Kinder mit geistiger Behinderung werden in Somalia von der Gesellschaft ausgegrenzt. Sie leben im Verborgenen, oftmals versteckt in einem Keller. Tusmo Ali, Mutter einer behinderten Tochter, hat die Nichtregierungsorganisation „Mango&friends“ und die Schule „Mango School“ gegründet, um die Lebensbedingungen der Betroffenen zu verbessern.
Von Sabrina Proske, Lasanod, Nordsomalia
Es war noch dunkel, als Tusmo Ali am 5. März das Flugzeug von London nach Lasanod in Ostafrika bestieg. Die Ereignisse der vorangegangenen Tage hatten sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Babystation des General Hospitals in Lasanod war zum Schauplatz bewaffneter Gefechte geworden. Frauen, die gerade erst ein Baby zur Welt gebracht hatten, mussten evakuiert werden. Sie wurden auf die Straße gebracht, mitten in den Krieg.
„Das ist das Unmenschlichste! Wie kann man nur ein Krankenhaus bombardieren?“ fragt Ali. Sie trifft eine Entscheidung: Sie musste jetzt den Schüler*innen aus ihrer Organisation „Mango&friends“ beistehen und helfen, sie aus der Stadt zu bringen. „Denen hilft niemand. Sie können sich nicht selbst retten.“ Als sie in Somalia ankommt, hatte sich die Situation noch weiter zugespitzt. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie tote Menschen gesehen habe. Nur wenige Orte waren sicher. Soldaten und Kämpfer lieferten sich am Boden Gefechte. An ihrem Kopf seien Kugeln vorbeigeflogen, und sie wusste nicht ob sie die nächste treffe.
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Kinder mit Behinderung saßen fest
Viele Familien hatten bereits die Stadt verlassen, aber Kinder mit Behinderung konnten nicht weglaufen. Sie saßen fest. Tusmo Ali machte sich also auf die Suche nach ihnen. Die meisten hatten sich in den Kellern ihrer Häuser verschanzt. „Viele trauten sich gar nicht raus. Teilweise saßen sie schon tagelang ohne Essen dort unten.“ Ali musste die Familien überzeugen, dass sie die Stadt verlassen sollen. Busse wurden besorgt und umgebaut, um die Schüler*innen liegend transportieren zu können.
Die meisten Rollstühle – teures und sehr wertvolles Gut für die Familien – blieben in Lasanod, weil es schlicht nicht genug Platz für sie gab. Die Busse fuhren zu den umliegenden Dörfern, die alle maximal sechs Autostunden entfernt lagen. „Diese Kinder können nicht lange reisen. Die Städte dürfen nicht zu weit weg sein. Aber trotzdem so weit, dass sie in Sicherheit sind“, erklärt Tusmo Ali.
Vor einem Jahr fing es an mit den Unruhen
Weltweit gibt es derzeit – laut Global Peace Index – 27 Kriegsgebiete, zehn davon allein in Afrika. Einige Konflikte dauern bereits viele Jahre, wie zum Beispiel in Somalia, einer Region ganz im Osten Afrikas. Somalia belegt den 156. Platz von 163 Ländern im Ranking der unfriedlichsten Länder. Vor einem Jahr brachen Unruhen in Lasanod aus und verschlimmerten das Schicksal der ohnehin schon gebeutelten Region, was zu einer humanitären Krise führte. Laut dem deutschen Ethnologen Markus Höhne, gab es bislang 5.000 Kriegsopfer, rund 200.000 Menschen sind auf der Flucht.
Auslöser war der 22. Dezember 2022. An diesem Tag gingen in Lasanod Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die Willkür des Präsidenten Muse Bihi Abd zu protestieren und ein Ende der militärischen Unterdrückung durch die Armee zu fordern. Der Präsident ließ den Aufstand blutig niederschlagen. Seitdem liefert sich die Regierung mit den Harti-Streitkräften des Dhulbahante-Clans harte Gefechte.
Tusmo Alis Traum war es, einen Ort zu schaffen, an dem Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung Unterstützung und Schutz finden können. Vor Kriegsbeginn besuchte sie mehrmals im Jahr die betroffenen Familien und ermutigte die Mütter, ihre Töchter und Söhne in die Schule zu schicken. „Ich habe ihnen gezeigt, dass sie ihre Kinder nicht verstecken müssen.“ Im Laufe der Jahre hat sich der Ruf der Einrichtung verbreitet, erzählt sie. Bald darauf kamen die Frauen von sich aus.
Im Frühjahr 2023 stand Ali dann zwischen Trümmern: Zerbombte Häuserfassaden, statt Türen und Fenstern nur noch Löcher, Dächer fehlten ganz. So schauten ganze Stadtteile in der nordsomalischen Stadt Lasanod aus. „Der Krieg zerstört alles, was ich über die Jahre aufgebaut habe. Wir müssen das wieder hinbekommen. Für das Schicksal dieser Generation“, erzählt Ali energisch.
