„Unser Volk hat sich in einen Henker verliebt“, meint die kurdische Transfrau Destina. So wie sie denken viele, als nach einer Stichwahl Ende Mai die Entscheidung endgültig gefallen ist: Der neue Präsident der Türkei ist der gleiche wie der alte. Also fragen sich viele Frauen im Land: Wie wird es für sie weitergehen?
Von Ellen Rudnitzki, Istanbul
Zwei Stunden fährt die Metro vom Taksimplatz im Zentrum Istanbuls nach Bahçeşehir, einem Viertel am äußersten Rand der Stadt. In einem schmucklosen Wohnblock lebt Destina, wie sie genannt werden will, mit ihrem palästinensischen Freund Fettah Omar. Ihren Nachnamen braucht sie nur noch für offizielle Anlässe, zu sehr erinnert er sie auch an ihren verhassten männlichen Vornamen.
Bis zur ihrer letzten geschlechtsangleichenden Operation, der Umwandlung des Penis in eine Vagina, hatte sie als Prostituierte gearbeitet, für Transsexuelle oft die einzige Möglichkeit, zu überleben. Als „richtige“ Frau wollte sie einfach nur weg von der Straße und ist froh, dass ihr Freund mit seinem Handyladen für den Lebensunterhalt sorgt. Gewalt und Diskriminierung als Transfrau hat Destina schon häufig erlebt. Jetzt hat sie Angst, dass alles noch schlimmer kommt.
Dabei hatte es zunächst so gut ausgesehen für die Gegenseite unter Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu. Die Wirtschaftskrise und eine Inflation von zum Teil mehr als 80 Prozent hatten die Regierung geschwächt und die Opposition in den Umfragen lange vorn liegen lassen. Am 14. Mai dann der Schock: Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen kam kein Parteienbündnis über die erforderlichen 50 Prozent der Stimmen. Bei der Stichwahl am 28. Mai 2023 hat die Regierungskoalition schließlich den Sieg davongetragen.
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Die Rückkehr der Islamisten
Doch obwohl Recep Tayyip Erdoğan nun weitere fünf Jahre regieren wird, bleibt nicht alles beim Alten. In ihrer Gier nach Macht hat die regierende „AKP“ auch am rechten Rand gefischt: Mit vier Abgeordneten sitzt nun auch die extrem islamistische „HÜDA PAR“ im Parlament. Und was Destina und vielen Frauen am meisten Sorgen bereitet: Zwei von ihnen standen vor 30 Jahren unter Verdacht, Mitglieder der türkisch-kurdischen Hisbollah gewesen zu sein.
Die sogenannte „Partei Gottes“ war eine Terrororganisation, die in den 90er Jahren mit der Ideologie eines fundamentalistischen Islam Angst und Schrecken verbreitet hat. Ein anderer Koalitionspartner, der Destina Angst macht, ist die „Yeniden Refah Partisi“, eine islamistische Partei, der Erdoğan vor vielen Jahren selbst angehört hat. Beiden Parteien haftet der Ruf eines extrem konservativen Familienbildes an. Mitglieder der LGBTQ-Community verachten und bekämpfen sie geradezu.
Es scheint, als habe der Präsident aus Angst, diese „Schicksalswahl“ – wie sie von vielen genannt wurde – zu verlieren, noch die letzten Getreuen aus dem Boden gestampft, gleich welcher Couleur. Jetzt fühlt sich Destina dreifach bedroht: als Teil der LGBTQ-Community, als Frau und als Kurdin.
Die Geister, die man rief
Dass man die Geister, die man rief, nicht so schnell wieder abschütteln kann, befürchtet auch Filiz Gazi. Sie ist Journalistin und arbeitet für eine politisch links orientierte Website. Ihr Büro liegt mitten im quirligen Beyoglu. Hier sieht es aus wie in vielen Metropolen dieser Welt: Einheimische und Tourist*innen quetschen sich durch die Einkaufsstraßen, vorbei an Modegeschäften, Musikläden, Bars, Restaurants und Cafés. In den meisten Läden wird Alkohol ausgeschenkt. Das könnte sich bald ändern, wie so vieles, meint die 30-Jährige.
„Bisher hatten wir relativ viel Freiheit, aber das könnte nun vorbei sein. Im Parlament sitzen nun Menschen, die der Ideologie der Hisbollah anhängen“, sagt sie. Obwohl die jetzige „HÜDA PAR“ kaum etwas mit der Terrororganisation der 90er Jahre zu tun hat, ist der Begriff Hisbollah zum Schlagwort der Opposition geworden und hängt wie ein Damoklesschwert über ihnen. „Das bedeutet, dass ich vielleicht keine kurzen Röcke mehr tragen kann. Vielleicht wird auch wieder ein ,Ehebruchgesetz‘ verabschiedet“, befürchtet Gazi.
So ein Gesetz hatte Ehebruch in der Türkei lange unter Strafe gestellt. 1996 wurde es für Männer, 1998 auch für Frauen vom türkischen Verfassungsgericht aufgehoben. Um sich von der EU abzusetzen, hatte es der türkische Präsident aber immer wieder aus dem Hut gezaubert, um es dann wieder zu verwerfen. Unter der neuen Koalitionsregierung könnte es jetzt umgesetzt werden, glaubt Journalistin Filiz Gazi.
Nicht für alle eine Katastrophe
In türkischen Städten oder Stadtvierteln, die eher konservativ religiös geprägt sind, denken viele Frauen allerdings ganz anders. „In der Nacht, als klar war, dass Tayyip Erdoğan gewonnen hatte, habe ich vor Freude laut geweint“, sagt die 60-jährige Ülker Palabiyik. Sie lebt in der Nähe des Taksimplatzes, einem Viertel mit kleinen, verwinkelten Gassen, in denen sich viele Antiquitätenhändler niedergelassen haben.
