Die Afghanin Khatera wurde jahrelang vom eigenen Vater missbraucht. Doch ihre Umwelt schüchterte die 26-Jährige ein, anstatt ihr zu helfen. Die Geschichte einer Frau, die trotz Todesdrohungen nicht von der Wahrheit abrückte – und dennoch in ihrer Gesellschaft geächtet bleibt.
Von Veronika Eschbacher, Kabul
„Ich habe jedes Mal geschrien“, sagt Khatera. „Nicht ein einziges Mal sollte er glauben, dass das, was er macht, in Ordnung ist“, platzt es aus der 26-jährigen Afghanin heraus. Ihr liebliches Gesicht verfinstert sich, es versteinert, wenn sie an ihren Vater denkt. Wut lässt Tränen in ihre Augen schießen. Und auch wenn sie sogleich unter dem Vorwand, frischen Tee zu holen, aus dem Zimmer läuft – den Erinnerungen an ihr langjähriges Martyrium kann sie nicht entfliehen. Über Jahre verging sich ihr eigener Vater an ihr. Und ihre Umwelt drohte ihr, anstatt zu helfen.
Khatera war noch keine zehn Jahre alt, als der Vater nach mehreren Jahren aus Iran zurückkehrte. Sie hatte ihn sehr vermisst, sagt sie, habe ständig große Sehnsucht nach ihm gehabt zu einer Zeit, als er, wie viele seiner Landsleute, im Nachbarland Geld verdiente. Doch schon bald nach seiner Rückkehr begann er, sie „mit Händen und Fingern“ zu belästigen. Kaum hatte sie ihre erste Periode, vergewaltigte er sie zum ersten Mal – um sie gleich darauf zu verprügeln.
Das Mädchen vertraute sich seiner Großmutter an. Diese schlug Khatera wiederum und mahnte, es bloß niemandem zu erzählen. Auch ihr Großonkel, ein Mullah, den sie aufsuchte, erklärte ihr, sie solle mit niemandem darüber sprechen, denn „unsere Ehre muss unantastbar bleiben“.
Fortan, sagt Khatera, habe der Vater sie sexuell missbraucht, wann immer er wollte. Und für sie begann ein jahrelanger, lebensgefährlicher Spießrutenlauf zwischen Mullahs, Polizei und anderen Familienangehörigen, die ihre Augen und Ohren verschlossen, sobald sie aussprach, was diese nicht hören wollten. Denn für viele Afghanen zählt Ghairat – Ehre – mehr als die Wahrheit. Ghairat bestimmt den Stellenwert der Familie in der Gesellschaft und ist gleichzeitig für den wirtschaftlichen Erfolg relevant. Niemand will ehrlos sein.
Das erste Kind kam mit 15
Es dauerte nicht lange, und Khatera erwartete ein Kind von ihrem Vater. Sie sei noch keine 15 Jahre alt gewesen. Als er es bemerkte, habe er Medikamente und Spritzen gebracht, die er ihr in den Bauch stieß, um das Kind zu töten. Er schlug sie, immer wieder, doch das Kind blieb am Leben. Sie zogen in eine andere Provinz – immerhin war sie schwanger und unverheiratet. Eines Nachts gebar sie ihr erstes Kind. In der Früh, nach dem Morgengebet, stand der Vater auf, nahm es, und warf es einfach auf ein Feld, erinnert sich Khatera.
Mindestens fünf Mal sei sie schwanger gewesen; meistens verlor sie die Kinder zwischen dem fünften und siebten Monat. Der Vater habe ihr verboten, bei Beschwerden zum Arzt zu gehen. Bis heute habe sie Herzprobleme, ihre linke Körperhälfte schmerze noch immer. Sie habe sich immer verstecken müssen, obwohl sie alle paar Monate umgezogen seien. Auch, weil der arbeitslose Vater ständig Schulden gehabt habe: „Wir haben über Jahre hinweg nur trockenes Brot gegessen.“
Immer wieder versuchte Khatera, trotz ständiger Todesdrohungen, auszubrechen. Sie gebar eine Tochter, die am Leben blieb und heute vier Jahre alt ist. Sie nahm den Säugling mit und ging zur Polizei, um ihren Vater anzuzeigen. Daraufhin wurde er verhaftet. Doch der Vater war mit einem lokalen Kommandanten befreundet – und innerhalb eines Tages konnte ihn ihr Onkel freikaufen. Als er zurückgekommen sei, habe er sie halbtot geprügelt, erzählt sie.
