Schon mit neun Jahren hatte sich Kenya Cuevas von dem Jungen in ein Transmädchen verwandelt. Dafür lebte sie auf der Straße und bot sich Männern für Sex an. Es folgten Drogenabhängigkeit, eine HIV-Infektion und zehn Jahre Gefängnis. Doch jedes Mal schaffte es Kenya Cuevas aus eigener Kraft, die Situation zu überwinden. Das macht sie heute zum Vorbild in ihrer Community.
Von Sonja Gerth, Mexiko-Stadt
Kenya Cuevas ist eine Frau, die aus der Menge heraussticht – nicht nur durch ihre Größe. Dazu tragen auch ihr feuerrotes Haar bei und ihre feste, laute Stimme. Kenya lacht gerne und wenn sie durch ihr Haar streicht, klimpern die zahllosen Reifen an ihrem tätowierten Arm. Sonntag ist ihr einziger Ruhetag. Rund um den Tisch in ihrem bescheidenen Häuschen am Stadtrand sitzen neben ihren Hunden Bilbo und Negra auch Kimberly und ein weiterer Freund. „Das wechselt ständig hier“, erklärt Cuevas. Sie hat für alle Transfrauen, die auf der Straße stehen und nicht wissen, wo sie hinsollen, eine offene Tür – egal, ob sie nur für ein paar Tage Unterschlupf suchen oder für länger.
In Mexiko-Stadt gibt es zwar einige Gesetze für Transpersonen, beispielsweise können diese ihr Geschlecht offiziell ändern lassen, doch es herrscht in vielen Bereichen weiter Diskriminierung. Seit Jahren setzt sich die 45-Jährige deshalb für die Trans-Community, für Menschen, die auf der Straße leben, für Sexarbeiterinnen, HIV-Positive und ehemalige Häftlinge ein. Im April 2018 hat sie sogar eine eigene Organisation dafür mitgegründet, die zu Deutsch „Das Puppenhaus“ heißt. Dass Kenya Cuevas eines Tages Direktorin ihrer eigenen Nichtregierungsorganisation sein würde, hätte sie nicht zu träumen gewagt.
1973 wurde sie in Mexiko-Stadt geboren und hauptsächlich von ihrer Großmutter aufgezogen. Der Grund: Ihre Mutter arbeitete in den USA und hatte Kinder von mehreren Männern. „Schon mit sechs oder sieben Jahren habe ich meiner Großmutter erzählt, dass ich mich zu anderen Jungs hingezogen fühle. Meine erwachsenen Halbbrüder haben mich dafür geschlagen. Ich war nicht der Bruder, den sie wollten”, erzählt sie rückblickend. Ihre Großmutter habe sie zwar immer verteidigt, aber sie starb als Cuevas 9 Jahre alt war.
Es waren die frühen Achtziger, ihre Brüder nahmen sie von der Schule, brachten sie zum Arbeiten in eine Fabrik und steckten den Großteil ihres Verdienstes ein. Eines Tages ging sie nicht nach Hause sondern kam über Umwege in ein Hotel, das ausschließlich von Transfrauen und Sexarbeiterinnen bewohnt wurde: „Ich habe gesagt: Ich will so sein wie ihr!“ Also haben sie ihr eine Perücke gekauft, Schuhe, Kleider und Make-up. „Und dann haben sie mich zu einer bestimmten Straßenecke gebracht, um zu arbeiten. Das heißt, 24 Stunden, nachdem ich weggelaufen war, war ich Sexarbeiterin. Mit gerade mal neun Jahren.”
Kenya Cuevas erzählt das gefasst, beinahe nostalgisch, als es um ihre erste Begegnung mit anderen Transsexuellen geht. Doch die harte Realität des Lebens auf der Straße und des Missbrauchs brachte sie schnell dazu, Drogen zu nehmen. „Ich fing mit Koks an,“ erzählt sie, „am Anfang denkst du noch, du kontrollierst es, aber dann lässt du dich immer mehr gehen, und schließlich habe ich mit den anderen Straßenkindern im Park gelebt. Die Leute nannten uns Rattenkinder, weil wir in der Kanalisation geschlafen haben.“
Cuevas wird älter, kommt in Pflegeheime und läuft wieder weg. Mit zwanzig besteht ihr Alltag aus Drogen, Sexarbeit und Autofenster putzen an Kreuzungen. „Es gab keine Option – erst recht nicht, wenn du nichts kannst.“ Immer wieder wird sie von der Polizei aufgegabelt und erzählt rückblickend: „Ich musste nur auf der Straße unterwegs sein. Irgendeinen Grund haben sie immer gefunden, um mich 48 Stunden festzuhalten. Dabei haben sie uns den Kopf rasiert und Steine in den Anus gesteckt, um uns die Homosexualität auszutreiben.”
Eines Tages schließlich, als sie gerade Kokain kaufen will, gerät sie mitten in eine Drogenrazzia. Alle schmeißen sich auf den Boden, wobei die Verkäuferin die Polizisten besticht und Cuevas sieben Kilo Kokain unterschiebt. Die Transfrau wird eingesperrt und später wegen Besitzes und Handels mit Drogen zu 24 Jahren Haft verurteilt. „Damals konnte man sich nicht aussuchen, wo man hinkam, es war sofort der Männerknast“, sagt die Aktivistin, streckt die Arme aus und lässt ihren Schmuck klimpern. Heute kämpft sie dafür, dass Transpersonen selbst entscheiden dürfen, wo sie inhaftiert werden.