Behinderte Mädchen werden nicht selten gequält
Eines dieser Schicksale ist die verstörende Geschichte von Djamila, die mit 13 Jahren an einen älteren Mann verheiratet wurde. Als der Mann sie schlug, würgte und vergewaltige, rannte das Mädchen davon. Ihre Eltern schickten Cousins los, um sie zu suchen. Als sie das Mädchen fanden, banden sie ihre Hände und Füße zusammen und brachten sie zurück. Djamila flehte ihre Mutter an, nicht mehr zu ihrem Mann zu müssen. Ihre Mutter antwortete ihr: „Beschwer dich nicht. Du kannst froh sein, dass ein Mann ein behindertes Mädchen heiratet.“
Die Reaktion von Djamilas Mutter wirkt auf viele sicher verstörend – kaltherzig und brutal. Welche Mutter würde ihr eigenes Kind verstoßen? Die Antwort liegt in dem Gefühl, keine andere Wahl zu haben. In Somalia haben es Menschen mit geistiger Behinderung schwer: Sie gelten als Schande für die Familie. Daher entscheiden sich viele Familien dafür, sie entweder zu verstecken oder irgendwo unterzubringen, wo sich jemand um sie kümmert. In Djamilas Fall war es ihr gewalttätiger Ehemann.
Tusmo Ali berichtet: „Wenn man in Somalia eine betroffene Mutter fragt, wie viele Kinder sie hat, wird sie sagen: drei und ein behindertes.“ Ihre Motivation ist es, genau das zu ändern. „Die Mutter sollte sagen: Ich habe vier Kinder.“ Doch die Rechte von Menschen mit Behinderung sind in Somalia nicht gesetzlich geschützt. Zusätzlich kommt hinzu, dass es aufgrund der zahlreichen Bürgerkriege seit 1991 kein funktionierendes Gesundheitssystem gibt, das betroffene Mütter entlastet.
Da Frauen in der somalischen Gemeinde für die Erziehung verantwortlich sind, lastet die gesamte Care-Arbeit allein auf ihren Schultern. Dabei sind die Lebensumstände alles andere als einfach: schwere Krankheiten, Dürreperioden, Armut, eine hohe Anzahl an Kindern und niedrige Bildungschancen sind Alltagsprobleme. Ein Kind mit geistiger Behinderung stellt für die meisten betroffenen Familien eine zusätzliche Last dar, die nur wenige tragen können oder wollen.
Eine von ihnen
Vor sieben Jahren, als der Norden Somalias zwischenzeitig als stabil und sicher galt, gründete die gebürtige Somalierin Tusmo Ali die Nichtregierungsorganisation „Mango&friends“ und die Schule „Mango School“. Seitdem leitet sie die Organisation aus der Entfernung. Denn Ali lebt bereits seit 30 Jahren im Ausland, zunächst in Schweden, heute in England. Vor dem Ausbruch des Krieges besuchte sie die Region regelmäßig. „Ich lebe an beiden Orten. Ich kenne die Probleme in meiner Geburtsstadt.“
Und Tusmo Ali hat noch etwas mit den betroffenen Frauen vor Ort gemeinsam: Sie ist eine junge Mutter von drei Kindern, von denen eines besondere Bedürfnisse hat. Das macht sie zu einer von ihnen. „Die Frauen vor Ort vertrauen mir, weil wir dasselbe Schicksal haben. Bei jemandem aus dem Westen wären sie skeptisch. Eine Organisation verfolgt oft irgendwelche kolonialen Interessen.“
Trotzdem ist sich Tusmo Ali ihrer privilegierten Situation bewusst. „Ich hatte das Glück, meine Tochter Mango in einem Londoner Krankenhaus, mit all den medizinischen Möglichkeiten, auf die Welt zu bringen. Das hat eine Frau aus Somalia leider nicht.“ Ebenso wenig haben die Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung in Somalia die Möglichkeit, diese auf eine reguläre Schule zu schicken. Genau dieser Zugang zu Bildung sei ein Schlüssel für spätere Unabhängigkeit.
Das Wichtigste ist das gemeinsame Spiel
Früher war das kleine Schulgebäude in Lasanod ein lebhafter Ort. Täglich brachten bis zu 15 Familien ihre Kinder für ein paar Stunden dorthin. Sieben Frauen kümmerten sich ehrenamtlich um sie, meistens spielten sie zusammen, denn das sei, so betont es Tusmo Ali, das Wichtigste. „Man muss den Kindern zeigen, dass sie wertvoll sind und jeden Erfolg mit ihnen feiern. Das geht am besten übers Spielen.“
Deshalb gab es im Klassenzimmer hauptsächlich Spielzeug wie Bauklötze, Spielfiguren und Plüschtiere. Darüber lernten sie spielerisch den Umgang mit Zahlen, übten Lesen und Schreiben. Aber solange der Krieg andauere, könnten sie nicht zur Schule gehen, so Ali. „Der Krieg muss aufhören, sonst sind diese Kinder verloren. Wir müssen sie so schnell es geht von der Straße holen.“
Zurück in England sitzt sie einige Monate nach der Rettungsaktion am Küchentisch vor einem Blatt Papier mit somalischen Telefonnummern. Seit Wochen geht sie die Liste immer wieder durch. Meistens geht niemand dran, wenn sie anruft. Nur manchmal meldet sich jemand zurück. Dann macht sie einen grünen Haken hinter die Nummer. Das bedeutet, dass es der Frau gut geht. Die meisten von ihnen sind Mütter, mit denen sie in den vergangenen Jahren „Mango&friends“ aufgebaut hat. Mit jedem Haken steigt die Hoffnung nach dem baldigen Kriegsende. Sobald es soweit ist, möchte sie die Schule wiederaufbauen.