Etwa 400 Millionen Frauen leben in Europa. Ihr Leben sieht von Land zu Land extrem unterschiedlich aus. Auch wenn Gesetze den Europäerinnen Gleichstellung zusichern, stehen sie in jedem Staat vor anderen Hürden auf dem Weg zur Emanzipation.
Von Jasper Steinlein, Hamburg
Sind Europas Frauen gleichberechtigt? Die Antwort auf diese Frage ist in jedem Lebensbereich eine andere. In den meisten Studien zur Gleichstellung belegt Europa vordere Plätze – zumeist dank der nordischen Staaten. Dem Gender Inequality Index (GII) der Vereinten Nationen zufolge ist die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der Schweiz am geringsten. Das Land belegt sogar den weltweiten Spitzenplatz. Noch das am schlechtesten gestellte europäische Land – Nordmazedonien auf Platz 97 von 164 Staaten – liegt über dem GII-Durchschnitt. Die Türkei, dessen Territorium zu drei Prozent in Europa liegt, belegt Platz 118.
Das liegt unter anderem daran, dass Europa ein hohes Maß an Entwicklung aufweist, Frauen durch ihr im Weltvergleich hohes Einkommen viele Möglichkeiten haben und die Gesetzgebung weniger auf Geschlechtertrennung basiert als in anderen Regionen der Welt. Internationale Abkommen sichern den Europäerinnen Gleichstellung mit den Männern zu – etwa die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung und die Istanbul-Konvention des Europarats zur Prävention und Bekämpfung frauenfeindlicher Gewalt. Die Europäische Union hat die Gleichheit von Mann und Frau 1992 im Vertrag von Maastricht explizit in ihre Grundwerte aufgenommen. Doch auch in Europa bringt ein Frauenleben noch immer viele strukturelle Ungleichheiten mit sich. In welchem Lebensbereich sie sich am stärksten auswirken, ist von Staat zu Staat verschieden.
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ARBEIT: Griechinnen zehren an Wirtschaftskrise
Was den rechtlichen Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt angeht, kann Europa punkten. Alle sechs Staaten, die dem „Women, Business and The Law“-Index der Weltbank zufolge hundertprozentige rechtliche Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt haben, liegen in der EU: Belgien, Dänemark, Frankreich, Lettland, Luxemburg und Schweden. Die schwierigsten rechtlichen Voraussetzungen in Europa haben Russinnen: 456 Berufe wie Pilotin, Lokführerin und Kapitänin sind ihnen per Gesetz verboten. Ab 2020 sollen es nur noch 79 sein.
Jenseits der rechtlichen Garantien haben die Däninnen besonders guten Zugang zum Arbeitsmarkt: Mit drei Vierteln ist ihre Beschäftigungsrate fast gleichauf mit der der Männer und die überwiegende Mehrheit von ihnen schätzt ihre Karrierechancen im derzeitigen Job als sehr gut ein. In Griechenland trifft hingegen die angespannte Wirtschaftslage Frauen besonders hart: Nicht nur ist die allgemeine Beschäftigungsrate die niedrigste innerhalb der EU – auch der Anteil der Frauen mit einer Vollzeitstelle ist EU-weit der kleinste. Die Karrierechancen in ihrem derzeitigen Job schätzen die Griechinnen von allen Europäerinnen am geringsten ein. Allerdings gilt in allen EU-Ländern gleichermaßen: Frauen gehen öfter einer Arbeit mit niedriger Entlohnung und niedrigerem sozialen Status nach als Männer und sind häufiger schwarz beschäftigt.
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ZEIT: Schwedinnen haben viel Freizeit
Auch 2019 verbringen Frauen im Durchschnitt mehr Zeit als Männer mit unbezahlter Care-Arbeit: Haushalt, Kindererziehung oder Angehörige pflegen. Am größten ist die Differenz zwischen Partnern, die Kinder haben. Zehn Prozent aller EU-Bürgerinnen im erwerbsfähigen Alter arbeiten wegen ihrer Care-Tätigkeiten gar nicht oder in Teilzeit, bei den Männern ist es nicht einmal ein Prozent. Als Folge sind Frauen nicht nur einkommenschwächer, sondern auch „zeitarm“: Ihnen bleibt kaum Zeit für Sport, Treffen mit Freunden oder Museumsbesuche.
Schweden hat sich besonders dafür eingesetzt, dass seine Bürger*innen ihre Zeit unter gleichen Bedingungen einteilen können: Gemäß dem Antidiskriminierungsgesetz von 2009 sind Arbeitgeber*innen verpflichtet, weiblichen und männlichen Angestellten gleichermaßen die Vereinbarung von Beruf und Elternschaft zu ermöglichen. Beide Eltern haben Anspruch auf je 240 Tage Elternzeit, die nicht auf den anderen Elternteil übertragen werden können. Und jedes Kind hat das Recht auf einen Kitaplatz, der steuerlich subventioniert wird. Der Erfolg spricht für sich: Laut Daten des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) bleibt sowohl 50 Prozent der Männer als auch der Hälfte aller Frauen in Schweden Zeit, mindestens alle zwei Tage etwas außerhalb der eigenen vier Wände zu unternehmen. In Rumänien können nicht einmal zehn Prozent der Frauen oder der Männer das Gleiche von sich sagen.
