Im dritten Text von „andererseits“ beleuchten wir, wie die Welt nicht genug für Geschwisterkinder mit Behinderung funktioniert. Das merken sie an all den Hürden, mit denen sie jeden Tag konfrontiert sind. An jedem letzten Mittwoch des Monats veröffentlichen wir einen neuen Text von Kooperationspartner „andererseits“, der das Thema Behinderung verstehbar machen will.
Mittelfranken 2010. Abends wäscht Simone ihre Schwester. Sie nimmt einen Lappen und säubert langsam ihren Körper, sie kämmt ihr Haar, sie putzt ihre Zähne. Sie legt sie in ihr Bett und deckt sie zu. Simone ist acht Jahre alt, ihre Schwester Paula ist sechs. Simone macht das alleine. Die Mutter hat gesundheitliche Probleme und ist für mehrere Wochen im Krankenhaus. Simones Vater ist von der Situation überfordert. Paula wurde mit Sparta 5 geboren, das ist ein seltener Gendefekt, der erst einige Male in Deutschland diagnostiziert wurde. Da ist niemand, der sie gut genug kennt, um zu helfen, der weiß, wie man sie halten und ihr zureden muss, damit sie sich wohlfühlt. Also springt Simone ein.
Vier Jahre später, 2014, geht es Simones Mutter besser. Die beiden Schwestern leben mit ihren Eltern in der Nähe von Nürnberg. Paula braucht viel Unterstützung im Alltag. Dabei zu Essen, sich Anzuziehen, sich zu Waschen. Den Großteil davon übernimmt jetzt Paulas Mutter. Einen Beruf ausüben kann sie deshalb eigentlich nicht – auch wenn sie gerne würde.
Dann entdeckt sie etwas, das doch geht: Sie arbeitet abends als Vertreterin für Küchengeräte. Unterwegs sein, Abwechslung, die Abende draußen, das alles tut ihrer Mutter gut, bemerkt die damals 12-Jährige Simone. Aber Paula, die noch immer Hilfe beim Waschen braucht, lässt sich nicht von ihrem Vater ins Bett bringen. Also macht das an den Abenden, an denen die Mutter nicht da ist, Simone. Sie springt ein.
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Einspringen weil die Politik versagt
Wie kann es sein, dass eine Achtjährige ihre Schwester wäscht? Wie kann es sein, dass eine Zwölfjährige sich so um ihre Mutter kümmert? Es ist eine politische Entscheidung. Die Systeme, in denen wir leben, sind nicht für Menschen mit Behinderungen gemacht: In der Schule, der Arbeit, dem Wohnen und sich fortbewegen – überall gibt es kaum passende Lösungen für Menschen mit Behinderungen. Deshalb springen sie und ihre Familien eben ein. Weil jemand muss.
Einen Teil der Verantwortung für meinen Bruder, den Platz in seinem Leben, den ich habe und um den es in der letzten Folge ging, möchte ich haben. Aber dieses Einspringen, dieses Müssen, das stört mich. Denn Geschwister wie ich werden in Rollen gedrängt, weil es an echten Lösungen fehlt: Wenn es keine geeignete Pflege für ihr Kind gibt, dann übernehmen sie eben, wie Simone und ihre Mutter. Wenn es keinen passenden Job gibt, dann ermöglichen sie eben einen, wie Nicole, die wir in diesem Text noch kennenlernen werden. Wenn es keinen passenden Ort für uns gibt, dann schaffen wir ihn eben, so wie ich mit „andererseits“.
Vor vier Wochen habe ich euch, die „andererseits“-Community gefragt, wie es euch mit der Geschwisterrolle geht. Viele von euch haben mir geschrieben, dass es euch ähnlich geht wie mir. Das macht mich wütend, weil es so nicht sein müsste. Es müsste auch Simones Geschichte so nicht geben. Aber: Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sind unserer Gesellschaft egal. Damit meine ich nicht die Projekte und Initiativen, die versuchen inklusiv zu arbeiten.
