Seit zwei Wochen sitzen in Peru mehr als 30 Millionen Menschen in ihren Häusern fest. Die Regierung hat innerhalb kürzester Zeit den nationalen Notstand ausgerufen, eine mindestens einmonatige Ausgangssperre verhängt und die Grenzen geschlossen. Mit frischem Fisch, großer Solidarität und abendlichem Applaus versuchen die Peruaner*innen, die Krise zu bewältigen.
Von Eva Tempelmann, Lima
Wer hätte gedacht, dass Peru so zügig und drastisch auf das Corona-Virus reagieren würde? Die peruanische Regierung kann sich für konsequentes politisches Handeln in den vergangenen Jahren nicht gerade rühmen: Fast alle Präsidenten der letzten Regierungen sitzen wegen Korruptionsskandalen oder Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis oder Untersuchungshaft, die Armutsrate im Land ist hoch und das Gesundheitssystem marode.
Entsprechend überraschend kamen die weitreichenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens, die Peru am 13. März als eines der ersten Länder in Südamerika beschloss. Innerhalb kürzester Zeit ließ die Regierung nicht nur Schulen, Kindergärten und Universitäten schließen, sondern erklärte drei Tage darauf den nationalen Notstand, verhängte eine sofortige, mindestens einmonatige Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung, schloss den Flughafen der Hauptstadt Lima, untersagte Ein- und Ausreisen und riegelte die Grenzen ab.
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Die deutsche Botschaft hat in diesen Tagen nach zähen Verhandlungen mit der peruanischen Regierung einen ersten Rückholflug für die etwa 4.000 im Land gestrandeten Deutschen, vor allem Tourist*innen, organisieren können. Nun kreisen Hubschrauber am Himmel und das Militär kontrolliert die Einhaltung der strengen Regeln. Wer auf dem Weg zur Arbeit ist, muss einen Passierschein vorzeigen. Tourist*innen werden umgehend in ihre Unterkünfte zurückgeschickt. Das Haus verlassen darf nur noch, wer Lebensmittel oder Medizin benötigt. Sämtliche öffentlichen Einrichtungen, Restaurants und Läden sind geschlossen. Die Nutzung privater Autos ist bis auf wenige Ausnahmen verboten.
Lima, die ewig hupende und brummende 11-Millionen-Stadt an der Pazifikküste, liegt nun schlafend da. Die sonst von Bussen, Autos und Taxis verstopften Straßen sind leer, die Strände der Stadt verwaist und die Luft auf einmal so sauber, dass die Menschen das nahe Meer riechen kann. Einige sagen, sie könnten nach langer Zeit die Vögel zwitschern hören und die Sterne nachts am Himmel sehen. So plötzlich und tiefgreifend die Veränderung des alltäglichen Lebens in den vergangenen zwei Wochen waren, so ernst nehmen die meisten Menschen die strikten Einschränkungen – und das, obwohl der „Lockdown „viele Menschen sehr hart trifft.
Mehr als 70 Prozent der Peruaner*innen arbeiten im informellen Sektor als Straßenverkäufer*in, Haushaltshilfe, Schuhputzer*in, Taxifahrer*in. Der Staat hat ihnen 380 Soles, umgerechnet 100 Euro, zugesichert. Wie genau die Bedürftigkeit festgestellt werden soll und wie die Menschen an diese Unterstützung kommen, ist noch unklar.
Trotz allem verstehen und respektieren die meisten Peruaner*innen die einschneidenden Maßnahmen. Über die sozialen Netzwerke rufen sie eindringlich zur Einhaltung der Ausgangssperre auf, zum Beispiel mit dem Hashtag #YoMeQuedoEnCasa, übersetztt „Ich bleibe zu Hause“. Wer rausgeht, trägt Mundschutz, manche vermummen sich mit Schals, Mützen und Handschuhen – und dass obwohl gerade Hochsommer in Lima herrscht.
In den Supermärkten, dem einzigen Ort, an dem sich derzeit eine größere Anzahl von Menschen trifft, versuchen die Kund*innen, den empfohlenen Abstand von einem Meter – in Memes in sozialen Netzwerken auch eine Lama-Länge genannt – einzuhalten. An manchen Stränden im Norden des Landes drohen lokale Bewohner*innen widerwilligen Badegästen und Surfer*innen mit Anzeigen und Prügel, wenn sie trotz der Ausgangssperre ins Wasser gehen sollten.
Solidarität während der strikten Islationszeit zeigt sich in verschiedensten Formen. Anwohner*innen versorgen Sicherheitskräfte auf den Straßen Cuscos mit Thermoskannen voll heißem Kaffee, Kultur- und Sporteinrichtungen stellen Filme, Bildungsmaterial und Mitmachaktionen zur freien Verfügung ins Netz. In unserem Haus kaufen die jüngeren Bewohner*innen für die Älteren ein, die aus gesundheitlicher Vorsicht das Haus gar nicht mehr verlassen. Das Gesundheitssystem ist so überlastet, dass niemand riskieren möchte, sich mit dem Virus anzustecken.
Knapp 500 bestätigte Coronavirus-Erkrankungen gibt es bislang in Peru, neun Menschen sind an den Folgen der Infektionskrankheit gestorben. Apropos Einkäufe: Manch eine*r schwört jetzt umso mehr auf die in den letzten Jahren international bekannt gewordenen Superfoods: Quinoa, Chia, Maca Acai, Avocado und viele Limetten, wegen des Vitamin C. Wunder soll auch das Nationalgericht Perus wirken, in Zitronensaft marinierter frischer Fisch. „Jeden Tag eine Portion Ceviche und das Corona-Virus kann dir nichts anhaben“, meint unsere Nachbarin Eulogia.
Viele Peruaner*innen scheint so schnell nichts aus der Fassung zu bringen. In ihrem Land, das regelmäßig von Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht wird und in den 1990er Jahren einen Bürgerkrieg überstanden hat, waren Zusammenhalt und Zuversicht stets äußerst hilfreiche Eigenschaften, um durch harte Zeiten zu kommen.
Der Gänsehautfaktor kommt – wie derzeit in vielen Millionenstädten weltweit – am Ende des Tages. Jeden Abend um 20 Uhr treten die Menschen in Lima an die Fenster und auf die Balkone, schalten Lichter an und zünden Feuerwerkskörper und applaudieren den Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen und den Sicherheitskräften, die draußen versuchen, das Virus einzudämmen und sie applaudieren sich selbst, die im Haus bleiben.
„Si se puede“ – zu Deutsch „wir schaffen das“ – rufen sie sich über die Balkone und Straßen hinweg zu, sie pfeifen und lassen die Nationalhymne und nostalgische Lieder durch die Nacht schallen, am häufigsten das vor Nationalstolz triefende „Mi Perú“ (mein Peru). Spätestens wenn die Gruppe von der Vielfältigkeit des Landes singt, von der Küste, Anden und Regenwald und dass wir alle Brüder und Schwestern seien, wird jede*m klar, dass es keine andere Option gibt, als die strikte Ausgangssperre einzuhalten.