In dem Podcast-Projekt „CHOICE“ geht es um Schwangerschaftsabbrüche weltweit. Dahinter steckt das Künstlerinnenkollektiv „werkgruppe2“. Einige unserer Korrespondentinnen – unter anderem aus Irland, den Niederlanden und Namibia – stehen dort als Expertinnen Rede und Antwort. Wir haben Silke Merzhäuser, eine der Initiatorinnen, interviewt.
Wie kam euch die Idee zum Projekt?
Für unsere dokumentarischen Film- und Theaterprojekten wählen wir Themen aus, die gesellschaftlich zwar virulent sind, aber unserer Meinung nach zu einseitig oder nur verkürzt in Medien erzählt werden – zuletzt zum Beispiel für ÜBERLEBEN die hunderte Klinikmorde in den Krankenhäusern in Oldenburg oder Delmenhorst zwischen 2000 und 2005. Themen, für die Theater oder Film ein anderer Resonanzraum sein kann, Ereignisse persönlicher und ambivalenter erzählt werden können und augenblicklich eine thematische Auseinandersetzung mit dem Publikum startet. Den Projekten geht immer eine ausführliche Recherche voraus. Wir führen Hintergrundgespräche mit Expert*innen, die uns helfen einen Überblick über die jeweiligen Themen und in sehr kurzer Zeit einen Einblick in mögliche Konfliktzonen zu erlangen. Diese Hintergrund-Gespräche sind für uns jedes Mal sehr bereichernd, weil Expert*innen ja häufig in der Lage sind, über ihre Themen klug und engagiert zu sprechen. Mit dieser Podcast-Reihe machen wir nun zum ersten Mal unsere Recherche-Gespräche öffentlich und haben uns dafür Unterstützung geholt durch Korrespondentinnen, die durch ihre landesspezifischen Kenntnisse die Gespräche ergänzen – allen voran durch Korrespondentinnen aus eurem Netzwerk.
Warum ist euch das Thema Schwangerschaftsabbruch so wichtig?
Es ist ein sehr kontroverses Thema ist, über das wenig gesprochen wird – sieht man von dem Diskurs über die rechtliche Auseinandersetzung über den Zusatzartikel §219a ab. Wir finden, es gibt in Deutschland keine für Frauen zufriedenstellende Lösung, die den Zugang zu sicheren Abbrüchen für wirklich alle Frauen leicht ermöglicht. Gleichzeitig scheint das Thema politisch festgefahren. Theatral betrachtet, gibt es hier viele Geschichten zu erzählen: Von Frauen, die einen Abbruch haben vornehmen lassen, die darüber nachgedacht haben, die dazu gezwungen waren, die nicht überhaupt die Möglichkeit dazu hatten sowie denjenigen, die es im Nachhinein betrachtet als eine richtige Entscheidung beurteilen. Auch fehlen Erzählungen, in denen Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen nicht nur trauern und sich schämen.
Was wollt ihr mit eurem Podcast konkret erreichen?
In dem Podcast sprechen wir mit Expertinnen aus zehn verschiedenen Ländern. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, wie ist zivilgesellschaftliches Engagement entstanden, dass sich gegen rechtliche Regelungen und drohende Restriktionen richtet oder wie es beim Referendum 2018 im katholisch geprägten Irland gelungen ist, einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche legal und kostenfrei durchführen zu lassen. Wer hat die Initiative ergriffen in Ländern wie Irland, Argentinien und Polen und welche Arten von Protest haben dabei eine Rolle gespielt? Was sind Ereignisse oder Vorgänge, die auch für uns in Deutschland inspirierend wirken können?
Was hat dich persönlich am meisten überrascht bei der Recherche?
Das Interesse an einem transnationalen Austausch scheint groß. Alle angefragten Expertinnen haben bislang zugesagt. Inhaltlich hat mich sehr die Erzählung von Una Mullally begeistert, die in dem Gespräch über Irland berichtet, wie die Kampagne für das Referendum 2018 vorbereitet wurde. Die Aktivistinnen haben insbesondere von Erfahrungen von ungewollt Schwangeren gesprochen. Sie sind von Tür zu Tür gezogen, haben das Gespräch gesucht, so dass das Thema selbst verhandelbar wurde und zwar von einer breiten Masse der Gesellschaft. Die Haltung jeder und jedes Einzelnen wurde wichtig, wobei nicht wichtig war „für“ Abtreibung zu sein, wohl aber die Entscheidungsfreiheit anderer zu akzeptieren. Erst so konnte die Vorbereitung für das Referendum zu einer sozialen Bewegung werden. Für uns war es beeindruckend zu sehen wie wichtig, das „Storytelling“ und das Zuhören für den Erfolg der Kampagne wurde.