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GELD: Wohlsituierte Luxemburgerinnen (ohne Kinder)
Im „Global Wealth Databook“ für 2018 stuft die Credit Suisse Bank Europa als die Weltregion ein, in der Frauen mit durchschnittlich 40 Prozent den größten Anteil am Haushaltsvermögen halten. Auch der Anteil der Milliardärinnen ist demnach weltweit der höchste. Die Europäerinnen mit dem höchsten Bruttonationaleinkommen leben in Norwegen, innerhalb der EU sind die Luxemburgerinnen finanziell am besten situiert: Mit fünf Prozent ist der unbereinigte Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen hier besonders gering.
Geschlechterunterschiede in der Berufswahl, die sich sonst negativ auf das Einkommen von Frauen auswirken, spielen hier nach Daten der EU-Kommission kaum eine Rolle, da etwa die Arbeit im Sektor Bildung vergleichsweise besser entlohnt wird als in anderen Staaten. Auch ihr allgemeines Armutsrisiko ist nur unwesentlich höher als das der Männer. Aber auch in Luxemburg gilt, was in ganz Europa zutrifft: Für Frauen geht jede Art von Familiengründung mit einer Abnahme des Einkommens einher, das sich durch niedrigere Renten bis ins Alter auswirkt. Das Armutsrisiko für alleinerziehende Mütter ist mit 47 Prozent in Luxemburg eines der höchsten in der EU – Frauen im Pensionsalter haben im Durchschnitt 45 Prozent weniger Rente zur Verfügung als Männer.
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WISSEN: Hochgebildete Lettinnen
33 Prozent aller EU-Bürgerinnen haben einen Hochschulabschluss – mehr als der Durchschnitt der europäischen Männer. Die jüngere Generation überholt sie noch weiter: Im Jahr 2016 waren mehr als die Hälfte aller Studierenden weiblich, nur unter den Promovierenden sind sie – noch – in der Minderheit. Im späteren Berufsleben arbeiten EU-weit mehr Frauen als Männer in Bereichen, die einen hohen Bildungsgrad erfordern.
Am größten ist der Unterschied in Lettland: Dort machen Frauen 60 Prozent aller Studierenden aus. Erhebungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der EU zufolge erzielen sie auch einen deutlich größeren Bildungserfolg als die lettischen Männer: Frauen in Lettland stellen zwei Drittel aller Hochschulabsolvent*innen, 58 Prozent aller Doktorand*innen und halten 40 Prozent aller Professuren.
Zum Vergleich: In Deutschland stellen Frauen knapp die Hälfte aller Studierenden, unter den Doktoranden sind es noch 45 Prozent, der Professorinnenanteil ist mit etwa 20 Prozent einer der niedrigsten innerhalb der EU. Allerdings sind in Lettland Wissenschaftsberufe seit der sowjetischen Zeit besonders niedrig dotiert, während Professorinnen in Deutschland klar zu den Spitzenverdienerinnen gehören – auch wenn sie laut dem Deutschen Hochschulverband im Schnitt 1.000 Euro weniger Gehalt bekommen als ihre männlichen Kollegen.
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MACHT: Unterrepräsentiert trotz Frauenüberschuss
In fast allen Entscheidungspositionen sind Frauen in Europa unterrepräsentiert – und das, obwohl im europäischen Raum mehr Frauen als Männer leben und in den meisten Ländern Frauenüberschuss herrscht. Spitzenreiterinnen liegen meist nur in einem einzigen Bereich vorn. So hat etwa Lettland mit 46 Prozent den größten Frauenanteil in Management-Positionen. Bulgarien hat mit 76,9 Prozent die meisten Richterinnen, gefolgt von Bosnien und Herzegovina und Ungarn. Allerdings ist nur ein Drittel der Richter*innen an nationalen Gerichtshöfen und nur ein Viertel der Richter*innen an Verfassungsgerichten weiblich, wie der Europarat 2016 festgestellt hat. Den Chef*innenposten einer Zentralbank hat in vier europäischen Staaten eine Frau inne: In Russland, Zypern, Nordmazedonien und Serbien.
Die meisten Frauen im Parlament verzeichnet Finnland, wo sie 47 Prozent der Abgeordneten ausmachen. Im jüngst gewählten Europaparlament sind 39 Prozent der Abgeordneten weiblich. Als Regierungsmitglieder schwankt ihr Anteil von 61 Prozent in Spanien bis sieben Prozent in Ungarn – meist besetzen Frauen weniger prestigeträchtige Ministerien mit sozialen Aufgaben. In den öffentlichkeitswirksamen Bereichen Forschung, Medien und Sport stellen Frauen zwar oft die Mehrheit der Beschäftigten – allerdings erreichen sie kaum Führungspositionen, wie das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) festgestellt hat.
