Nach fünf Jahrzehnten Militärdiktatur liegt Myanmars Gesundheitssystem am Boden. Daran schwer zu tragen haben auch schwangere Frauen. Das Land ist einer der schlechtesten Orte auf der Welt, um Mutter zu werden.
Von Verena Hölzl, Yangon
Im Flussdelta des Ayeyarwady hat sich die Nachbarin mit einer Kopflampe gerüstet, um Suu Moon Aye über einen wackeligen Steg auf das von deutschen Hilfsgeldern finanzierte Ärzteschiff zu bringen, das einmal im Monat nahe ihrem Dorf anlegt. Suu Moon Aye ist im fünften Monat schwanger. Der Bauch der 21-Jährigen wölbt sich unter dem traditionellen Wickelrock. Es ist schon finster. „Ultraschall brauchen wir nicht“, sagt der burmesische Doktor während er die Herztöne des Babys abhört. „Es scheint ja alles in Ordnung zu sein.“ Die werdende Mutter hat an diesem Abend zum ersten Mal in ihrer Schwangerschaft einen Arzt gesehen. Damit ist sie kein Einzelfall.
Fünf Jahrzehnte lang war Myanmar von einer Militärregierung unterjocht und vom Rest der Welt isoliert. Das ging nicht spurlos am Gesundheitssystem vorüber. Für die Weltgesundheitsorganisation ist das Land – nach Sierra Leone – der Ort mit der weltweit schlechtesten Gesundheitsversorgung. Kein Wunder: Magere sechseinhalb Prozent des Haushaltsbudgets investierte die burmesische Regierung 2014 in die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Das Militär wurde mit knapp 30 Prozent bedacht.
Das Kinderhilfswerk Save the Children platzierte Myanmar in einem aktuellen Report zur Müttergesundheit in 179 Ländern auf den 158. Platz. Das Land schneidet damit schlechter ab als Länder wie Laos, Kambodscha oder Bangladesch. So ist es in Myanmar 31 mal wahrscheinlicher an den Folgen einer Schwangerschaft zu sterben als in Norwegen.
„Das Gesundheitssystem ist seit Jahrzehnten heillos unterfinanziert“, erklärt Alyssa Davis. Sie ist technische Gesundheitsberaterin bei Save the Children. Seit Jahren beschäftigt sich die 32-Jährige mit dem Zustand der medizinischen Versorgung in Südostasien. Gesunde und abwechslungsreiche Ernährung ist für einen großen Teil der Bevölkerung in Myanmar unerschwinglich – oder es fehlt schlichtweg das Bewusstsein dafür. Vor allem der hohe Reiskonsum führt zu Vitamin-Mangel und Diabetes. Außerdem fehlt es an gut ausgebildetem medizinischen Personal.
Eine burmesische Hebamme muss zwar ein zwei Jahre dauerndes Training absolvieren. „Das heißt allerdings nicht, dass sie alles, was sie theoretisch weiß, auch praktisch umsetzen kann“, sagt Davis. Denn in vielen Fällen mangele es am medizinischen Equipment.
Der Weg zu Hebamme Hla Hla Nwe führt über eine wackelige Eisenbrücke. Die 38-Jährige gilt bei den Bewohnern der umliegenden Dörfer im Delta als Vertrauensperson. Sie ist die einzige professionelle Geburtshelferin im Umkreis von einer Stunde. Zwei Mal pro Woche berät sie Schwangere in einem kleinen Gemäuer, das an ein deutsches Dorf-Feuerwehrhaus erinnert und vor zehn Jahren von der UN erbaut wurde. 2008 wurde das Ayeryarwady-Delta vom Zyklon Nargis schwer verwüstet und hat seither viel Entwicklungshilfe aus dem Ausland erfahren.
Hla Hla Nwe sagt: „Wenn ich es einmal nicht zu einer Geburt schaffe, dann gibt es ja noch die Hilfshebammen.“ Und irgendwie sei ja alles auch Schicksal. Obwohl die Rate für Kindersterblichkeit nicht mehr so hoch ist wie früher, ist es nach wie vor burmesische Tradition, Neugeborenen erst nach einem Monat einen Namen zu geben. Vor allem auf dem Land sind Hebammen im Gesundheitssystem diejenigen, die der Bevölkerung am Nächsten sind. Schriftliche Rückmeldung an die Krankenhäuser geben, Vorsorgeimpfungen durchführen und vieles mehr zählt zu ihren Aufgaben. „Viele Hebammen sind überlastet“, sagt Alyssa Davis.
Myanmar wandelt sich in rasanter Geschwindigkeit – und hat massiven Nachholbedarf. Die neue Regierung hat die Investitionen in das Gesundheitssystem erhöht, vor zehn Jahren lagen sie noch bei 0,5 Prozent. Davis zufolge hilft das jedoch wenig: „Das Doppelte von Null ist immer noch Null.“
Gleichzeitig führt mehr Geld nicht zwangsläufig zu einer verbesserten Lage. Eine detaillierte Analyse der Situation ist notwendig, aber die ist schwer zu bekommen. „Bis vor kurzem war es so, dass du am besten sehr schnell mitgeschrieben hast, wenn du hier bei Präsentationen irgendwelche Zahlen zu Gesicht bekommen hast. Denn es war klar, dass die Daten wahrscheinlich nie irgendwo veröffentlicht werden würden“, erklärt Davis. Verlässliches Datenmaterial stellte in Myanmar lange Zeit ein Problem dar.
Mit der Volkszählung im vergangenen Jahr hat sich vieles verbessert. Bis die Daten allerdings verarbeitet und analysiert sind und daraus Empfehlungen abgeleitet werden, wird noch viel Zeit vergehen. Solange werden diejenigen, die es sich leisten können, ihre Heimat im Krankheitsfall weiterhin Richtung Ausland verlassen. Die 21-jährige Suu Moon Aye gehört nicht dazu.
Weiterführende Links zum Thema:
Report von Save the Children: http://www.savethechildren.org/atf/cf/%7B9def2ebe-10ae-432c-9bd0-df91d2eba74a%7D/SOWM_2015.PDF
Statistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO: http://www.who.int/gho/countries/mmr.pdf
Drei Tage lang fuhr ich auf dem Ärzteschiff durchs Ayeyarwaddy-Delta mit. Ich hatte Klagen und Leid erwartet – und bin auf eine Menge Gleichmut gestoßen: Eine 24-Stunden-Geburt ohne Hebamme? So sei das nun einmal schon immer gewesen. Die Menschen, die ich getroffen habe, nehmen das Leben hin, wie es kommt. Es hat nicht lange gedauert, bis ich mir meiner westlich geprägten Vorstellung bewusst wurde. Wieso sollten Menschen sich beklagen, wenn sie es doch nicht anders kennen? Als ich mich an diese Erkenntnis gewöhnt hatte, schmeckte mir plötzlich auch das Hühnchen besser, dass jeden Morgen am Holzboden der Bordküche geschlachtet wurde.