Pia Klemp rettete als Kapitänin im Mittelmeer Flüchtlinge in Seenot vor dem Ertrinken. Dafür soll ihr nun in Italien der Prozess gemacht werden: Ihr drohen bis zu 20 Jahre Haft. Doch Klemp kämpft weiter für ihr Anliegen – mittlerweile allerdings auf dem Festland. Was treibt sie an?
Von Virginia Kirst, Hamburg / Rom
Pia Klemps Weg auf die Kommandobrücke begann in Indonesien: Dorthin war die Bonnerin mit den langen blonden Haaren und blaugrauen Augen nach ihrem Biologiestudium gezogen. Drei Jahre lang arbeitete sie dort als Tauchlehrerin. Dann reichte ihr das Leben am Strand nicht mehr aus. Mit 27 Jahren beschloss sie, ihr Leben einem höheren Ziel zu widmen: dem Naturschutz. Klemp heuerte bei der Meeresschutzorganisation „Sea Shepherd“ an und fuhr mit ihr zur See.
„Für mich war die Schifffahrt Mittel zum Zweck, um auf dem Meer zu helfen, illegale Aktivitäten zu stoppen und überall dort einzuspringen, wo es brenzlig wird“, sagt die heute 35-Jährige. In ihrem rechten Nasenflügel stecken zwei silberne Ringe, sie trägt einen schwarzen Wollschal. Warum sie sich damals für den Naturschutz eingesetzt hat? „Ich würde die Frage lieber umdrehen: Warum gibt es Leute, die nichts tun?“ Sie habe „aus Verstand“ gehandelt, sagt sie und spricht lauter: „Wenn man sich nicht um diesen Planeten sorgt, verstehe ich jeden Satz, der danach kommt, nicht. Es sei denn, mir zeigt jemand, wie man ohne Sauerstoff zurechtkommt.“ Es ist das einzige Mal im Gespräch, dass Klemp ihre Stimme hebt.
Diese kategorische Haltung zum Naturschutz kennt Pia Klemp seit ihrer Kindheit: „Ich komme aus einer liebevollen, aber auch schlauen Familie, die sehr politisch ist und viel diskutiert.“ Von klein auf seien ihr viele Grundwerte mitgegeben worden, und ihre Eltern, ihre Mutter freischaffende Künstlerin, ihr Vater arbeitet beim Deutschen Roten Kreuz, legen Wert auf ein großes Natur- und Umweltverständnis.
Jahrelang setzte sich Pia Klemp auf den Weltmeeren also für diese Werte ein: Mit der „Sea Shepherd“ fuhr sie zu verschiedenen Einsätzen: In Mexiko half sie, illegale Fischnetze aus dem Wasser zu ziehen, im Südpolarmeer bekämpfte sie den illegalen Walfang. Neben ihren Pflichten auf Deck („hauptsächlich putzen und streichen“) sammelte sie auch Stunden auf der Kommandobrücke und bestand nach einigen Jahren die Prüfung für ihre Kapitänslizenz.
Seit Juni 2017 im Einsatz auf dem Mittelmeer
Vor etwa zwei Jahren entschied Klemp schließlich, dass ihr die Lage im Mittelmeer wichtiger war als der Naturschutz auf den Weltmeeren. „Als Seefahrerin kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als auf dem Meer alleingelassen zu werden und dort zu ersaufen“, sagt sie. Trotz des dramatischen Gesprächsthemas wirkt sie gefasst. Darum bewarb sie sich bei verschiedenen Hilfsorganisationen, die sich in der Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer engagierten. Nur wenige Monate später, im Juni 2017, geht sie als Kapitänin an Bord der „Iuventa“, die vom deutschen Verein „Jugend Rettet“ betrieben wird und beginnt ihre erste Mission auf dem Mittelmeer.
Die Einsätze seien immer anders verlaufen, erinnert sich Klemp. Die „Iuventa“ sei auf dem Mittelmeer unterwegs gewesen und habe nach Menschen in Seenot Ausschau gehalten. „Es gibt Tage, an denen kommt man rechtzeitig und kann Menschenleben retten.“ An anderen Tagen jedoch finde man nur noch das „leere, halb abgesoffene Schlauchboot“ und an den schlimmsten Tagen nur noch einzelne Wasserleichen.
Doch ihr Einsatz ist nur von kurzer Dauer: Bereits Anfang August 2017 beschlagnahmte die italienische Staatsanwaltschaft das Rettungsschiff. Der Vorwurf: Das Schiff wurde benutzt, um Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu leisten. Es ist eine von vielen Methoden, mit denen die Politik versucht, der zivilen Seenotrettung die Legitimität abzusprechen. Bei dem Prozess gegen Claus-Peter Reisch, Kapitän des zivilen Rettungsschiffs „Lifeline“ etwa, werfen die maltesischen Behörden dem Deutschen vor, die für die Seenotrettung erforderlichen Dokumente nicht besessen zu haben.
Bei diesen Gerichtsverfahren und Vorwürfen gegen die Retter geht es aber weniger um die rechtliche Lage als darum, dass Italien und Malta die eingehenden Flüchtlingsströme kontrollieren wollen und dies nicht Hilfsorganisationen überlassen möchten. Doch Klemp sich nicht aufhalten, wechselte zu einer anderen Organisation und lenkte fortan die „Seawatch 3“ für Rettungseinsätze über das Mittelmeer. Im Mai 2018 wurde auch dieser Einsatz gestoppt.
