Nelly Luna Amancio hat 2014, gemeinsam mit anderen Kolleg*innen in Peru, die investigative Journalistenplattform „Ojo Público“ gegründet. Die 37-Jährige setzt sich für mehr Transparenz in den Medien ein und deckt Geschichten auf in einem Land, in dem Korruption, Machtmissbrauch und Verletzung von Menschenrechten alltäglich sind. Eva Tempelmann hat sie interviewt.
Nelly, du bist Mitgründerin des Journalistennetzwerks „Ojo Público“, zu Deutsch „Im Blickpunkt der Öffentlichkeit“. Was macht ihr anders als traditionelle Medien?
„Ojo Público“ ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Medium. Wir wollen Geschichten aufdecken, die traditionelle Medien ignorieren. Das sind zum Beispiel Themen wie Machtmissbrauch und Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Umweltkonflikte. Wir nehmen Machtstrukturen unter die Lupe und untersuchen, wie Menschen oder Organisationen ihre Macht nutzen und anderen damit schaden. Das können Politiker sein, Unternehmen, aber auch Kirchen und Nichtregierungsorganisationen.
Wo veröffentlicht ihr diese Geschichten?
Die Texte veröffentlichen wir auf unserer Website, manche auch in englischer Sprache. Anders als herkömmliche Medien arbeiten wir rein digital. Das ist hier in Peru nach wie vor eine große Innovation. Die Formate unserer Geschichten sind sehr interaktiv, weil wir mit Zeichner*innen, Illustrator*innen und Programmierer*innen zusammenarbeiten.
Wie entstand die Idee, „Ojo Público“ zu gründen?
Ich habe nach meinem Journalistik-Studium vor 15 Jahren bei der Tageszeitung „El Comercio“ angefangen und mich bald auf Umweltthemen und Menschenrechte spezialisiert. 2014 sollte das Ressort Investigation, in dem ich damals arbeitete, wegen Umstrukturierungen geschlossen werden. Unsere Geschichten seien zu zeitaufwendig und kostspielig, hieß es. Da haben meine drei Kolleg*innen Óscar Castilla, Fabiola Torres und David Hidalgo Vega und ich gemeinsam gekündigt und uns gleich am nächsten Tag getroffen, um „Ojo Público“ den Weg zu bringen, das wir schon im Vorjahr begonnen hatten. Erst hatten wir uns auf den Namen „Trojanisches Pferd“ verständigt, aber der Name „Ojo Público“ erschien uns einfacher, mächtiger und brachte auf den Punkt, worum es uns geht: die Dinge aus einem öffentlichen Interesse unter die Lupe zu nehmen. Wir finden, dass die Gesellschaft ein Recht darauf hat, zu erfahren, was hinter verschlossenen Türen geschieht. Deshalb lautet unser Slogan: „Die Geschichten, die andere dir nicht erzählen wollen.“
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In diesem Jahr wird die Journalistenplattform fünf Jahre alt. Wo steht ihr heute?
Es ist ein besonderes Jahr für uns, weil sich unsere Arbeit und unser Team in den letzten Jahren stark gefestigt haben. Heute arbeiten bei „Ojo Público“ 17 Leute. Wir können mittlerweile davon leben, Geschichten über Themen zu schreiben, die in Redaktionssitzungen traditioneller Medien niemals durchgekommen wären. Ein tolles Gefühl! Wir sind ziemlich stolz auf das, was wir bisher geleistet haben. Für unsere Recherchen haben wir mehrere Preise bekommen, was eine wichtige Anerkennung ist, auch für die unbequemen Themen, über die wir schreiben und die lange Zeit unangetastet blieben. Bei unserem Start vor fünf Jahren waren wir ein Nischenmedium, aber mittlerweile können wir es durchaus mit größeren etablierten Medien aufnehmen.
Wie finanziert ihr euch als unabhängiges Medium?
Zu 90 Prozent über Spenden und Stipendien, für die wir uns bewerben. Außerdem bieten wir Dienstleistungen wie Workshops, Fortbildungen und Beratungen für andere Medien an. Wir werden uns in Kürze an einer Mitgliedschaft mit Bezahlschranken versuchen und hoffen, dass unsere Leser*innen uns darin unterstützen. Gut gemachter Journalismus hat eben auch seinen Preis.
Über welche Themen schreibst du ganz konkret?
Ich arbeite vor allem zu Umweltthemen. Diese hängen in Peru sehr stark mit der Macht von Rohstoffkonzernen zusammen, die in den Anden und im Regenwald im großen Stil Metalle und Erdöl aus der Erde holen und den Regenwald abholzen. Ich schreibe zum Beispiel darüber, wie die massiven Eingriffe in die Natur die Rechte indigener Gemeinschaften beeinträchtigen, die in diesen Regionen leben. Seit letztem Jahr recherchieren wir außerdem verstärkt dazu, wie schlechte Unternehmenspraktiken und das globale Finanzsystem dazu beitragen, illegale Aktivitäten wie den informellen Bergbau oder den Drogenhandel zu legalisieren.
Gab es eine Recherche, die für dich besonders schwierig war?
Was meine persönliche Sicherheit angeht, war das mit Sicherheit die Recherche im Grenzgebiet zu Kolumbien und Brasilien. Dort leben die Tikuna, eine indigene Gemeinschaft, die lange Zeit von den FARC bedroht und gezwungen wurden, Koka anzubauen. Die FARC brannte ihre Häuser nieder und vertrieb sie von ihrem Land. Weil die Region so entlegen ist, gab es kaum Medien, die darüber berichtet haben. Also bin ich mit einer Fotografin dorthin gereist, um über die Tikuna zu berichten. Das war ziemlich heikel, denn als Frau in dieser extrem machistischen, vom Drogenhandel geprägten Region bist du sehr angreifbar. Mehrmals mussten wir vom Militär begleitet werden. Die FARC ist zwar nicht mehr da, aber nun sind es andere Drogenbanden, die die Region in ihrer Hand haben.
