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Wege aus der erzwungenen Abhängigkeit
Strickkollektiv in Göteborg

5. April 2023 | Von Regine Glass
Cara Boccieri (links) und Audrey Baba (rechts) bereiten eine Ausstellung zu ihrem Projekt „Koldbath" vor. Foto: Koldbath

Im vermeintlich feministischen Paradies Schweden sind es vor allem Frauen, die nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Netzwerken innerhalb der schwedischen Gesellschaft finden. Die Unternehmerinnen Cara Boccieri und Audrey Baba wollen genau das mit ihrem Strickkollektiv „Koldbath“ ändern.

Von Regine Glaß, Göteborg

Große Lese-Nischen mit modernen Stühlen, Bücher in vielen verschiedenen Sprachen. Ein Café und ein ganzer Raum mit Zeitungen und Magazinen aus aller Welt – die Stadtbibliothek Göteborg ist ein Ort, an dem selbst unter der Woche verschiedene Altersgruppen zusammentreffen. Hier veranstalten Cara Boccieri und Audrey Baba regelmäßig Workshops für ihr Handarbeits-Kollektiv „Koldbath“. Rentner*innen und Migrant*innen haben einmal die Woche die Möglichkeit, zu stricken, häkeln, weben und sticken – und sich so kennenzulernen.

Boccieri, die ursprünglich aus New York kommt, und die Französin Baba erkannten in dem fremden Land schnell, dass vor allem Frauen Probleme haben, in Schweden einen Job zu finden. Gleichzeitig bekamen sie mit, dass sich viele ältere Senior*innen einsam fühlten. Deshalb wollten sie sowohl Verdienstmöglichkeiten für Frauen schaffen als auch den beiden marginalisiertesten Frauengruppen in Schweden einen Zugang zur Gesellschaft ermöglichen. Die Idee: Ältere schwedische Frauen zeigen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten bei der Handarbeit verbinden sich mit den neu angekommenen Frauen zum Beispiel aus der Ukraine oder aus Indien.


 

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„Koldbath“ ist jedoch nicht nur eine gemeinnützige Initiative, sondern auch ein ökonomisch agierendes Unternehmen. Bei den Workshops wird nur für den privaten Gebrauch gestrickt. Übergeordnetes Ziel ist es aber, Handarbeitstalente zu entdecken, die bei „Koldbath“ mitarbeiten und damit Geld verdienen können. Besonders ist das Material, das von der Firma verarbeitet wird: Boccieri und Baba hörten davon, dass 80 Prozent der Wolle von schwedischen Schafen nicht weiterverwendet wird. Laut Recherchen der schwedischen Zeitung „Svenska Dagbladet“ waren es 2020 rund 750.000 Tonnen, die entsorgt wurden.

Ein Grund dafür sind die schwedischen Gesetze zur Schafhaltung, die besagen, dass die Tiere auf Stroh schlafen, das sich in der Wolle festsetzen kann. In Zusammenarbeit mit schwedischen Schaf-Farmen kauft „Koldbath“ die sogenannte „D-Wolle“, in der sich zu viel Heu befindet, als dass es sich lohnen würde, es herauszukämmen. Stattdessen wird es spielerisch in die Kollektionen eingearbeitet.

Eine der Mützen von Koldbath. | Foto: Koldbath

Ins kalte Wasser: Gründerinnen neu im Land

Der große Vorteil für ihre Mitarbeiterinnen sei, erklärt Cara Boccieri, dass sie von zu Hause aus arbeiten könnten. Es sei ihnen wichtig und Teil ihres Konzeptes, Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in allen Lebenslagen anzubieten. Im Moment hat das Unternehmen drei Angestellte und hofft, weitere einstellen zu können. „Koldbath“ hat sogar einen Vertrag mit der großen schwedischen Modemarke Filippa K. unterzeichnet. Ansonsten verkaufen sie ihre Produkte wie Mützen oder andere Kleidungsstücke vor allem online. Bis auf den Einsatz von Nähmaschinen beim Einnähen von Seidenfutter ist alles Handarbeit und entsteht in Göteborg.