Palabiyik ist gläubige Muslimin und trägt das Kopftuch. An ihrem Leben als Mutter und Hausfrau hat sie nie gezweifelt. Auf ihren Sohn, der als Kameramann für eine türkische TV-Serie arbeitet, ist sie stolz. Den türkischen Präsidenten verehrt sie: „Der wichtigste Grund, warum ich Erdoğan unterstütze, ist seine aufrechte Haltung. Ich bin in einem Alter, in dem ich noch nie einen so aufrechten Präsidenten wie Erdoğan gesehen habe.“
In der Tat hatten es religiöse Frauen vor Erdoğan nicht leicht mit den säkularen Regierungen unter Tansu Ciller und Bülent Ecevit. Im Gegenteil: Lange war es in der Türkei verboten, mit Kopftuch zu studieren, mit Kopftuch öffentliche Gebäude zu betreten oder an weiterführenden Schulen ein Kopftuch zu tragen. Für viele Frauen und Mädchen hieß das, dass sie systematisch von einer höheren Bildung ferngehalten wurden. Da kam Erdoğan, der all diese Verbote aufgehoben hat, geradezu als Befreier daher.
Die Spaltung der Türkei
Und so zeigte sich auch bei dieser Wahl wieder einmal, wie gespalten die türkische Bevölkerung ist, seitdem Mustafa Kemal Attatürk bei der Staatsgründung 1923 gewaltsam versucht hat, seinem Volk einen modernen europäischen Lebensstil aufzuzwingen.
Während jetzt also die einen die Hisbollah heraufbeschwören, befürchten die anderen die Diktatur des Laizismus, wie Filiz Gazi feststellt. Sie erzählt: „Ein paar Tage vor den Wahlen bin ich in Stadtviertel gegangen, in denen die Wähler der AKP in der Mehrheit sind. Ich habe sehr fantastische Dinge gehört. Wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, werden die Moscheen abgerissen, das Tragen von Kopftüchern wird verboten sein. Es ist sehr schwierig, die Meinung der Menschen zu ändern, diese Themen sind dort fest verwurzelt.“ So hat wohl nicht zuletzt der Wunsch nach Stabilität in schwierigen Zeiten zum Wahlsieg beigetragen.
Immerhin hat die Opposition mit 48 Prozent im ersten Wahlgang mehr Stimmen erhalten als bei jeder anderen Wahl seit der „AKP“-Regierung unter Erdoğan. Doch auch für die Gegenseite gab es so etwas wie einen Sündenfall. So hat die größte Oppositionspartei, die kemalistische „CHP“, ein Sechserbündnis mit zum Teil extrem nationalistischen Partnern und der islamistischen „Saadet Partisi“ gegründet – für die Rechte von Frauen und Minderheiten ein Desaster.
Die zweitgrößte Oppositionspartei, die prokurdische „HDP“, durfte gar nicht erst antreten, weil das Verfassungsgericht wegen ihrer Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei „PKK“ ein Verbot der Partei in Erwägung gezogen hat. Ihre Anhänger*innen wurden stattdessen dazu aufgerufen, die Opposition mit ihren Stimmen zu unterstützen.
Der Kampf der Minderheiten
„Damit wurden die Belange der Kurden wieder einmal unter den Tisch gekehrt“, meint Dilan Özyurt. Die 28-jährige Sozialpädagogin lebt in der Kurdenhauptstadt Diyabakir und kämpft vor allem gegen die Kinderarmut in ihrer Umgebung. Ihre Heimat nennt sie ein „Kriegsgebiet“. Hier im Osten der Türkei kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen der „PKK“ und dem türkischen Militär. So werden nicht selten ganze Dörfer und Stadtteile dem Erdboben gleichgemacht, wenn es Attentate auf die „PKK“ gegeben hat.
Die Verbotsandrohung „ihrer“ Partei, der „HDP“, die seltsamen Koalitionen sowohl der regierenden „AKP“ wie auch der Opposition unter Kemal Kılıçdaroğlu und die Tatsache, dass die Opposition seit jeher alles andere als minderheitenfreundlich ist, ließen den Gang zur Urne für Dilan Özyurt und ihre Kollegin Gulan Esenyel zu einer Wahl zwischen Pest und Cholera werden.
„Für uns gibt es kaum einen Unterschied zwischen der derzeitigen Regierung und den Oppositionsallianzen”, sagt Gulan Esenyel. „Aber wir hofften auf ein Ergebnis, bei dem wir etwas aufatmen konnten, also sagten wir: Kılıçdaroğlu soll gewinnen, dann haben wir zumindest ein bisschen Ruhe.“
Ein Aufatmen wäre es gewesen, wenn es eingetreten wäre, was der Opposition versprochen hatte: eine Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie, das Rückgängigkmachen des Ausscheidens der Türkei aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen, eine Amnestie für politische Gefangene (unter ihnen viele Journalist*innen und kurdische Bürgermeister*innen) sowie die Aufhebung der staatlich eingesetzten Zwangsverwaltungen in kurdischen Städten.
„Jetzt bleibt unser Leben ein Kampffeld“, meint Dilan Özyurt. Auch Journalistin Filiz Gazi glaubt, dass den Frauen in der Türkei schwierige Zeiten bevorstünden. Bis zum ersten Oktober hat sich das Parlament in die Sommerpause verabschiedet. Wie es tatsächlich weitergeht, wird sich erst danach entscheiden. Für viele Türkinnen eine Situation zwischen Hoffen und Bangen. Denn so unterschiedlich ihre Weltanschauung, ihr Lebensstil, ihre Herkunft auch sein mag, sie alle eint ist die große Angst, als Frauen mal wieder auf der Verliererinnenseite zu stehen.