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Ukraine – erwache!
Die Freiwilligenbewegung in der Ukraine

5. April 2015 | Von Pauline Tillmann
Olga Leonova liefert Essen an die ukrainisch-russische Grenze. Fotos: Pauline Tillmann

Die Demonstrationen auf dem Maidan haben die Menschen in der Ukraine aufgerüttelt. Hinzu kommt der Krieg in der Ostukraine. Genau diese Gemengelage hat dazu geführt, dass in dem postsowjetischen Land nun so etwas wie eine Zivilgesellschaft entsteht. Getragen wird diese Zivilgesellschaft nicht zuletzt von starken Frauen. Wir haben einige von ihnen in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, getroffen.  

Von Pauline Tillmann, Charkiw

Das Militärkrankenhaus in Charkiw liegt in der Uliza Kultura, nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt. Die Leiterin der Freiwilligen, Jarina Tschagowetz, steht mitten in einem 30 Quadratmeter großen Raum: Aus den Regalen quellen T-Shirts, Pullover, Hosen und Jacken hervor. Sie sagt: „Wir ziehen die Verwundeten an, füttern sie… natürlich gibt ihnen das Krankenhaus zu essen, aber wir bereiten ihnen – wie ich das nenne – ein „süßes Leben“. Sie kommen hierher, um Kaffee zu trinken, Kekse zu essen und vor allem um zu reden. Alles was sie brauchen, angefangen von Unterhosen bis hin zu Uniformen, besorgen wir ihnen dank Spenden der Charkiwer Bevölkerung.“

Jarina Tschagowetz leitet die Freiwilligen im Charkiwer Militärkrankenhaus.
Jarina Tschagowetz leitet die Freiwilligen im Charkiwer Militärkrankenhaus.

Neben der 35-jährigen Jarina packen heute noch Oksana, Lena und Kostja mit an. Sie stopfen Sachen für Soldaten, die gerade eben eingeliefert wurden, in eine Plastiktüte. Die 450 Betten im Krankenhaus reichen kaum aus. Ständig kommen neue Verletzte hinzu. Nicht selten sind darunter auch welche mit Erfrierungen. Viele sind traumatisiert, denn sie wurden gefangen genommen, manche wurden sogar gefoltert.

In Charkiw werden die Verletzten in der Regel erstversorgt. Das Krankenhaus liegt in unmittelbarer Nähe zur Frontlinie. Nur 200 Kilometer entfernt kämpft die ukrainische Armee Seite an Seite mit Freiwilligenbataillonen gegen die pro-russischen Rebellen. Weitere Militärkrankenhäuser gibt es in Kiew, Odessa, Dnipropetrowsk und Lwiw. Auch der Mann von Jarina Tschagowetz befindet sich an der Front.

Doch darüber nachdenken, will sie nicht. Nur wenn sie allein hinter dem Steuer sitze und nicht abgelenkt werde, breche sie regelmäßig in Tränen aus, erzählt sie. Sie haben ausgemacht, dass er ihr jeden Abend eine SMS mit einem Code-Wort schickt – damit sie weiß, dass er noch am Leben ist. Bislang kam die SMS immer an. Das, was alle im Kampf vereint, ist die Überzeugung, die Ukraine beschützen und den „Feind“ – also die pro-russischen Rebellen – vertreiben zu müssen.

Regale im Militärkrankenhaus.
Regale im Militärkrankenhaus.

Jarina erklärt: „Hier gibt es Menschen, die bereit sind, das Letzte zu geben. Ich habe zum Beispiel alles aus meinem Hausstand hinausgeschafft – von warmen Sachen über Bettdecken bis hin zu Kissen – zuerst auf den Maidan und jetzt hierher, damit die Jungs alles haben, was sie brauchen. Und so geht es vielen: Viele sind bereit, ihr letztes Hemd zu geben, nur damit wir möglichst bald siegen.“

Eine Geschäftsfrau wacht auf und packt an

So sieht das auch Olga Leonova. Die Geschäftsfrau betreibt in Charkiw eine Konditorei und das Restaurant „KoKAWA“. Sie fühlt sich für ihre 150 Mitarbeiter verantwortlich – und auch für die unzähligen Kämpfer, die tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzen. Von Charkiw aus sind es nur 35 Kilometer bis zur russischen Grenze. Diese Grenze sichern Kämpfer, die Olga Leonova zwei Mal in der Woche mit einer warmen Mahlzeit versorgt.

„Von Mai bis Oktober 2014 haben wir sogar täglich Essen ausgefahren, weil wir gedacht haben, das Ganze wäre nach wenigen Wochen erledigt“, erinnert sie sich. „Erledigt“ hat sich der Krieg in der Ostukraine bislang bekanntlich nicht. Das Schlüsselerlebnis für ihr Engagement war der Maidan im Dezember 2013, sagt die erfolgreiche Geschäftsfrau. Als sie daran zurückdenkt, kommen ihr die Tränen.

