Heute veröffentlichen wir den fünften und letzten Text der Geschwister-Serie unseres österreichischen Kooperationspartners „andererseits“. Dabei geht es um Handlungsempfehlungen für Geschwister mit und ohne Behinderung sowie alle anderen, die nicht bereit sind, die Welt so zu akzeptieren wie sie ist.
Von Clara Porak, Wien
Es gibt Tage, da bin ich so müde, dass ich das Gefühl habe, meine Beine könnten mich nicht mehr tragen. Aber nicht weil ich zu wenig schlafe. Meine Müdigkeit liegt tiefer. Sie fühlt sich nicht so an, als würde ich zu viel machen, sondern eher das Falsche. Ich kenne dieses Gefühl mittlerweile schon. Es heißt: Ich habe nicht auf meine Grenzen geachtet. Ich fühle mich als hätte ich alles für alle gemacht. Aber nicht daran gedacht, was ich eigentlich möchte.
Das klingt vielleicht so, als hätte das nichts mit dieser Serie zu tun. Aber es hat alles damit zu tun. Vor drei Monaten habe ich euch, die Community von „andererseits“ gefragt, ob euch das Geschwister sein von jemandem mit Behinderungen auch so beschäftigt wie mich. Über 50 Menschen haben mir geantwortet. Daraus ist diese Serie entstanden.
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Fünfteilige Serie über besondere Geschwisterkinder
Im ersten Teil habe ich erklärt, warum ich diese Texte schreibe. Im zweiten Teil habe ich über die Verantwortung gesprochen, die ich immer schon hatte und haben möchte. Im dritten ging es darum, wo Familien wie meine zu wenig unterstützt werden. Im vierten Teil habe ich Geschwister kennengelernt, die ihre Geschwister schon verloren haben. Für mich geht es aber nicht um diese vier Texte. Es geht darum, dass ich mehr als je zuvor das Gefühl habe: Ich bin nicht alleine mit meiner Wut. Sie ist gut, sie hat einen Platz.
Deshalb kehre ich in diesem, dem letzten Teil, zurück zu dem Gefühl, mit dem ich angefangen habe: Ich stelle fest, dass ich keine Lust mehr habe, die Welt so hinzunehmen, wie sie ist. Ich versuche auszumachen, was das alles jetzt für mich, für mein Leben, vielleicht auch für deines heißt.
Dazu habe ich mit zwei Menschen mit Behinderungen gesprochen, deren Gedanken zu Behinderung und Inklusion ich sehr klug finde: Nikolai, ein Kollege bei „andererseits“ und eine Freundin, die anonym bleiben möchte. Ich nenne sie in diesem Text Aylin. Ich habe auch mit meinem Bruder über das Thema gesprochen, aber er wollte nicht in diesem Text vorkommen. Seine Meinung ist privat, sagt er. Deshalb lest ihr hier von Nikolai und Aylin. Sie hat selbst eine Behinderung und mein Denken zu dem Thema mehr geprägt als alle anderen Menschen.
Beide habe ich gefragt: Was sollen die Geschwister von Menschen mit Behinderungen tun? Wie können wir uns für die Rechte unserer Geschwister einsetzen? Wo sind die Grenzen?
„Die Angehörigen von Menschen mit Behinderungen müssen lernen zu sagen, was sie brauchen“, hat Aylin dazu gesagt. „Auch Menschen ohne Behinderungen müssen sich angewöhnen ihre Grenzen zu spüren, dass das nicht passiert, befördert nämlich Ableismus.“
Was heißt das? Menschen ohne Behinderungen finden oft Räume vor, die zumindest grundsätzlich zu ihnen passen: Sie können Treppen verwenden, sie können U-Bahn Pläne verstehen und Hemdknöpfe schließen. Die Welt funktioniert für sie. Aber auch Menschen ohne Behinderungen haben Bedürfnisse, die sie oft ignorieren, vor allem wenn sie nicht erfüllt werden. Das führt dazu, dass es oft nur Menschen mit Behinderungen sind, die sagen: „Ich kann diese Stiege nicht verwenden, ich verstehe das Wort nicht, der Tag ist zu anstrengend.“
Wir alle haben Bedürfnisse
So sagen oft nur Menschen mit Behinderungen: Ich brauche etwas. Das liegt daran, dass wenn sie das nicht tun, ihre ganz grundlegenden Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Aber wir alle brauchen etwas. Deshalb hasst Aylin auch den Ausdruck „besondere Bedürfnisse“. „Ich will keinen Dino essen, ich will aufs Klo,“ sagt sie dann immer.
„Wenn Menschen ohne Behinderungen sich das eingestehen, zeigt das: Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sind nicht besonders“, sagt Aylin. Wenn alle ihre Bedürfnisse benennen würden, wäre es ganz normal zu fragen: „Was brauchst du, um dich hier wohlzufühlen? Was tut dir heute gut?“ Und es wären dann auch nicht immer nur Menschen mit Behinderungen, die sagen: ‚Ich brauche Unterstützung.‘ Es wäre ganz normal, sich Räume zu schaffen, wie man sie braucht.