„Wege aus der erzwungenen Abhängigkeit“ nennt Cara Boccieri das Nutzen von Fähigkeiten, die Menschen bereits haben, um Geld zu verdienen. Diese sollen sie aus der „erzwungenen Abhängigkeit“ von Staat und Ehemann befreien. Der Name ist eine Kombination aus dem schwedischen Wort „Kallbad“, das ein Bad in kaltem Wasser bedeutet, und der englischen Übersetzung „Coldbath“. Cara Boccieri und Audrey Baba gründeten „Koldbath“ inmitten der Pandemie 2020 und sprangen damit sprichwörtlich ins kalte Wasser, kurz nachdem sie beide nach Schweden gezogen waren. Kennengelernt haben sie sich auf einer Online-Plattform.

Die 39-jährige Boccieri und die 34-jährige Baba verstanden sich auf Anhieb und entschieden, etwas zusammen aufzubauen. Cara Boccieri forschte bereits zu Migration und Menschenrechten und entwickelte in Thailand Soziale Unternehmen. Laut dem Gabler Wirtschaftslexikon bedeutet „Soziales Unternehmertum“, sogenanntes „social entrepreneurship“, unternehmerisches Denken und Handeln zum Wohle der Gesellschaft, bei dem der Erfolg nicht an Profiten, sondern am gesellschaftlichen Nutzen gemessen wird.

Ein eigenes Unternehmen zu führen, wenn man selbst neu im Land ist, war jedoch zunächst nicht so einfach. „In Schweden zu gründen ist viel schwieriger als zum Beispiel in Frankreich. Wenn du kein Solopreneur bist, brauchst du Eigenkapital. Und oftmals Privilegien und die Hilfe deiner Familie“, sagt Audrey Baba. „Koldbath“ wurde mit Hilfe von umgerechnet rund 2.500 Euro, die sie in einem Pitch-Wettbewerb für nordische Unternehmen gewonnen haben, gestartet. Den Rest bestritten sie aus eigenen Mitteln, in der Startup-Welt spricht man dabei vom sogenannten „Bootstrapping“.

Workshopteilnehmerin Setha Muthu fehlen in Schweden Netzwerke. | Foto: Regine Glass

Frauen sind häufiger arbeitslos

Heute sind beim Workshop in der Stadtbibliothek drei Seniorinnen – zwei aus Schweden, eine aus Neuseeland – zugegen und drei Frauen, die vor Kurzem von Indien nach Schweden gezogen sind. Letztere sind wegen ihrer Männer, die in Göteborg Jobs bekommen hatten, ausgewandert. Alle drei haben eine Ausbildung zur Ingenieurin und lernen derzeit im staatlichen Schwedisch-Kurs die neue Sprache. Sie schreiben immer wieder Bewerbungen, bisher jedoch noch erfolglos. Vor allem das fehlende Netzwerk vor Ort mache es schwer, einen Job zu finden, erklärt die 34-jährige Setha Muthu. Auf das Projekt sind sie mittels Anzeige in der Zeitung aufmerksam geworden.

Insgesamt lebten in Schweden 2021 rund zwei Millionen Menschen, die nicht im Land geboren sind – das sind 20 Prozent der Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote war in Schweden im Jahr 2021 laut Daten des schwedischen statistischen Zentralbüros im europaweiten Vergleich mit insgesamt 8,8 Prozent relativ hoch. In Deutschland lag sie beispielsweise vergangenes Jahr bei 5,7 Prozent. Bei Frauen beträgt sie in Schweden zudem im Durchschnitt sogar 9,1 Prozent im Gegensatz zu 8,5 Prozent bei Männern.