Was passiert mit den Gesprächen, die ihr unter anderem mit unseren Korrespondentinnen aufzeichnet?
Diese Gespräche, die auf einer eigenen Webseite und den üblichen Podcast-Plattformen veröffentlicht werden, sind der Start für eine ausführlichere Recherche. Für unsere Theaterprojekte folgt nach den Hintergrund-Gesprächen stets eine Interview-Recherche mit sogenannten „Expert*innen des Alltags“. Spezifikum unserer Projekte ist, dass wir auf der Bühne und im Film streng der Methode des verbatim theatre folgen: das heißt, alle Texte die von Schauspieler*innen gesprochen werden stammen wortwörtlich, mit allen Eigenheiten, die mündliche Sprache hat, aus Interviews. Aus diesem Material stellen wir die Textfassung zusammen. Die Hintergrund-Gespräche helfen uns, für die Interviews einen ausführlichen Fragen-Leitfaden zu entwickeln.
Wie sind die Chancen, dass die Vorrecherchen in eine spätere Theaterinszenierung münden?
Tatsächlich planen wir für 2022 aus dem Material eine Theaterinszenierung zu produzieren. Ursprünglich hatten wir überlegt einen Inszenierungsreigen mit Koproduktionen in Polen, Irland und Kolumbien zu entwickeln. Doch die Corona-Pandemie bremst derzeit die Planung von internationalen Arbeiten aus, denn die Situationen sind momentan in allen Ländern zu unterschiedlich und zugleich gibt in den Theatern einen großen Produktionsstau von bereits geprobten, aber noch nicht gezeigten Arbeiten.
Das Besondere an diesem Projekt ist ja – unter anderem – dass ihr die Vorrecherche öffentlich macht. Warum passiert das eigentlich bislang so selten?
Die Pandemie hat uns nach neuen Formaten suchen lassen. Da wir schon oft den Eindruck hatten, dass unsere Recherchen sehr aufwendig sind, und wir den Output vergrößern sollten, war dies – der Start der Recherche zum Thema Schwangerschaftsabbruch – nun ein guter Anlass. Aus dem Recherche-Material zu „ÜBERLEBEN. Über die Klinikmorde in Oldenburg und Delmenhorst“, was unsere letzte Premiere Ende Februar 2020 war, produzieren wir derzeit ein Hörspiel.
Wie geht es dir und deinem Team eigentlich in Zeiten von Corona? Was ärgert dich am meisten?
Absurderweise arbeiten wir sehr, sehr viel. Mit ein wenig Abstand zu dieser Phase sollten wir unbedingt auswerten, was das bedeutet, dass wir auf diesen Stillstand der kulturellen Live-Veranstaltungen so reagieren und viele neue Projekte gleichzeitig gestartet haben. Hinzu kommt, dass die große Inszenierung ARBEITERINNEN/ PRACUJĄCE KOBIETY, die bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen am 27. Mai 2021 Premiere haben wird, nun ein Theaterfilm wird, da wir uns nicht darauf verlassen wollten, dass die Kolleg*innen aus Polen wirklich anreisen können oder dass eine von uns in Quarantäne muss. Uns ist bewusst, dass wir damit privilegiert sind, weiterarbeiten und unsere künstlerischen Ergebnisse zeigen können, weil wir zusätzliche Förderungen aus den „NEUSTART“ Kultur-Programmen des Bundeskultusministeriums erhalten haben. Das hat lange nicht für alle Kolleg*innen gereicht, die nun zum Teil über Umschulung und Zusatzausbildungen nachdenken müssen. Auch fehlen bis heute in Niedersachsen Arbeitsstipendien, die losgelöst von Ergebnispräsentationen, vergeben werden, die das bloße Weiterarbeiten sichern.