Ich meine die Strukturen in unserer Gesellschaft, die so gebaut sind, dass sie für Menschen wie meinen Bruder nicht funktionieren. Und niemand nimmt sich wirklich die Zeit und die Energie, eine Welt zu bauen, die auch für ihn funktioniert. Aber eigentlich gibt es keine Entschuldigung, das nicht zu tun. Deshalb geht es in dieser Folge um zwei von euren Geschichten und um meine. Darum wie wir damit umgehen, dass die Systeme für unsere Geschwister nicht funktionieren. Dass es nicht so sein müsste, aber so ist.
Allermeisten Dinge sind nicht selbstverständlich
Für meinen Bruder Matthias sind die allermeisten Dinge, die für mich normal sind, nicht selbstverständlich. Daher kommt meine Wut. Sie beginnt in den kleinen Sachen: Die meisten Hosen- und Hemdknöpfe kann mein Bruder nicht schließen, weil das wirklich sehr schwierige Bewegungen sind. Jedes Mal, wenn ich ihm dabei helfe, ärgere ich mich. Den Knopfhersteller*innen ist es egal, denke ich dann. Und nur weil es keine praktischeren Knöpfe gibt, braucht er jedes Mal Hilfe.
Wenn ich ihm erkläre, wie er meine neue Wohnung findet, frage ich mich, warum Menschen wie er einfach in den U-Bahn-Plänen vergessen werden. Er kann die Stationen nicht lesen und muss Wege, die er nicht kennt, lange üben. Wenn da einfach Piktogramme, also Bilder, neben den Namen wären, könnte er es viel schneller lernen. Meine Wut reicht von kleinen Alltagsfragen, in denen Matthias einfach vergessen wird, zu den großen, grundsätzlichen: Wo soll Matthias weiterlernen, jetzt wo seine Schulpflicht vorbei ist? Was kann und will er arbeiten? Wo soll er wohnen? Wen wird er lieben, wer wird seine Familie sein?
Es sind viele kleine und große Dinge, die Menschen mit Behinderungen jeden Tag signalisieren, wo ihr Platz in dieser Gesellschaft angeblich sein soll: Kleidung, die ihnen nicht passt. Fernsehprogramme, in denen sie nur an Weihnachten vorkommen. Heime, in denen sie gefährdet sind. Türen, durch die sie nie passen werden. 2019 war die erste Bundestagswahl, bei der alle Menschen mit Behinderungen in Deutschland wählen durften, zuvor waren Personen, die in allen Angelegenheiten vertreten werden, ausgeschlossen.
In Österreich kämpfen Eltern gerade darum, dass ihre behinderten Kinder ein elftes und zwölftes Jahr lernen dürfen. Und überall gibt es immer noch Heime, Barrieren, Sondereinrichtungen. Das schmerzt Menschen mit Behinderung. Das schmerzt aber auch uns Geschwister. Wenn etwas für Matthias ungerecht ist, tut das auch mir weh. Der Großteil der Gesellschaft ignoriert das alles und macht einfach weiter. Wer übrig bleibt, sind wir. Denn für Familien wie meine – und noch viel mehr für jene von Simone und Pia, deren Geschwister viel mehr Unterstützung brauchen, gibt es kaum Systeme, die funktionieren.
Pias Schwester zum Beispiel war einmal in der sogenannten Kurzzeitpflege, einem Angebot, das Familien entlasten soll – sie kam vollkommen dehydriert zurück. Auch Simone erzählt, dass ihre Schwester Paula in der Kurzzeitpflege eine ganze Nacht durchgeschrien hatte und nicht schlafen konnte. Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrem Freund zusammengezogen. „Seit ich ausgezogen bin, habe ich oft Schuldgefühle, dass jetzt mehr Arbeit bei meiner Mutter bleibt“, sagt sie.
Die Hilfe, die die Familie bekommt, passt nicht zu dem, was sie brauchen würde. Zusätzlich zu der Tageswerkstatt, in der Paula den Großteil ihrer Zeit verbringt, hat die Familie „Offene Hilfe“: Betreuungspersonen, die fünf Stunden die Woche ins Haus kommen. „Wir haben Unterstützung, aber es ist nicht einfach jemanden zu finden, den Paula mag.“
Sie lässt sich dann auch einfach nicht helfen. Was ihre Schwester braucht, was ihr guttut, das sind viele kleine Handgriffe, Details, die man wissen muss. Das kann man nicht einfach jemand Fremden machen lassen. Auch deshalb ist die Situation, in der Simone ist so stressig für sie. „Wenn ich ausfalle oder meine Mutter, dann bricht alles zusammen“, sagt sie.