Die Leute starben wie die Fliegen
Als sie Ende der 1990er im Gefängnis ihren positiven HIV-Status angibt, kommt sie in den Schlafsaal der Aidskranken. Ein Totensaal. „Alle bekamen das gleiche Medikament. Jeden Tag gab es Neuankömmlinge, aber jeden Tag starben auch welche. Zehn Jahre lang sind wir nicht mehr als 40 gewesen.“ Doch Kenya Cuevas liebt das Leben und setzt sich dafür ein, dass die Betreuung der Kranken von einer Aids-Klinik übernommen wird.
„Ich habe meine Trans-Community verteidigt. Wenn eine neu eingewiesen wurde, habe ich sie gleich zu mir in den Schlafsaal geholt. Aber ich habe auch alle gleich behandelt und dafür gesorgt, dass alle die gleichen Portionen zu essen bekamen – nicht wie die vorherigen Anführer, die das Essen meistbietend verkauft haben”, erzählt sie. Josefina Cerecero Victoria, die früher Sozialarbeiterin im Gefängnis war, sagt über die Aktivistin: „Kenya ist eine sehr ehrliche Person. Sie macht dir nie Versprechungen, die sie nicht halten kann.“
Obwohl Sozialkontakte verboten waren, freundeten die beiden sich an, so sehr, dass Josefa heute eine der Freiwilligen in Cuevas neuer Organisation ist. Sie meint: „Kenya reiht so viele Menschen um sich, weil sie authentisch ist. Sie hat all das selbst erlebt. Sie weiß, wie es sich anfühlt, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden.“
Freunde unter allen Besuchern
Als Kenya Cuevas im Gefängnis war, hat sie mit ihrer Familie gebrochen und erhielt keinerlei Besuch. Dabei ist der in mexikanischen Gefängnissen so wichtig: Verwandte bringen den Insassen alles Notwendige von außen mit, vom Klopapier bis zur Kleidung. Deshalb fängt sie an, während der Besuchszeit Zigaretten und Kaugummi zu verkaufen: „Mit einer Schachtel ging es los, und dann ging ich von Tisch zu Tisch und verwickelte die Leute in Gespräche. Mit der Zeit waren alle Besucher auch meine Besucher.“
So machte sie Bekanntschaft mit Juristinnen, die ihr dabei halfen, Briefe für eine Haftverkürzung zu schreiben. Nach etwa vier Jahren schafft sie es, vom Kokain loszukommen. Drogenentzugsprogramme gab es damals nicht, stattdessen hat das Gefängnispersonal am Schmuggel reichlich mitverdient.
Als Cuevas nach zehn Jahren vorzeitig entlassen wurde, war das ein Schock. Schließlich gab es keine Wiedereingliederungsmaßnahmen. Genau das will sie mit ihrer Organisation ändern. „Du kommst raus mit dem Gefühl, du bist nichts wert. Und dann werden die Transfrauen ganz leicht wieder zum Objekt gemacht“, findet sie. Dem müsse man echte Lebensprojekte entgegensetzen. Monate später fand sie sogar Arbeit in einer internationalen Aidsorganisation. Als das Geld irgendwann nicht mehr reichte, ging sie zurück zur Sexarbeit.
Wendepunkt: der Tod von Paola
Doch 2016 wird zum Wendepunkt: Auf der Straße erlebt sie aus wenigen Metern Entfernung mit, wie ein Freier ihre Freundin Paola erschießt, kurz nachdem sie in sein Auto gestiegen war. Der Mann wird festgenommen und nach kurzer Zeit wieder freigelassen – „aus Mangel an Beweisen“, wie es heißt. Doch Kenya Cuevas kann die Tat nicht ungesühnt lassen. Sie setzt sich für ihre Freundin ein, organisiert Proteste und geht an die Öffentlichkeit. Damit macht sie sich auch selbst zur Zielscheibe, in einem Land, in dem es zwar die sogenannte „Homo-Ehe“ gibt, in dem der Machismo aber tief verwurzelt ist.
Laut Nichtregierungsorganisationen „Letra S“ wurden zwischen 2013 und 2017 mehr als 200 Transfrauen umgebracht. Und wie viel Hass dabei im Spiel ist, bekommt Kenya Cuevas hautnah mit, wenn sie die Opfer identifizieren muss oder sich um die Beerdigungen der „Schwestern“ kümmert, deren Familien niemals auftauchen, um den Leichnam abzuholen. Für ihren Einsatz hat sie selbst bereits mehrfach Morddrohungen erhalten. Doch als eine von 700 Menschenrechtsverteidigern wird sie inzwischen vom Staat geschützt.
Das heißt, sie wird täglich von Sicherheitsleuten begleitet. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um ihr Haus wurden verstärkt. Ob sie Angst hat? „Ja, aber ich lasse mich davon nicht brechen“, sagt sie. Denn die Liste, was sie noch alles für Transfrauen erreichen will, ist lang: Von der Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Sexarbeiterinnen über Wohnungen, die Transfrauen aufgrund von Diskriminierung nicht bekommen, bis zur verschärften Strafverfolgung von Gewalt gegen Transpersonen. Der Kampf um Gerechtigkeit für ihre Freundin Paola ist dabei ihr Antrieb. Ihr sehnlichster Wunsch: dass ihr Mörder eines Tages festgenommen und verurteilt wird.