Weißt du schon ab wann ihr wieder proben könnt – und wann die erste Post-Corona-Inszenierung gezeigt werden wird?
Wir bleiben optimistisch und hoffen im September die Inszenierung LEIBER live und in Präsenz proben können. Darin wird es um Fat-Shaming und Gewichtsdiskriminierung gehen. Die Recherche haben wir dafür zum ersten Mal komplett digital durchgeführt – was eine besondere Erfahrung war, da man beim Zoomen ja meist nur die Gesichter sieht und die Körper ausgeblendet werden. Das war gerade bei diesem Thema spannend, weil so viel über Körperformen und das Beurteilen eben dessen gesprochen wurde.
Kannst du beschreiben, wie dich die letzten zwölf Monate verändert haben?
Noch kann ich das nicht genau beschreiben. Es fehlt so vieles, so viel Austausch mit unterschiedlichen Menschen. Der Radius der Gesprächspartner*innen wurde extrem klein. Es fehlen mir auch ganz banale Dinge, wie Applaus spenden im Theater – Momente, die zuvor im Alltag unbemerkt passierten, aber doch wie wichtige Augenblicke des Austauschs sind. Gerne würde ich mehr und genauer begreifen, was diese Zeit gesellschaftlich bedeutet, warum die gesellschaftliche Trauer über die vielen Verstorbenen und der Beistand zu den Schwer- und Langfristig-Erkrankten so wenig spürbar und teilbar ist. Gerne würde ich anfangen zu überlegen, welche Formen es braucht, um diese Zeit aufzuarbeiten – doch dafür ist es viel zu früh, stecken wir doch mittendrin.
Die Situation ist ja für sehr viele Kulturschaffende in Deutschland schwierig… was hat dir Hoffnung gegeben? Was hat dir Kraft geschenkt?
Beglückend ist in dieser Zeit, wie gut es doch funktioniert, sich in Video-Calls auszutauschen und zusammenzurücken. Mit den Podcast-Gesprächen machen wir ja derzeit eine Erfahrung, die du und ihr von „Deine Korrespondentin“ kennt – es entstehen Gespräche über zwei bis drei Kontinente hinweg und durch dieses Sprechen über „Wie ist es bei Dir?“, „Kannst Du arbeiten?“, „Wie geht es Deiner Familie?“ entsteht schnell eine Nähe.
Mehr über werkgruppe 2:
Werkgruppe2 ist eine freie Künstlerinnenkompagnie, die Projekte des dokumentarischen Storytellings entwickelt. In vor allem Theater- und Filmarbeiten versucht werkgruppe2, soziale Wirklichkeiten aus der Perspektive von Menschen zu beschreiben, die zu gesellschaftlichen Minderheiten, Unsichtbaren, Ausgeklammerten zählen. Beruhend auf einer ausführlichen journalistischen Recherche, entstehen atmosphärisch und erzählerisch dichte Umsetzungen, welche die Grenzen von Dokumentation und Fiktion ausloten. Ausgangspunkt für die Texte sind narrative Interviews, die meist eine klar umrissene Perspektive auf ein Thema erfassen. Aus diesen Erzählungen schafft werkgruppe2 ein komponiertes Textgeflecht, das auf der Bühne oder im Film mit einem professionellen Schauspiel-Ensemble in einem stark künstlerischen, partei-ergreifenden, interpretatorischen Zugriff umgesetzt wird. Die Musik, die in jeder Produktion live beteiligt ist, besteht aus Neu-Kompositionen, häufig aus verschiedenen, ungewöhnlichen Klangquellen, und ist gleichberechtigtes Element.
Zentral bei der Konzeption sind zunehmend Fragen danach, was Dokumentation bedeutet, wie Wirklichkeit abgebildet wird und wie stellvertretend für Menschen gesprochen werden kann? Die werkgruppe2 besteht aus der Regisseurin Julia Roesler, der Musikerin und Komponistin Insa Rudolph, der Dramaturgin Silke Merzhäuser und der Videografin Isabel Robson. Darüber hinaus gibt es bei jedem Projekt assoziierte Künstler*innen, die das Ensemble für die jeweilige Produktion bereichern.