„Es hängt so viel an mir“
Auch Pia, die in der letzen Folge von ihrer Schwester Kimmi erzählt hat, kennt dieses Gefühl. Es hängt so viel an mir, sagt sie. „Mich würde es sehr erleichtern, wenn es noch zumindest eine Person gibt, die einspringen kann. Die sich so auskennt wie wir mit meiner Schwester“, sagt Pia. „Eine oder zwei Personen, nicht jemand, der ständig durchwechselt, nicht fünfmal die Woche fremde Leute im Haus, so dass es kaum mehr eine Privatheit gibt.“
Auch Nicole hat in der letzten Folge von ihrer Schwester erzählt. Sie hat keinen Ort gefunden, der gut genug für ihren Bruder war. Je älter er wird, desto mehr fällt Nicole auf, woran es fehlt: „Er kann nur in den Regelkindergarten, wenn es eine Stützkraft gibt, er kann ab 14 nur in die Schule gehen, wenn die zusagen.“ Überall tauchen Barrieren auf. „Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass es leichter wäre, dass er dieselben Möglichkeiten hat wie alle anderen auch. Aber nicht von ihm ausgehend, sondern vom Umfeld“, sagt Nicole. Vor allem auch, wenn es um einen Job für ihren Bruder geht.
2019 beschließt Nicole, dann ihr eigenes Geschäft aufzumachen – und dort einen Arbeitsplatz für ihn zu schaffen: Er leitet das kleine Café, das dazugehört. Nicole spricht immer wieder in anderen Unternehmen über Inklusion, sie hat dafür auch schon Preise gewonnen. Dabei sollte das was sie macht, ja eigentlich längst selbstverständlich sein: Menschen mit Behinderungen einfach mitmachen lassen.
Simone kann kaum Zeit alleine mit ihren Eltern verbringen. Letztes Jahr war Simone mit ihrer Mutter zu zweit ein Wochenende Schifahren ein Wochenende. „Das war das erste Mal, dass wir zu zweit unterwegs waren“, sagt sie. „Ich habe gemerkt, ich weiß gar nicht wie ich mir ihr sein soll, weil wir eigentlich grundsätzlich damit beschäftigt sind uns um andere zu kümmern, wenn wir Zeit miteinander verbringen.“ Wenn Simone von ihrer Kindheit erzählt, ist da auch viel Schmerz, sie musste mehr übernehmen, als ein Kind übernehmen sollte.
Menschen mit Behinderung werden zu wenig gesehen
Das ist aber nicht bei allen Geschwistern so: „Ich hatte nie das Gefühl, ich komme zu kurz, aber ich merke schon, dass es mich ärgert, wenn Dinge nicht gehen“, sagt Pia. „Meine Eltern wollten mich zum Beispiel in Wien besuchen, aber es gab keinen Pflegeplatz für meine Schwester. Dabei hatten wir uns sechs Monate davor gemeldet.“
Das alles müsste nicht sein. Vor über 15 Jahren haben sich Deutschland und Österreich zu den Rechten von Menschen mit Behinderung bekannt. Es sollte einen Job geben, der zu Nicoles Bruder Lukas passt. Es sollte einen Ort geben, an dem Matthias alleine wohnen kann. Es sollte Pflege geben, die Simones Schwester Paula annehmen kann. Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben.
Wir müssen beginnen dafür zu kämpfen. Solange Menschen mit Behinderungen und ihre Familie so wenig gesehen werden, müssen wir laut werden. Ich glaube, dass es ein Grundrecht auf Freude gibt. Es muss für alle gleichermaßen gelten. Es wird Zeit, das einzufordern.
Weitere Infos zu unserem Kooperationspartner:
„andererseits“ ist ein Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. Bei „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderungen Journalismus – gleichberechtigt, kritisch und fair bezahlt. Freitags verschickt die Redaktion einen Newsletter für alle, die Behinderung verstehen möchten.