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Sie lassen sich nicht behindern
Inklusion in der Ukraine

5. Juni 2019 | Von Jasper Steinlein
Viktoria Marschuk ist sechsfache amtierende Weltmeisterin und dreifache Europameisterin im Para-Taekwondo. Fotos: Eva Steinlein

In der Ukraine werden Menschen mit Behinderung noch immer an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Vor allem junge Frauen kämpfen dafür, dass sich das ändert: Sie schaffen neue Vorbilder.  

Von Jasper Steinlein, Kiew / Saporischschja

Mit Daria Korschawina die Kiewer Prachtstraße Kreschtschatik zum Maidan entlangzuspazieren ist gar nicht so einfach: Immer wieder gehen Leute viel zu knapp an ihr vorbei, rempeln sie fast an, obwohl sie als einzige Person mit Blindenstock im Gedränge durchaus auffällt. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt die 27-Jährige, die seit ihrem zweiten Lebensjahr nicht mehr sehen kann: „Menschen mit Behinderung sind für die Gesellschaft unsichtbar, weil sie meist für sich bleiben. Sie sitzen zu Hause und haben Angst vor der Gesellschaft. Und die Gesellschaft hat Angst vor ihnen, weil sie sie nicht sieht und mit ihnen nicht umzugehen weiß.“

 

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Die Vorstellung, dass alle Menschen in der Ukraine von Natur aus gesund und stark sind, stammt noch aus der Zeit der Sowjetunion. Menschen mit Behinderung wurden damals ein Leben lang in Heime gesperrt und durften nicht am Alltagsleben teilnehmen. Das von Körperkult geprägte Menschenbild ist noch heute präsent: Eine Behinderung sehen die meisten als Defizit, dessen die Betroffenen sich schämen sollten und das ein eigenständiges Leben unmöglich macht.

Noch zu Daria Korschawinas Schulzeit in den 90er Jahren zögerten die Lehrer*innen an ihrem Internat, gemeinsame Unternehmungen mit Schüler*innen ohne Behinderung zu organisieren. „Das wird für die anderen Kinder langweilig und ist überhaupt unnötig, hieß es“, erzählt sie. Doch von solchen Vorurteilen hat sie sich nie aufhalten lassen: Nach der Schule studierte sie Journalismus an der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew, die als Elitehochschule der Ukraine gilt, und arbeitete als Radioreporterin – und das, obwohl die meisten Menschen mit Behinderung in der Ukraine nur schwer einen Job finden. „Den Arbeitgebern ist schwer zu erklären, dass sie nicht auf deine Behinderung, sondern dein Fachwissen und die Qualität deiner Arbeit achten sollten“, meint Korschawina.

Daria Korschawina sagt Menschen mit Behinderung seien für die Gesellschaft unsichtbar, weil sie meist für sich blieben.

Dass sie viel mehr behindert wird als behindert ist, hat auch Viktoria Martschuk erlebt. Die 28-Jährige sitzt im Schneidersitz im Trainingssaal des „Torpedo“-Stadions in der Provinzstadt Saporischschja. Ohne Selbstmitleid erzählt sie, dass ihre Eltern sie sofort nach der Geburt in ein Heim gaben, weil sie mit verkürzten Armen zur Welt kam. Der Alltag dort war streng reguliert und die Hilfe der Betreuer*innen begrenzt, erinnert sie sich: „Das Gute daran war, dass sie uns beigebracht haben, alles selbst zu machen, statt es für uns zu tun. Wenn ein Kind keine Arme hatte, saß es trotzdem am Tisch und aß selbst. Ich konnte anfangs meine Schnürsenkel nicht binden. Aber nach ein paar Wochen habe ich es gelernt.“

Bestätigung und Lebensfreude findet sie von ihrer Jugend an im Sport: Damals spielte sie stundenlang Fußball mit den Jungs, trieb Leichtathletik, spielte Tischtennis, schwamm. Als sie mit 19 Jahren aus dem Heim entlassen wurde, fiel es ihr schwer, sich an das Leben in der Gesellschaft zu gewöhnen. „Dem Gesetz nach hätte man uns allen vor dem Heimaustritt eine Wohnung zuteilen müssen. Darum hat sich natürlich niemand gekümmert,“ klagt sie, „die einen sind obdachlos geworden, andere in den Sport oder zum Studium gegangen – wir versuchten irgendwie, in diesem System zu überleben.“

Viktoria Martschuk ging zunächst auf die Berufsschule und wurde dort 2011 von einem Sportlehrer dem Taekwondo-Trainer Jurij Babak vorgestellt, der „Leute wie mich“ suchte, wie sie sich ausdrückt. Babak und seine Frau Julia Wolkowa, die ebenfalls Profisportlerin und Taekwondo-Trainerin ist, schlugen ihr vor, die Sportart auszuprobieren – mit der Perspektive, schon neun Monate später bei der Weltmeisterschaft im Para-Taekwondo anzutreten.

