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Schwere Last
Wenn Frauen selber Särge tragen

27. August 2015 | Von Veronika Eschbacher
Die afghanische Fotografin Rada Akbar war eine der Frauen, die die gelynchte Studentin Farkhunda zu Grabe trugen. Foto: privat

Der Lynchmord an der Studentin Farkhunda am hellichten Tag in Kabul Ende März hatte die afghanische Gesellschaft aufgewühlt. Die Tat warf ein Schlaglicht auf die prekäre Stellung der Frau im Land, rüttelte aber auch die Zivilgesellschaft auf. So sehr, dass entgegen aller Traditionen Frauen Farkhundas Sarg zu Grabe trugen. 

Von Veronika Eschbacher, Kabul

„Es war so gespenstisch still“, erinnert sich Rada Akbar. Dabei war es erst Nachmittag, der Himmel wolkenlos an diesem Tag im März über der Shah-e-Du-Shamshira-Moschee im Herzen Kabuls. Eigentlich tönt um diese Tageszeit lautes Hupen von beiden Straßenseiten links und rechts des Kabulflusses unterhalb der Moschee, ständig brummen Motorräder auf, die sich zwischen den Autos und den zahlreichen hier abfahrenden Bussen hindurchschlängeln. Es herrscht ein nicht enden wollendes Stimmengewirr von Reisenden und Händlern, die Granatäpfel oder Wasser anbieten und ihre Holzkarren auf und ab schieben. „Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, warum der Ort plötzlich derart leergefegt war“, sagt die 29-jährige Afghanin.

Der Grund für die Menschenleere an einem der belebtesten Plätze der afghanischen Hauptstadt sollte der Fotografin aber bald klar werden. Kaum in ihrem Büro angekommen, forderte sie ein Freund auf, die Nachrichten zu lesen. Diese quollen bereits über mit Berichten über eine Frau namens Farkhunda. Die 27-Jährige war an dem nun so verlassenen Ort, bei grellem Tageslicht, von einem Mob zu Tode geprügelt, angezündet und in den Kabulfluss geworfen worden. Farkhunda habe den Koran verbrannt, hieß es.

Rada sah auf Facebook Handyvideos des Martyriums der jungen Frau. Sie sah, wie junge Männer ohne Unterlass auf sie eintraten, mit Holzstöcken auf sie einprügelten, sie von einem Vordach stießen, ihr Steine auf und an den Kopf warfen. Und als Farkhunda bereits reglos am Boden lag, überfuhren sie sie mit einem Auto, zündeten sie an und warfen ihre halbverkohlte Leiche in den Kabulfluss. Polizisten beobachteten das fast einstündige Treiben nahezu teilnahmslos. Solange sie noch bei Bewusstsein war, beteuerte die blutüberströmte Frau immer wieder, die Anschuldigung sei nicht wahr, sie habe keinen Koran verbrannt. „Was ich sah, war schlimmer als jeder Albtraum,“ sagt Rada, „meine Glieder wurden taub, mein Herz hörte auf zu schlagen.“

Nicht nur Rada blieb angesichts der Bilder das Herz stehen. Der Lynchmord an Farkhunda hat die gesamte afghanische Gesellschaft aufgewühlt wie kaum eine Gewalttat an Frauen zuvor. Das ganze Land fragte sich, wie es sein konnte, dass junge, modern gekleidete afghanische Männer – offenbar aus der Mittelschicht – eine derartige Gewaltbereitschaft an den Tag legen. Wie es möglich war, dass an diesem so penibel überwachten Ort in der als viel offener geltenden Hauptstadt, nicht irgendwo in der abgeschiedenen Provinz, so eine Gräueltat geschehen konnte.