Was ist die größte Herausforderung bei deiner Arbeit?
Man könnte denken, dass es die aufwendigen Recherchen sind, aber die größte Herausforderung ist für mich die Frustration der Menschen, die ich in den Anden zum Bergbau befrage. Dort werden die Rechte der Menschen auf Land und sauberes Wasser regelmäßig massiv verletzt. Wir haben immer wieder über die schlechten Unternehmenspraktiken berichtet und sehen, dass sich nichts verändert. Da fragen sich die Menschen zu Recht, warum sie uns eigentlich noch etwas erzählen sollen. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Medien und machen dicht. Ich frage mich oft, wie ich den Menschen Mut machen kann, obwohl ich nicht garantieren kann, dass wir mit unserer Berichterstattung über ein Thema wirklich etwas verändern können.
In den internationalen Medien steht Peru ziemlich gut da. Eine florierende Wirtschaft, ein offener Umgang mit Geflüchteten und Politiker*innen, die wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht gestellt werden. Wie beurteilst du die Lage im Land?
Ich befürchte, da bin ich eher pessimistisch. Ja gut, das Wirtschaftswachstum ist enorm – aber auf wessen Kosten? Und okay, die Liste der Präsidenten, die in den vergangenen 20 Jahren wegen Menschenrechtsverbrechen oder Korruptionsvorwürfen angeklagt wurden, ist lang. Aber zeigt das nicht auch, dass die Korruption omnipräsent ist? Sie reicht bis in die höchsten Justizebenen. Das Gefühl der Straflosigkeit ist allgegenwärtig. Mich persönlich beunruhigt ganz besonders der momentane Rechtsrutsch in Lateinamerika. Die Hälfte der Länder Südamerikas wird von Konservativen regiert und die Brasilianer*innen haben letztes Jahr sogar einen ultrarechten Präsidenten gewählt.
Woher kommt dieser Rechtsrutsch?
Ich denke, die Medien haben einen großen Teil dazu beigetragen, indem sie „die anderen“ – evangelikale Kirchen oder autoritäre Parteien – verteufeln. Da ist eine unbewusste Verachtung in der Gesellschaft aufgrund all dessen, was die Peruaner*innen erlebt haben: den Autoritarismus von Fujimori in den 1980er Jahren, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre, der zehntausende Opfer forderte. Natürlich ist es schwer zu verstehen, wieso immer noch 30 Prozent in der Gesellschaft für die Fujimoris stimmen würden. Aber anstatt einen Dialog zu suchen, isolieren sich die verschiedenen Lager voneinander. Wir aus der Mittelschicht mit unseren Privilegien halten uns ja oft für moralisch besser und denken, wir hätten verstanden, worauf es ankommt. Die anderen nennen wir Ignoranten, aber sie sind nun mal auch Teil unserer Welt. Im Grunde kanalisiert die konservative Fraktion ja nur ihre politischen Vorschläge – und das macht sie zurzeit sehr erfolgreich. Leider passen diese Vorschläge überhaupt nicht mit unserer Vision von einem gleichberechtigten Peru zusammen.
Das klingt ziemlich frustrierend. Gab es schon mal einen Moment, an dem du deine Arbeit an den Nagel hängen wolltest, weil du das Gefühl hast, nichts bewirken zu können, oder weil die Recherchen zu gefährlich sind?
Ja, den gab es schon. Weniger, weil mich die Recherchen an meine Grenzen bringen, sondern mehr, weil unsere Arbeit manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen ist. Vor ein paar Jahren habe ich mich sehr stark nach festen Arbeitszeiten und einem Leben gesehnt, in dem ich mich nicht immer mit diesen schwierigen Themen auseinandersetzen muss. Ich habe so viel Ungerechtigkeit, Gewalt und Zerstörung mitbekommen, dass ich manchmal Angst bekomme, dass so etwas auch meinen Liebsten zustoßen könnte. Ich kam schon an den Punkt, dass ich kurz davor, alles hinzuschmeißen, aber dann kam die Umstrukturierung bei „El Comercio“ und ich konnte eine neue Tür öffnen zu einer Arbeit, die mir unglaublich viel bedeutet. Ich habe noch nie eine so große Freiheit verspürt wie heute. Dass ich mit meinem Team Themen veröffentlichen kann, die uns wichtig erscheinen, ohne dass ein Verlag uns Auflagen und Vorgaben macht, das ist einfach fantastisch.
Wo siehst du dich in der Zukunft? Hast du einen beruflichen Plan für die nächsten Jahre?
Ich würde mich gerne weniger um die vielen organisatorischen Aufgaben kümmern müssen und wieder mehr Zeit zum Schreiben haben. Wir sind zurzeit ständig unterwegs, weil „Ojo Público“ so bekannt geworden ist, sind auf Konferenzen eingeladen, organisieren Veranstaltungen zu den Themen, die uns beschäftigen, unter anderem mit der UNESCO über Fake News, und haben ja auch noch unsere eigenen Workshops zu digitalem Journalismus, Recherchepraktiken und Informationssicherheit laufen. Das alles ist wunderbar, aber mir fehlt die Zeit für meine eigenen Projekte. Langfristig wollen mein Team und ich noch mehr junge engagierte Journalist*innen ins Boot holen, die Geschichten aufdecken, die andere dir nicht erzählen wollen.