kein lupenreiner Sieg für Anti-Abtreibungsorganisationen wie die AAPLOG. So haben Staaten wie Massachusetts oder Minnesota das Recht auf Abtreibung neu in ihre Verfassungen aufgenommen, um so den Zugang zum Verfahren langfristig zu sichern. Gleichzeitig hat das Urteil viele Bürger*innen aufgerüttelt.

Denn selbst für viele republikanische Wähler*innen geht es zu weit. So haben überraschenderweise Bürger*innen im konservativen Kansas im August 2022 in einer Abstimmung über eine mögliche Verfassungsänderung im Staat zu Schwangerschaftsabbrüchen mehrheitlich für ein Recht auf Abtreibung abgestimmt.

Darum bleibt auch Aktivistin Jackie McGranahan optimistisch: „Wir haben gesehen, was in Kansas passiert ist. Die US-Bürger sind mit den neuen Gesetzen nicht einverstanden, sie gehen an ihrer Lebensrealität vorbei und das werden sie durch ihre Stimme an den Wahlurnen deutlich machen.“

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Von Marinela Potor, Detroit

Marinela Potor arbeitet als freie Redakteurin für Online, Print und Radio. Ihre Themenschwerpunkte sind Wissenschaft, Green Tech und der digitale Wandel. Von 2017 bis 2021 war sie Chefredakteurin von Mobility Mag. Aktuell lebt sie in Deutschland und den USA und berichtet von dort vor allem über gesellschaftliche und technologische Trends.

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