Im Journalismus ist die Überzahl der Berufsanfänger*innen weiblich – einen Platz als Chefredakteurin oder Leiterin eines Medienhauses erreicht aber nur ein Drittel von ihnen. Das hat direkte Auswirkungen auf das Bild von Frauen, das Massenmedien vermitteln: Sie stehen seltener im Zentrum eines Berichts, kommen seltener als Expertin zu Wort und werden seltener bei ihrer Berufsausübung gezeigt als Männer.
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GESUNDHEIT: Litauerinnen leben lange, aber nicht gesund
Europäerinnen profitieren im Weltvergleich von besonders guten gesundheitlichen Bedingungen: Das Risiko, bei der Geburt oder im Kindbett zu sterben, ist äußerst gering. Auch die Suizidrate bei Frauen ist in den meisten Ländern sehr niedrig. Die Selbstbestimmung von Frauen über ihre Körper ist teilweise deutlich eingeschränkt: In Griechenland, Polen, Malta, der Slowakei und Ungarn etwa bekommen Minderjährige erst dann Zugang zu reproduktiver Beratung oder Behandlung, wenn die Eltern einwilligen – obwohl das Schutzalter für Geschlechtsverkehr zwischen 14 und 15 Jahren endet.
Schwangerschaftsabbrüche sind in Malta und Nordirland de facto verboten, in Polen und Irland sind sie nur nach einer Vergewaltigung oder bei schweren gesundheitlichen Schäden für die Schwangere oder den Fötus legal. In allen Staaten Europas leben Frauen zwar im Durchschnitt länger als Männer, aber nicht unbedingt gesünder. Mit etwa 83 Jahren werden die Schweizerinnen und Spanierinnen am ältesten. In Litauen liegt die Lebenserwartung der Frauen zehn Jahre höher als die ihrer Landsmänner, allerdings schätzen nur fünf Prozent der hochbetagten Litauerinnen ihre Gesundheit als gut ein – in Irland sind es 51 Prozent der Frauen. Die Unterschiede hängen häufig mit dem Lebenswandel zusammen: Männer sind zwar häufiger körperlich aktiv, leben aber riskanter, rauchen und trinken öfter Alkohol. Etwa 40 Prozent der Europäerinnen sind übergewichtig – bei den Männern sind es 60 Prozent.
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GEWALT: das „nordische Paradox“
Gewalt gegen Frauen gibt es in jeder Gesellschaft – große Unterschiede bestehen aber darin, wie sie damit umgeht. Die EU-Agentur für Grundrechte (FRA) befragte die Europäerinnen 2014, ob sie seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erfahren hätten. In Finnland, Dänemark und Lettland bejahte dies ein Drittel der Frauen, in Polen, Österreich und Spanien war der Anteil mit 13 Prozent am niedrigsten. Die häufigsten Gewalttaten gegen Frauen waren demnach Stoßen oder Schubsen, Schläge mit der flachen Hand, Packen oder an den Haaren ziehen. Der überwältigende Anteil der Täter sind Männer. Fünf Prozent der EU-Bürgerinnen gaben an, dass sie eine Vergewaltigung überlebt haben. Doch nur Drittel der Befragten hat sich nach einer Gewalterfahrung an die Polizei gewandt – ein weiteres Drittel sagte, es habe mit niemandem darüber gesprochen. Psychische Gewalt ihres Partners durch Erpressung, Nötigung und kontrollierendes Verhalten kennen demnach 43 Prozent aller EU-Bürgerinne – in Deutschland sind es mit mehr als 50 Prozent besonders viele.
Das „nordische Paradox“, dass in den als emanzipiert geltenden Staaten Nordeuropas besonders viele Fälle frauenfeindlicher Gewalt registriert werden, ist noch nicht wissenschaftlich geklärt. Forscherinnen am Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen in Vilnius gehen davon aus, dass die Zahl der registrierten Gewalterfahrungen eng mit dem Vertrauen in Sicherheitsbehörden zusammenhängt – und die Definition von „Gewalt“ für Schwedinnen und Finninnen möglicherweise bei Grobheiten beginnt, während Frauen andernorts sich darunter körperliche Verletzungen vorstellen.
Info: Kooperation mit der Frankfurter Rundschau
Dieser Überblicksartikel ist der Auftakt unserer achtteiligen Serie „Wie emanzipiert ist Europa?“. Dabei kooperieren wir exklusiv mit der Frankfurter Rundschau. Mit der Serie wollen wir beleuchten, wo es in Europa in puncto Gleichberechtigung besonders gut läuft und wo es noch Nachholbedarf gibt. Die nächste Geschichte erscheint Ende August und handelt von der Emanzipation in Belgien.