Das hielt sie und ihre Mutter nicht davon ab, weiter zu versuchen, den Vater hinter Gitter zu bringen. Lange Zeit wollten den Frauen Polizisten, Mullahs oder Gemeindevertreter nicht glauben. Erst vergangenen Spätsommer, eine Nacht vor dem Fastenfest, erfolgte die Verhaftung des Vaters. Wenige Wochen danach entschied sich Khatera, ihr Schicksal öffentlich zu machen. Zu diesem Schritt habe sie allein die Angst motiviert, der Vater könne erneut freikommen, sagt sie. „Wenn ich nicht ins Fernsehen gegangen wäre, dann wäre er heute wieder draußen.“ Und erinnert daran, dass sie der Großmutter erstmals vor 13 Jahren vom Missbrauch erzählt hatte und sich vor viereinhalb Jahren an die Polizei gewandt hatte. Seitdem war nichts geschehen.
„Alle wollten immer, dass ich schweige“, erinnert sie sich. Doch sie habe ihr Schweigen bewusst gebrochen. Seither müsse sie sich ständig Vorwürfe anhören – „dabei ist doch die Wahrheit ist wichtiger als die Ehre.” Die Entscheidung, auszusprechen, was ihr Umfeld nicht hören wollte, hatte aber auch nach der langerhofften Festnahme ihres Vaters Folgen. Ihre Brüder wurden wegen der ramponierten Ehre von Außenstehenden derart beleidigt und unter Druck gesetzt, die Ehre wiederherzustellen, dass einer von ihnen ausflippte. Er wollte Kathera erstechen und das Haus anzünden. Daraufhin rief sie die Polizei, die den Jungen abführte. Ihre Mutter schrie: „Der Sohn bringt Brot und Ehre, du bist eine Hure“. Also zog Kathera die Anzeige gegen ihren Bruder wenige Tage später wieder zurück.
Die Afghanin muss sich nun verstecken, sie lebt in ständiger Angst, da ihr noch immer Familienangehörige nach dem Leben trachten. Vor wenigen Monaten hat sie ein weiteres Kind von ihrem Vater auf die Welt gebracht. Der Sohn und die vierjährige Tochter sind ebenfalls in Lebensgefahr. Wenige Wochen nach der Geburt bestätigte ein gerichtlicher DNA-Test, für den Khatera lange kämpfen musste, die Vaterschaft ihres Vaters.
Der DNA-Test löste nach dem jahrelangen Kampf große Freude bei Khatera aus. „Nun wird endlich jeder verstehen, dass ich unschuldig bin!“, sagte sie. Der Prozess gegen ihren Vater, der bereits auf der Kippe stand, soll bald seinen Abschluss finden. Am ersten Verhandlungstag hatte er Khatera noch beschuldigt, sie habe ein Verhältnis mit einem Mann. Zeitgleich war plötzlich ein Papier des Arztes verschwunden, der gleich nach der Verhaftung des Vaters bestätigt hatte, dass sie vergewaltigt worden war.
Der Richter meinte, er könne ohne Beweise kein Urteil fällen. Davor hatte er im Prozess noch gefragt, wieso sich Khatera nicht selbst umgebracht habe – und ob sie sich nicht mit dem Vater versöhnen könne. Khatera hatte in der Tat Suizidgedanken, einmal habe sie versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Bis heute, sagt sie, wisse sie nicht, wie sich wahre Liebe anfühlt.
Ihre Geschichte reiht sich ein in eine Reihe von Gewaltfällen an afghanischen Frauen, die in den vergangenen zwei Jahren bekannt wurden. „Die Aufmerksamkeit für solche Fälle ist insgesamt gestiegen, gleich wie das Bewusstsein, dass diese Fälle ein Problem für die afghanische Gesellschaft darstellen“, sagt Thomas Ruttig, Afghanistan-Experte und Co-Direktor des „Afghanistan Analyst Networks“ (AAN). Gleichzeitig verstärke das kämpferische Auftreten der Frauen gegen Gewalt auch die Gegenwehr konservativer Kräfte. „Alles was mit Frauenrechten zu tun hat, wird als westliche Erfindung gebrandmarkt und als fremdartig bekämpft“, erkärt Ruttig.
Khatera hofft nun auf eine Verurteilung ihres Vaters. Sie weiß, dass sie wohl kaum in Afghanistan bleiben kann. Ihr Fernsehauftritt hat ihr positive Rückmeldungen gebracht, Noch immer spreche sie afghanischen Mädchen Mut zu, Missbrauch offen auszusprechen. In der Gesellschaft wird sie allerdings nicht als Heldin anerkannt. Vielmehr bleibt sie, weil sie Sex vor der Ehe hatte, eine Schuldige und Prostituierte.
Weiterführender Link:
Bericht des „Afghan Analyst Networks“ über Gewalt gegen Frauen in Afghanistan: https://www.afghanistan-analysts.org/shame-and-impunity-is-domestic-violence-becoming-more-brutal/