Kampf gegen abergläubische Praktiken

„Ich lief nach oben zu meinen Freunden und rief warum, warum, warum“, erzählt Rada. Sie habe es nicht fassen können, dass ein Koran in ihrem Land offenbar mehr zähle als ein Menschenleben. Für Antworten sei sie an dem Tag aber ohnehin nicht mehr zugänglich gewesen. Irgendwann hätten ihre Knie nachgegeben, sie sei zusammengesackt. Den restlichen Tag und den Tag darauf habe sie weinend im Bett verbracht. „Ich kannte weder Farkhunda noch jemanden aus ihrer Familie, aber ihr plötzliches Fehlen brachte mich fast um.“

Noch bitterer wurde es für Rada als bekannt wurde, dass Farkhunda gar keinen Koran verbrannt hatte. Im Gegenteil – es stellte sich heraus, dass die junge Frau eine tiefreligiöse Studentin des Islamischen Rechts war, die gegen abergläubische Praktiken kämpfte. Immer wieder hatte Farkhunda die Moschee und den angeschlossenen Schrein besucht, in dem Mullahs gegen Geld sogenannte tawiz, kleine Zettelchen oder Amulette, verkaufen. Diese sollen gegen Krankheit oder Unfruchtbarkeit helfen, ja sogar, um ausländische Visa zu erhalten.

Farkhunda betrachtete – wie orthodoxe islamische Gelehrte – die tawiz als unislamisch und legte sich mit ihren Verkäufern an, versuchte, sie davon abzubringen. Augenzeugenberichten zufolge, die der Think Tank „Afghanistan Analysts Network“ aufnahm, soll an jenem 19. März schließlich der Verwalter des Schreins wohl aus Angst um seine Einnahmen Farkhunda bezichtigt haben, den Koran verbrannt zu haben. Und über das Vorderfenster der Moschee „alle wahren Muslime“ aufgerufen haben, „den Koran zu verteidigen.“

Enttäuscht von der Jugend

Ein Mob von 400 Männern folgte seinem Appell, eine große Zahl von ihnen machte Videos mit ihren Handys, nur wenige versuchten, Farkhunda zu helfen. Der Großteil der an der Tat beteiligten war zwischen 20 und Ende 30. „Ich war noch nie so enttäuscht“, sagt Rada. Denn wie bei vielen Afghanen liegt auch Radas Hoffnung für ihr Land in der Jugend – dass die jungen Menschen die so dringend notwendigen Veränderungen anschieben und einen Wandel vorantreiben. Dass die Jungen wegkommen von den Schrammen, die mehr als drei Dekaden traumatisierender Bürgerkrieg hinterließen. Dass sie den alten Hass, die hohe Gewaltbereitschaft und die niedrige Toleranz überwinden. „Das Schicksal Farkhundas führte mir die Realität vor. Ich musste sehen, wie weit wir immer noch von der Vorstellung unseres idealen Landes entfernt sind“, sagt Rada Akbar. Der Tod habe sie völlig demoralisiert.

Farkhundas Tod löste neben Ernüchterung aber auch eine außerordentliche Mobilisierung der Zivilgesellschaft aus. Zahlreiche Demonstrationen in mehreren Städten folgten, tausende Aktivisten trugen Masken mit dem Foto des blutverschmierten Gesichtes Farkhundas. 40 Tage nach ihrem Tod wurde der Lynchmord vor der Moschee nachgestellt, Zuschauer brachen in Tränen aus. Politiker und Offizielle, etwa der Vizekulturminister oder der Sprecher der Polizei, die die Tat – freilich noch nicht wissend, dass die Anschuldigung gegen Farkhunda unwahr war – gutgeheißen hatten, mussten auf Druck der Öffentlichkeit zurücktreten. Neben dem Mord empörte die Menschen vor allem die Untätigkeit der Polizei, genauso wie manche Aktivisten in Fernsehdebatten und bei Demonstrationen den blinden Gehorsam gegenüber Mullahs infrage stellten.

Frauen übernehmen Farkhundas Sarg

Das eindrücklichste Protestzeichen wurde bei der Beerdigung Farkhundas im Norden Kabuls vier Tage nach ihrem Mord gesetzt. In einer für das Land äußerst unüblichen Geste wurde der Sarg der Ermordeten von Frauen zu Grabe getragen. „Ich wollte ihr nahe sein“, sagt Rada Akbar, eine von gut zwanzig Sargträgerinnen, über ihr Motiv. Bereits zuvor kursierte in einem geheimen Internet-Chat, in dem Rada sich mit anderen afghanischen Frauen über aktuelle Themen austauscht, die Idee, man dürfe den Sarg Farkhundas nicht Männern überlassen. Und am Tag der Beerdigung ließen die Frauen die Männer den Sarg nicht einmal aus dem Auto heben, als ihn die Familie Farkhundas von der Gerichtsmedizin nach Hause brachte. Sie warfen sogar nach der Verabschiedung beim Haus der Toten die Männer aus dem Wagen und setzten sich selbst für die Fahrt zum Friedhof neben den Sarg.