Und damit wurde Pia Klemps Mission mit einem Schlag persönlich: Aus der Presse erfuhr sie, dass die italienische Staatsanwaltschaft gegen sie und neun weitere ehemalige Besatzungsmitglieder der beschlagnahmten „Iuventa“ wegen der Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt. Ihnen drohen jetzt bei einer Verurteilung bis zu 20 Jahre Haft.
„In dem Moment, in dem wir von den Ermittlungen erfahren haben, war ich noch so beschäftigt damit, das Schiff wieder aus dem Hafen zu bekommen, dass ich mich gar nicht richtig mit der Beschuldigung befasst habe“, sagt Klemp, die diese Geschichte schon so häufig erzählt hat, dass ihre Empörung verbraucht ist. „Ich verweigere mich der schlechten Laune.“ Sie sagt, sie wolle sich von dieser politischen Schikane noch mehr kaputt machen zu lassen.
Auf Rat der Anwält*innen der Hilfsorganisation stellten die beschuldigten Besatzungsmitglieder ihre Hilfstätigkeit auf dem Meer aber sofort ein, weil ansonsten Untersuchungshaft droht. Momentan lebt Klemp, die seit zehn Jahren keinen festen Wohnsitz mehr hat, bei Freunden und Familie zwischen Hamburg und Bonn. Sie überlege, eine Wohnung zu mieten, sagt sie, scheint von der Idee jedoch nicht überzeugt zu sein. Es wirkt, als wolle sie nicht wahrhaben, dass dies jetzt ihr neues Leben sein soll.
Erst in den darauffolgenden Tagen und Wochen realisierte Klemp, was ihr vorgeworfen wird: „Je länger ich mich damit beschäftigt habe, desto wütender bin ich geworden. Wütend, dass ich nicht mehr rausfahren kann und fassungslos, dass in einem Staatengebilde wie der EU solche Ermittlungen überhaupt möglich sind.“ Fotos, die der Staatsanwaltschaft vorliegen, sollen belegen, dass die Iuventa-Besatzung leere Flüchtlingsboote wieder nach Libyen geschleppt haben soll, um sie dort an die Schlepper zurückzugeben. „Das ist natürlich völliger Quatsch,“ wehrt sich Klemp, „wir haben die Boote nur aus dem Weg gezogen und das ist anhand der Richtung, in die wir die Boote schleppen, auf den Fotos auch erkennbar.“
Die italienische Staatsanwaltschaft ist von dieser Erklärung nicht überzeugt: Im April 2018 entschied das oberste Gericht Italiens, dass die „Iuventa“ beschlagnahmt bleiben darf. Währenddessen warten die Mitarbeiter der Hilfsorganisation darauf, dass der Prozess gegen sie beginnt. Wann genau es soweit sein wird, ist unklar. Die Anwälte gehen von einer Anklage im Laufe des Jahres aus.
Seit die neue Regierung um Matteo Salvini, Innenminister und Chef der nationalistischen „Lega“-Partei, an der Macht ist, herrscht in puncto Notrettung in der Seefahrt eine angespannte Stimmung. Denn eines der wichtigsten Ziele von Salvinis Politik besteht darin, dafür zu sorgen, dass weniger Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien kommen. Dieses Ziel verfolgt er, indem er Rettungsschiffen mit Flüchtlingen an Bord das Anlegen an italienischen Häfen untersagt und somit das Thema wiederholt auf die Agenda der Europäischen Union setzt.
Gleichzeitig scheint die italienische Öffentlichkeit von der Politik des „Lega“-Chefs überzeugt zu sein: Seit die Partei bei den Wahlen vor einem Jahr zweitstärkste Kraft wurde, sind die Zustimmungswerte auf 34 Prozent gestiegen. Das macht sie heute zur stärksten Partei. Doch Klemp lässt sich davon nicht verunsichern, sie sieht das Gesetz auf ihrer Seite. Denn das Schließen der italienischen Häfen für Rettungsboote ist weder mit dem EU-Seerecht noch mit der Genfer Konvention vereinbar.
Vorwurf: Rettungsschiffe locken mehr Flüchtlinge an
Besonders ärgert Pia Klemp sich über die Argumentation vieler Politiker, die Präsenz der Rettungsboote von Hilfsorganisationen im Mittelmeer trage dazu bei, dass mehr Menschen die riskante Überfahrt antreten würden. Denn dieser Vorwurf wurde wiederholt widerlegt, etwa in einer Studie der Universität London: Die Forscher stellten 2017 in ihrem Bericht „Blaming the resucers“ – „Die Retter beschuldigen“ fest, dass Politiker mit diesem Argument „bewusst die sich verschärfende wirtschaftliche und politische Krise in mehreren Regionen Afrikas“ ignorierten.
Der Bericht nennt auch einen weiteren zentralen Grund, weswegen sich viele Menschen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen: „Die Gewalt gegen Migranten in Libyen ist so extrem, dass sie die Überfahrt mit oder ohne die Präsenz von Such- und Rettungstruppen versuchen.“ Der einzige Ausweg aus dieser Situation ist laut Klemp die Schaffung legaler und sicherer Einreisewege nach Europa. „Es kann nicht sein, dass die Menschen schon vor dem Moment, in dem sie einen Fuß nach Europa setzen, um Asyl zu beantragen, kriminalisiert werden.“ Kapitänin Klemp wird ihren Kampf für diese Menschen jedenfalls früher oder später fortführen.