Die ehrgeizige Sportlerin, der mehrere Ärzte wegen eines Herzfehlers und Schulterproblemen eine Profikarriere verwehrt hatten, witterte damals ihre Chance und ging zum Training. „Das war eine ganz schöne Belastung. Aber alle waren geschockt, dass jemand, der noch nie Taekwondo gemacht hat, ankommt und sich gleich so zeigt“, sagt sie stolz. Heute ist Viktoria Martschuk sechsfache amtierende Weltmeisterin und dreifache Europameisterin im Para-Taekwondo.

Unterstützung vom Staat blieb zunächst aus

Unterstützung vom ukrainischen Staat habe sie in ihrer Laufbahn kaum bekommen, sagt sie: Das Geld für die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen habe sie anfangs selbst auftreiben müssen, ihre Titelgewinne habe selbst das Sportministerium erst als „Zufälle“ abgetan. „Aber wenn du dann mit Medaillen nach Hause kommst, fangen alle an, sich die selbst umzuhängen.“

Inzwischen bekommt Viktoria Martschuk vom Staat ein Sportlergehalt. Aus dem ihr zugeteilten Zimmer in einem Wohnheim ist sie wieder ausgezogen, weil es auf ihrem Gang nur ein Klo und eine Dusche, aber jede Menge Familien gab – und weil während einer ihrer Reisen alle Wertgegenstände aus ihrem Zimmer gestohlen wurden. Nun fährt sie jeden Tag aus dem Umland zum Training nach Saporischschja – und erlebt, wie verächtlich viele Leute in der Industriestadt mit ihr umgehen: „Sie wechseln die Straßenseite, starren mich an, zeigen mit dem Finger auf mich. Im Schnellbus muss ich bezahlen, obwohl mir dort ein kostenloser Sitzplatz zusteht. Niemand steht für mich auf.“

Viktoria Marschuk trainiert inzwischen eine inklusive Taekwondo-Kindergruppe.

Trotz der Geringschätzigkeit vieler Landsleute hat Viktoria Martschuk immer an sich selbst und ihren Erfolg geglaubt: „Ich habe gelernt zu überleben, ich habe gelernt, dass ich jedes Kreuz tragen kann. Ich kann alles schaffen, was ich in die Hände nehme“, sagt sie. Seit ihrem Einstieg in den Profisport hat sie einen Bachelor in Logopädie und einen Master in Sporterziehung gemacht und trainiert inzwischen eine inklusive Taekwondo-Kindergruppe. Am meisten ärgert sie, dass es den Kindern mit Behinderung in der Ukraine an Vorbildern fehle, an denen sie sich orientieren können.

„Jeder hat seine Probleme“ – auch ohne Behinderung

Zurück zu Daria Korschawina: Sie will in Kiew mehr sein als der lebende Beweis, dass für Menschen mit Behinderung alles möglich ist. Deshalb hat sie die Organisation „Fight For Right“ gegründet, die die rechtliche Gleichstellung und mehr Inklusion erkämpfen will. Dazu gehört vor allem Aufklärungsarbeit, aber auch spektakuläre Aktionen, mit denen die Gruppe beweisen will, dass eine Behinderung wie Blindheit keine Einschränkung bedeuten muss. „Ich bin zum Beispiel schon mit einem Fallschirm gesprungen oder auf einem Quad gefahren“, erzählt sie.

Euphemistische Bezeichnungen wie „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ und „Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten“, wie sie bei Ukrainer*innen mit achtsamem Sprachgebrauch jetzt in Mode sind, lehnt sie allerdings ab. „Jeder Mensch hat irgendwelche besonderen Bedürfnisse: Der eine mag Kaffee mit Zucker, der andere ohne, der nächste grünen Tee. Das sind doch bereits ziemlich spezielle Bedürfnisse“, meint sie.

Außerdem könne man auch „eingeschränkte Möglichkeiten“ ohne Behinderung haben, etwa, wenn man ins Ausland fajre und die Landessprache nicht spreche. Ihr ist wichtig zu vermitteln, dass einen Menschen mehr ausmacht als eine etwaige Behinderung – und die Gesellschaft insgesamt von Inklusionsmaßnahmen profitiert. Im hügeligen Kiew mit seinen kopfsteingepflasterten Straßen und den endlosen Unterführungen für Fußgänger leuchtet das sofort ein. „Jeder hat seine Probleme, aber wichtig ist, dass wir sie nach nach Möglichkeit lösen; und wenn es nicht lösbar ist, soll es zumindest nicht beim Leben stören.“

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Von Jasper Steinlein, Hamburg

Jasper Steinlein wohnt in Hamburg, arbeitet als Redakteur für tagesschau.de und reist von dort regelmäßig in die russischsprachige Welt, unter anderem nach Russland, in die Ukraine und ins Baltikum. Davor war er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Wichtigster Grundsatz als Journalist: „Reden mit“ statt „reden über“! Mehr unter: http://steinlein.online. Vor seinem Outing als Transmann war er 2017 bis 2020 Teil unseres Korrespondentinnen-Teams.

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