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Unberührbar und unbestechlich
Indische Reporterinnen kämpfen für Gerechtigkeit

19. Mai 2021 | Von Angelika Knop
Berichterstattung per Smartphone für YouTube, Suneeta Prajapati als Reporterin im Einsatz (rechts). Fotos: DOK.fest München

Vergewaltigung, illegale Minen, fehlende Toiletten und faule Wahlkampfversprechen – die Journalistinnen von „Khabar Lahariya“ decken auf, wo andere wegsehen. Dabei gelten die Dalit-Frauen im Bundesstaat Uttar Pradesh als „unberührbar“ im Kastenwesen. Der Dokumentarfilm „Writing with Fire“ zeigt, wie sie sich dennoch Respekt verschaffen.

Von Angelika Knop, München

Suneeta Prajapati ist die einzige Frau bei der Pressekonferenz in der ländlichen Polizeistation. Sie filmt mit dem Smartphone und fragt hartnäckig nach: Schon wieder wurde ein Arbeiter bei der Explosion in einer Mine getötet. Warum hat die Familie die Beschwerde zurückgezogen? Die männlichen Reporter nicken eifrig und lächeln freundlich, als der Polizist erklärt, selbstverständlich werde alles untersucht. Einer von ihnen meldet sich zu Wort. Diese Berichterstattung, so meint er, konzentriere sich zu sehr aufs Negative. Das sende ein falsches Signal. Und draußen vor dem Gebäude erklärt später ein anderer Kollege der jungen Reporterin: Du musst den Polizeibeamten mehr loben, bevor du kritische Fragen stellst. „Von euch bekommt er doch Lob genug“, kontert sie.

Auch die Minenarbeiter diskutieren mit Suneeta Prajapati. Sie wollen ihre Geschichte auf der Titelseite sehen. Und als die Journalistin das nicht sofort zusagt, werfen die Männer ihr vor, dass sie wohl eine Bestechung dafür will. Doch sie erklärt ihnen, dass auf die Titelseite oder ins Video kommt, was Nachrichtenwert hat – nicht, wofür bezahlt wird. Gründliche Recherche und unabhängige Berichterstattung – dafür steht „Khabar Lahariya“, das einzige Nachrichtenmedium Indiens, das ausschließlich von Frauen gemacht wird. Den YouTube-Kanal der Zeitung aus dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh haben mehr als 500.000 Menschen abonniert. Einige Videos verzeichnen mehrere Millionen Aufrufe.

 

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Der Dokumentarfilm „Writing with Fire“ zeigt drei der rund 30 Redakteurinnen bei der Arbeit: Suneeta, Meera und Shyamkali. Im Film erfahren wir nur ihre Vornamen. Ihre Nachnamen haben sie im Alltag abgelegt, denn die bezeichnen deutlich ihre Stellung im Kastenwesen. Das ist in Indien zwar offiziell abgeschafft, aber in einigen Gegenden immer noch sehr präsent. Viele Journalistinnen bei Khabar Lahariya – auch die drei Protagonistinnen – sind Dalit. Sie stehen unterhalb der anderen vier Kasten, gelten als „unrein“.

Meist leben sie in eigenen Vierteln, dürfen nicht einmal dieselben Wasserpumpen benutzen wie die anderen Dorfbewohner*innen. Und wenn sie misshandelt oder sogar getötet werden, haben Polizei und andere Medien daran wenig Interesse. Suneeta aber hält die blutüberströmte Leiche einer jungen Frau auf Video fest, die mit der Axt erschlagen wurde. „Es müssen viele Männer gewesen sein“, sagt eine Dorfbewohnerin. Gruppenvergewaltigung ist ein Thema, über das Suneeta und ihre Kolleginnen oft berichten müssen.

Als Reporterin allein unter Männern – Suneeta Prajapatis Arbeitsalltag.

Fünf Jahre lang hat Rintu Thomas mit ihrem Kollegen und Kameramann Ghosh Sushmit von „Black Ticket Films“ die Reporterinnen im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh begleitet. Eigentlich sollten die Dreharbeiten nur zwei Jahre dauern, verzögerten sich aber – auch, weil das Geld mühsam aufzubringen war. „Wir waren fasziniert davon, wie diese Frauen sich den Raum zurückerobern, den ihnen die Gesellschaft verwehrt“, sagt Rintu Thomas, „und glaubten an die Kraft dieser Geschichte und die Stärke unserer Protagonistinnen, die überall ihr Publikum finden würden.“ Beim renommierten „Sundance Festival“ in den USA gewann die Doku zwei Preise. Sie lief und läuft auf Festivals weltweit, so auch noch bis zum 23. Mai 2021 beim DOK.fest in München – und zwar online, wie so oft in Pandemiezeiten.