Nein sagen fällt schwer
Als Schwester habe ich auch gelernt, dass es Dinge gibt, die ich zum Funktionieren bringen muss, dass es gut ist, viel, alles, zu viel zu geben, damit Sachen funktionieren. Das mache ich bis heute immer wieder. Ich sage zu oft ja. Ich übernehme mich. Ich schaffe es nicht, nein zu sagen. Das hat sehr wenig mit meinem Bruder oder meiner Familie zu tun und sehr viel mit der Gesellschaft, in der wir leben. Dass Menschen mit Behinderungen ständig auf ihre Bedürfnisse reduziert werden und ich meine nicht sehe, ist Teil desselben Systems.
Es sind zwei Seiten desselben Problems: Wir reduzieren uns ständig darauf, was wir schaffen und können und denken viel zu selten darüber nach, wer wir sind.
Mein Gespräch mit Nikolai dazu war sehr anders, aber wir kamen zu einem Ergebnis, das fast ähnlich war. Ich habe zu Nikolai gesagt: „Es ist schwer auszuhalten, dass Dinge für mich gehen, aber für andere nicht.“ „Ja“, hat Nikolai gesagt. „Ich denke, dass du ruhig bleiben solltest, weil es ist nun mal so, dass dein Bruder eine Behinderung hat, damit muss man klarkommen.“ Er kommt ja auch klar. Ich nicke.
Nikolai ist „andererseits“-Redakteur, er hat eine intellektuelle Behinderung und ist ein sehr kluger Mensch. Ich lerne viel von ihm, wenn es um Inklusion und Behinderung geht. Von ihm wollte ich wissen: Was wünscht du dir von Geschwistern? „Geschwister sollen Menschen mit Behinderungen unterstützen“, sagt Nikolai. „Aber sie sollten sich nicht einmischen. Wenn es um mein Leben geht, dann möchte ich auch, dass meine Meinung zählt.“
Den Platz nehmen, der einem zusteht
Auch beim Reden über Inklusion findet Nikolai, dass wir Geschwister unterstützen, aber nicht nur unsere eigene Meinung sagen sollen. Auch Aylin sieht das ähnlich: „Ich glaube, es ist wichtig, auf die Barrieren, die man im Alltag erfährt, aufmerksam zu machen.“ Dass das zu viel werden kann, glaubt Aylin auch. Aber: „Es ist eher schädlich, sich den Platz in der Öffentlichkeit nicht zu nehmen, als ihn sich zu nehmen.“
„Ich wünsche mir einen Zusammenschluss“, sagt Aylin. „Dass wir Menschen mit Behinderungen nicht alleine gelassen werden, dass die Gesellschaft wirklich beginnt, auf uns zu schauen.“ Was Aylin damit meint: Menschen mit Behinderungen werden oft als kleine Randgruppe gesehen, die sich etwas wünscht. Dabei geht es eigentlich um ihre Menschenrechte. Besonders klar hat das die Behindertenrechtsbewegung in den USA gemacht.
Aktivist*innen, unter anderem Judith Heumann, die vor kurzer Zeit verstorben ist, besetzten 1977 ein Regierungsgebäude in Florida. Diese Geschichte wurde auch verfilmt und ist auf YouTube zugänglich. Der Protest dauerte viele Tage und ebnete den Weg für den „Disability Rights Act“, der 1990 in Kraft trat. Dieses Gesetz sagt Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Teilhabe zu und stellt fest: Dieses Recht ist Menschenrecht. Und: Wenn Menschenrechte für eine Gruppe nicht gelten, stellt das ihre Gültigkeit für alle in Frage.
Deshalb empfinde ich es wie Aylin. Ich bemerke, dass die Räume, die ich betreten kann, nicht alle betreten können. Ich werde daran jeden Tag erinnert, ich will es auch nicht vergessen. Das macht mich wütend. Aber mehr noch: es verletzt mich. Es verletzt mich, dass ich nicht einfach mitmachen darf, weil ich ein Mensch bin. Weil es ja mein Recht wäre. Sondern nur, weil ich bestimmte Eigenschaften habe.
Ich glaube eigentlich, das verletzt uns alle. Ich glaube, dass es deshalb wichtig ist, wütend zu sein und zu fragen: Wie könnt ihr es wagen, weiter Türen zu bauen, die nur zu euch passen? Diese Frage gilt für mich selbst, aber auch für alle, denen ich begegne. Nur weil etwas immer so war, heißt das nicht, dass es so bleiben muss. Ich glaube: Menschen, die Privilegien haben, die also oft wo mitmachen können, müssen aufhören, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Sie sollten stattdessen fragen, wie sie sein könnten.
Denn wir haben ein Recht auf Räume, die zu uns passen. Aber für dieses Recht müssen wir immer weiter kämpfen. Wenn es etwas gibt, das mir diese Serie gezeigt hat, dann das: Ich kann, ich darf, ich muss wütender werden.
Weitere Infos zu unserem Kooperationspartner:
„andererseits“ ist ein Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. Bei „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderungen Journalismus – gleichberechtigt, kritisch und fair bezahlt. Freitags verschickt die Redaktion einen Newsletter für alle, die Behinderung verstehen möchten. Im Juli 2023 hat die Redaktion einen Film darüber veröffentlicht, wie der Katastrophenschutz für Menschen mit Behinderung versagt (am Beispiel Ahrtal): https://youtu.be/DHJ2CHSBzXw