„Eines Tages bin ich aufgewacht“, erzählt sie, „und habe erkannt, dass mich der liebe Gott für etwas Anderes bestimmt hat. Ich habe eine Mission zu erfüllen.“ Diese Mission sei nichts Geringeres, als eine neue Gesellschaft zu errichten. Kraft dazu gebe ihr der orthodoxe Glaube. Ihr Fazit nach einem Jahr Krieg: „Du wirst so viel stärker, wenn du anderen hilfst, weil du dann erst dein unerschöpfliches Potenzial entdeckst.“

Seit Dezember 2014 geht der komplette Gewinn, den sie mit Konditorei und Restaurant erwirtschaftet, in die Versorgung der ukrainischen Soldaten und Freiwilligenbataillone. Denn Olga Leonova ist fest davon überzeugt, dass die russische Armee eine Invasion starten werde, wenn die Grenze nicht bestmöglich gesichert ist. Deshalb sei es eminent wichtig, den Widerstand aufrechtzuerhalten – egal wie lange der Krieg noch andauert.

Etwa fünf Prozent der Bevölkerung engagieren sich

Jarina Tschagowetz und Olga Leonova sind zwei Frauen, die stellvertretend für eine ganze Bewegung stehen. Man spricht in der Ukraine von einer Freiwilligenbewegung, die im Zuge des Maidan ihren Anfang genommen hat und nun in den Aufbau einer Zivilgesellschaft mündet. Seit Februar 2014 gibt es in Charkiw auch ein „Zivilforum“, das sich als Plattform versteht, um unterschiedliche Initiativen zusammenzubringen. Natalia Kurdinkowa koordiniert das Medienzentrum des Zivilforums und sagt: „Die Ukrainer haben begriffen, sie können real etwas verändern – die Zukunft ihres Landes hängt jetzt von jedem Einzelnen ab.“

Natalia Kurdinkowa (links) kümmert sich im Zivilforum um die Medienarbeit.
Natalia Kurdinkowa (links) kümmert sich im Zivilforum um die Medienarbeit.

Angesprochen fühlt sich bislang aber nur eine Minderheit. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung, meint Natalia. Die anderen sitzen in schicken Cafés und Restaurant. Im Land herrscht Krise, aber in Charkiw merkt man das nicht. Die Leute wollen sich nicht mit dem Krieg vor der Haustür beschäftigen, meint Natalia. Sie ist bereits zufrieden, mit denen, die etwas tun. „Fünf Prozent mag nicht viel sein, aber für uns ist das eine Menge – denn damit lässt sich schon eine ganze Menge bewegen!“

Zum Beispiel kümmern sich viele Freiwillige um die Binnenflüchtlinge. Die Rede ist von etwa 1,8 Millionen Binnenflüchtlingen, die ihre Heimat in Donezk und Luhansk verlassen haben und nun anderswo Unterschlupf finden müssen. Etwa ein Drittel ist zu Verwandten nach Russland geflohen, gut eine Million Menschen befinden sich noch immer auf ukrainischem Territorium. Da Charkiw die nächstgrößere Stadt ist, suchen dort viele Zuflucht.

Viele Freiwillige kümmern sich um die Binnenflüchtlinge

„Gerade in diesem Bereich braucht man akute Hilfe“, sagt Natalia Kurdinkowa, „da die Regierung aber sehr langsam arbeitet, haben das die Menschen inzwischen komplett selber in die Hand genommen.“ Sicher ist, dass es zu einer humanitären Katastrophe gekommen wäre, wenn sich die Ukrainer nicht derartig solidarisieren würden.

Viele Aktivisten sind bereit, Verantwortung zu tragen und ihren Beitrag zum Aufbau einer neuer Gesellschaft zu leisten. Und dass gerade die Charkiwer so aktiv sind, ist überraschend. Schließlich galt die Stadt traditionell als pro-russisch. Viele Einwohner haben Verwandte in Russland und fühlen sich der früheren Sowjetunion näher als der Europäischen Union – ganz anders als in Kiew oder Lemberg.

Geschäftsfrau Olga Leonova sagt: „Diese Zeit ist bemerkenswert – schwierig – aber bemerkenswert, weil wir alle von dem Dreck gereinigt werden, der sich in den vergangenen 24 Jahren angesammelt hat.“ Vor allem durch die Orangene Revolution im Winter 2004 habe man gelernt, dass man sich nicht erlauben könne, einen Regierungswechsel herbeizuführen – und dann wieder die Hände in den Schoß zu legen und zu warten.

Stattdessen habe man begriffen: Das Volk ist der Souverän. Und Olga Leonova ist, trotz vieler Tränen und Blutvergießen, davon überzeugt, dass die Ukraine gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird, denn: „Uns trägt die Hoffnung und unsere vielen Pläne für die Zukunft. Die Liebe und das Gute werden immer siegen.“

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Von Pauline Tillmann, Konstanz

Pauline Tillmann ist Gründerin und Chefredakteurin von DEINE KORRESPONDENTIN. 2011 bis 2015 war sie freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg und hat für den ARD Hörfunk über Russland / Ukraine berichtet. Zuvor hat sie beim Bayerischen Rundfunk volontiert. Pauline ist regelmäßig als Coachin, Beraterin und Speakerin im Einsatz. 2022 erschien ihr Buch „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“, außerdem hat sie das Buch „Frauen, die die Welt verändern“ herausgegeben. Mehr unter: http://www.pauline-tillmann.de.

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