Gesellschaftliche und digitale Revolution

„Khabar Lahariya“ geht immer wieder neue Wege. „Außer ihnen gibt es keine anderen Reporterinnen in ganz Uttar Pradesh“, erklärt Rintu Thomas. „Journalistinnen arbeiten dort sonst nur in der Redaktion. Oder sie kümmern sich um Mode, Unterhaltung, sogenannte „softe“ Themen. So wie sie live über Politik berichten, das ist absolut einzigartig. Ihr ganzes Produktionssystem hat eine feministische Perspektive.“ Ein zentrales Thema des Films ist, wie sie die 2002 gegründete Zeitung ab 2015 in ein digitales Medium verwandeln.

Es sind Frauen, die sich vorher oft nicht einmal trauten, das Familienhandy zu benutzen, um es nicht kaputt zu machen. Heute gehen sie damit live auf Sendung im Netz – auch wenn sie daheim manchmal keinen Strom haben, um den Akku aufzuladen. Sie kritisieren sich gegenseitig, feilen an den Berichten und geben die Devise aus: Unsere Beiträge müssen noch nuancierter werden. Es reicht nicht, einfach nur die Regierung zu kritisieren. „Jahrhundertelang wurden sie zum Schweigen gebracht“, so Rintu Thomas. „Endlich haben sie ihre eigenes Narrativ – und dessen sind sie sich bewusst. Das gibt ihnen den Mut, jeden Tag weiterzumachen.“

Dabei kämpfen sie manchmal auch gegen ihre eigenen Familien, ihre Väter und Ehemänner, die ihnen den Lohn und Erfolg neiden und das Gerede im Dorf fürchten. „Wir wollen als Journalistinnen auch die Gesellschaft verändern“, erklärt Chefreporterin Meera. Wenn es die Bürokratie verlangt, nutzt sie den Nachnamen Devi, was wörtlich übersetzt „Göttin“ heißt, sich aber als „kastenloser“ Nachname etabliert hat. Doch der gesellschaftliche Wandel klappt auch in den eigenen Reihen nicht immer.

Reporterinnen Meera Devi (rechts) und Suneeta Prajapati (2. von rechts) geben Frauen eine Stimme.

Für Chefreporterin Meera und die Zusehenden ist es schmerzlich zu erfahren, das ausgerechnet Suneeta die Redaktion verlässt. Selbstbewusst und professionell hat sie sich im Film als Reporterin behauptet. Nur einmal – in der Szene mit der erschlagenen Frau – hat sie mutlos gesagt: „Manchmal glaube ich, es ist eine Sünde als Frau geboren zu sein. Erst wird ihr das Gefühl gegeben, eine Last für ihre Eltern zu sein. Dann wird sie die Sklavin ihres Ehemannes.“ Gegen Ende der Doku beugt sie selber sich dem Willen der Familie, heiratet und gibt ihren Job auf.

Für „Khabar Lahariya“ geht der Erfolg weiter. Die Redaktion will sogar expandieren in andere Bundesstaaten, wenn es die Pandemie wieder zulässt. Den Film haben die Reporterinnen bei einer Vorpremiere im kleinen Kreis gefeiert, als die Inzidenzen niedriger und die Regeln etwas gelockert waren, berichtet Rintu Thomas. Sie hätten applaudiert und gejubelt. Das Credo: „Ihr habt einen Moment in der Geschichte unserer Organisation eingefangen und in der Geschichte unseres Landes. Wir lieben es, dass die Welt diesen Film sieht.“ Ende 2021 soll er auch auf Festivals in Indien laufen.

 

Die Geschichte von „Khabar Lahariya“:

Indiens einziger von Frauen geführter ländlicher Medienkanal entstand im Zuge eines Regierungsprogramms in den 1990er Jahren. Kurse gaben Frauen Zugang zu Bildung, brachten ihnen Lesen und Schreiben bei. Doch als die Kurse vorbei waren, gab es kaum Lesestoff in ihren Sprachen, um weiter zu üben. Mithilfe einer Nichtregierungsorganisation bildeten sie sich fort, begannen für sich und ihre Community zu berichten – in einer kleinen, vierseitigen Ausgabe. 2002, einige Jahre nach Ende dieses Projektes, gründeten sieben Frauen „Khabar Lahariya“. Heute betreiben sie einen hyperlokalen, Video-first Nachrichtenkanal und haben mehr als 800 andere Frauen in Journalismus ausgebildet. Die Website wird in Delhi gemacht, aber die Reporterinnen kommen noch immer überwiegend aus Randgruppen der Gesellschaft und berichten aus ländlichen, oft entlegenen und armen Gebieten in Uttar Pradesh und Madya Pradesh. „Khabar Lahariya“ finanziert sich durch Anzeigen, Abonnements und Aufträge für andere Medien.

 

Autorin Angelika Knop hat auch ein ausführliches Interview mit den Filmemacher*innen (auf Englisch) geführt.

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Von Angelika Knop, München

Angelika Knop berichtet als freie Journalistin in Text, Audio und Video über Themen rund um Medien, Recht, Gerechtigkeit und Genderfragen. Außerdem lehrt sie Storytelling, digitalen Journalismus und Medienrecht, moderiert Diskussionen und Tagungen. Sie hat die Deutsche Journalistenschule absolviert und in München sowie Norwich (UK) Journalistik, Politik und Recht studiert.

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