Aber auch am Tag der Beerdigung Farkhundas konnten sich die Frauen – Journalistinnen, Frauenrechtsaktivistinnen oder Schauspielerinnen – nicht überall durchsetzen. „Als das Totengebet gesprochen wurde, schickten uns die Männer in die zweite Reihe, da das Gebet nicht akzeptabel sei, wenn Frauen neben dem Sarg stehen,“ erzählt Rada, „nach dem Gebet aber nahmen wir den Sarg wieder hoch und trugen ihn zum Grab.“

Verblasste Hoffnungen

Heute, gut fünf Monate nach dem Mord, verblassen trotz des anfänglichen Aufschreis in der Gesellschaft Radas Hoffnungen, Farkhundas Tod könnte langfristig etwas bewirken. In den darauf folgenden Debatten über die Gründe wurde einerseits die Art, wie Religion in Afghanistan praktiziert und gelehrt wird, angeprangert: Eine radikale Interpretation sei im Mainstream angelangt.

Oder die Schuld wurde in der säkulare Gesellschaft gesucht: Die damit gemeinte Zivilgesellschaft des Landes habe durch verschiedene, unislamische Aktionen – darunter etwa die Verbreitung von Bildern einer Frau, die mit unbedeckten Beinen und barfuß durch Kabul lief – die vom Staat in der jüngeren Vergangenheit nicht geahndet worden waren, eine Reaktion von Gläubigen praktisch provoziert. Diese Meinung war vor allem bei sehr religiösen Aktivisten verbreitet.

Wieder andere werteten die Tat als Beweis einer Verrohung der Gesellschaft nach mehr als drei Jahrzenten Bürgerkrieg. Amin Ahmadi, Dekan einer Kabuler Universität, sah einen der Hauptgründe darin, dass Religion in der afghanischen Gesellschaft identitätsstiftend ist – und somit jede gefühlte Beleidung der Religion eine emotionale Reaktion hervorrufe.

Rada Akbar ist heute vor allem enttäuscht. Nicht nur von der Jugend, auch vom Staat. In erster Instanz wurden – in einem von Experten als fragwürdig eingestuften und lediglich drei Tage dauernden Gerichtsprozess – vier Männer zum Tod verurteilt, acht zu jeweils 16 Jahren Gefängnis,18 weitere Angeklagte wurden freigesprochen. Elf Polizisten wurden zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt – dem absolutem Minimum des gesetzlich vorgesehenen Strafmaßes, acht weitere freigesprochen. In zweiter Instanz kippte das Berufungsgericht in einem Prozess hinter verschlossenen Türen die vier Todesstrafen. Sie wurden zu Haftstrafen von 20 Jahren für drei der Täter, für zehn Jahre für den vierten Täter umgewandelt.

Deshalb sagt Rada zum Abschied: „Das Leben von Frauen bleibt einfach weniger wert als das von Männern.“

 

Weiterführende Links: 

Fotoprojekt zu den Sargträgerinnen: https://www.lensculture.com/projects/105903-farkhunda?fb_action_ids=430120457148536&fb_action_types=og.shares

Rada Akbar Fotografie: http://www.radaphotography.com/

WARNUNG! Diese Aufnahmen von Farkhundas Martyrium sind nicht für jeden geeignet. Die Betrachtung erfolgt auf eigenes Risiko: https://www.youtube.com/watch?v=jyb3G7lZ7PM und https://www.youtube.com/watch?v=mD_zw47hC0I

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Von Veronika Eschbacher, Wien

Veronika Eschbacher war, bis zum Fall Kabuls 2021, Büroleiterin der Deutschen Presse-Agentur für Afghanistan und Pakistan. Davor war sie freie Korrespondentin für die USA und Afghanistan. Ihre journalistische Laufbahn begann als Redakteurin für Außenpolitik und Außenwirtschaft bei der österreichischen Tageszeitung „Wiener Zeitung“. Sie beschäftigt sich in ihren Reportagen und Analysen vor allem mit politischen und sozialen Themen, aber auch mit Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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