Die Gründe dafür lägen sowohl auf Seiten der Frauen als auch auf der des schwedischen Systems, sagt die Expertin für Migration im globalen Kontext, Andrea Spaher von der Universität Göteborg. Der Arbeitsmarkt sei darauf aufgebaut, dass sowohl Frauen als auch Männer Vollzeit arbeiteten. Schweden ist das erste Land der Welt, das in den 1970er Jahren die teilbare Elternzeit einführte, was im Selbstverständnis Schwedens als gleichberechtigtes Land eine große Rolle spielt. Zudem ist die bezahlte Elternzeit mit 70 Wochen relativ lang. Trotzdem wurden laut dem Fernsehsender SVT auch 2021 noch knapp 70 Prozent aller Elternzeit- und Krankheitstage von Kindern von Müttern in Anspruch genommen, während die Zahl der Väter – langsam – ansteigt.

Gleichzeitig gebe es in Schweden besonders viele Hürden zu überwinden. Viele Kampagnen der Arbeitsagentur richteten sich direkt an eingewanderte und geflüchtete Frauen, um sie für Berufe in der Pflegebranche zu rekrutieren. Krankenschwester, Hilfsschwester, Vorschullehrerin – alles Jobs, die eine längere Ausbildung und ein Studium voraussetzen sowie besondere Sprachkenntnisse.

Gründerinnen Cara Boccieri (links) und Audrey Baba (rechts) mit einer der älteren Teilnehmerinnen, Karin Nilsson (Mitte). | Foto: RegineGlass

Diskriminierung beim Arbeitsamt

Für Nationalökonomin Maria Cheung ist eine solche Erklärung zu einfach. „Der Blick, den Medien und Politik auf einige Gruppen haben, ist sehr homogen, während meine Auffassung sehr heterogen ist.“ Vergessen würde dabei die Rolle der Behörden in Schweden wie zum Beispiel dem Arbeitsamt, das es de facto schwieriger für Frauen mache, auf dem schwedischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Ihre eigene Forschung und Analysen zeigen die Ursachen aus einer völlig anderen Perspektive: In einem Bericht des europäischen Sozialfonds über „Diskriminierung im Arbeitsleben“ von 2017, für den sie unter anderem innerhalb des schwedischen Arbeitsamtes forschte, kam heraus, dass Arbeitsvermittler*innen ausländischen Frauen weniger Aufmerksamkeit in Vorgesprächen schenkten, weniger oft nach Jobvorschlägen suchten, die ihren Qualifikationen entsprächen und das Gespräch von der Karriere weg schneller auf Privates zu sprechen käme.

Dahinter vermutet Cheung bestehende Stereotype in Hinblick auf das Geschlecht und die Herkunft. Die einzigen Jobs, bei denen der Bericht eine relativ hohe Vermittlungsrate unter migrantischen Frauen festgestellt habe, seien Aushilfsjobs, die nicht mit den Arbeitsaufgaben von in Vollzeit Angestellten konkurrieren dürften und somit kaum Zukunftsperspektiven böten. Ihre Lösungsvorschlag zielte unter anderem auf eine diversere Einstellungspraxis der Unternehmen. Zu Integration und Diversität auf dem Arbeitsmarkt finden immer wieder Diskussionen und Konferenzen innerhalb Schwedens statt.

Im Moment geht die politische Entwicklung im Land jedoch in eine andere Richtung: Seit Oktober 2022 hat das größte Land im Norden eine rechts-konservative Regierung, die sich klar gegen Einwanderung positioniert hat. Haben sie Angst, „Koldbath“ unter diesen Umständen weiterzuführen? Audrey Baba schüttelt den Kopf: „Es ist für uns eher ein Grund, unsere Arbeit weiterzuführen.“

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Von Regine Glass, Göteborg

Regine Glaß lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Göteborg. Von Westschweden aus schreibt sie Reportagen, Interviews und Analysen auf Deutsch und Schwedisch. Ihre journalistischen Themen sind urbanes Leben, die Gleichstellung aller Geschlechter und die Gefahr von rechts-außen. Mehr unter: https://regineglass.com/ 

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