In Süditaliens Landwirtschaft waltet ein mafiöses System, das nicht nur Migrant*innen, sondern auch italienische Frauen mit unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf den Feldern ausbeutet. Eine Gruppe von Arbeiterinnen in Apulien hat sich nun gegen die Methoden der Agrarmafia verbündet.
Von Helen Hecker, Palermo
Wenn die meisten noch tief und fest schlafen, rollen Kleinbusse durch die dunklen Vororte der süditalienischen Provinz Taranto. Sie sammeln die Landarbeiter*innen ein, die mit gepacktem Koffer vor ihrer Haustür warten. Fast alle sind Frauen. Gegen drei Uhr morgens beginnt die Reise ins Nirgendwo. Außer dem Fahrer weiß keine*r, wohin es geht und wann er oder sie wieder heimkehren wird. Nur eines ist sicher: Ein endloser Tag Arbeit liegt vor ihnen.
Mehr als 30 Jahre dieser Knochenarbeit lasten auf den Schultern der Italienerin Lucia Pompigna. Sie kennt die Tyrannei in der Landwirtschaft ihrer Heimat nur zu gut. „Nicht nur Migranten werden schonungslos ausgebeutet – hinter all dem steckt ein System, unter dem, vor allem hier in Apulien, auch italienische Frauen leiden.“
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Ihren ersten Arbeitstag auf dem Feld wird die 58-Jährige niemals vergessen: „Als es draußen noch stockfinster war, hielt der Bus plötzlich an. Der Fahrer riss uns aus dem Schlaf und schrie ‘Du, du und du. Raus!’ Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren oder wohin wir gebracht wurden.“ Meist begann ihre Arbeit mit Sonnenaufgang, endete aber selten mit Einbruch der Dunkelheit. „Manchmal mussten wir die Weintrauben sogar mit Taschenlampen oder im Scheinwerferlicht ernten.“
Bis zu zwölf Stunden dauert so ein Arbeitstag in der gleißenden Sommerhitze. Von April bis November wird alles geerntet: von Tomaten über Erdbeeren, Gemüse und Weintrauben bis hin zu Oliven oder Zitrusfrüchten. Auf die Gesundheit und den Schutz der Arbeiter*innen habe niemand Wert gelegt. „Nicht selten haben wir an steilen Hängen riskiert, von den Leitern zu stürzen.“ Bis zu 18 Personen wurden in die Kleinbusse gestopft, die nur für neun zugelassen waren.
Das Schlimmste seien jedoch die täglichen Erniedrigungen und doppeldeutigen Avancen gewesen. „Das ‚Capolarato‘ (gemeint ist damit die systematische Anwerbung von landwirtschaftlichen Hilfskräften zu prekären Arbeitsbedingungen) ist ein von Männern dominiertes Phänomen. Wir Frauen waren für sie nur Objekte“, erzählt Lucia Pompigna. Und weiter: „Einmal wurde unser Bus auf dem Weg zum Feld angehalten und der Fahrer wurde gefragt: ‘Was willst du pro Frau?’ Ich fühlte mich wie ein Stück Vieh.“
Um künftig anderen ähnliche Erfahrungen zu ersparen, mobilisiert die 58-Jährige vergangenen Sommer rund 50 Arbeiterinnen, die an ihrer Seite das erste Frauennetzwerk gegen die sogenannte „Agromafia“ gründeten. Unterstützung bekommen Pompigna und ihre Mitstreiterinnen von dem Verein „NoCap“, der 2017 von dem aus Kamerun stammenden IT-Ingenieur Ivan Sagnet gegründet wurde.
Sagnet und Pompigna lernten sich bereits Jahre zuvor in den Kreisen der italienischen Agrargewerkschaft „FLAI-CGIL“ kennen. Beide verbindet eine einschneidende Lebenserfahrung: Sie selbst sind Opfer der Demütigungen und Ausbeutung durch die Caporali – also jenen dubiosen Mittelsmännern, welche die Zügel in Italiens Landwirtschaft in Händen halten.
Erst seien es Frauen aus Apulien und der Basilikata gewesen, dann kamen Albaner*innen und Rumän*innen dazu und letztlich beuteten sie afrikanische Flüchtlinge aus. „Die Caporali suchen sich Tagelöhner*innen, die sie leicht kontrollieren können. Frauen sind bei ihnen beliebt, weil sie angeblich geschickter beim Ernten der empfindlichen Erdbeeren oder Trauben sind und sich leichter einschüchtern ließen“, erklärt Ivan Sagnet.
2011 war der Afrikaner einer der Wortführer des größten Migrant*innen-Streiks nahe der kalabrischen Stadt Nardò und sagte als Kronzeuge im Strafprozess gegen einen der Mafia-Bosse aus. „Es darf keinen Krieg zwischen den Armen geben, denn das Problem sind nicht die Einwanderer, die unsere Jobs stehlen, sondern diejenigen, die uns ausnutzen. Wir alle müssen den Mut finden, Nein zu sagen“, meint Lucia Pompigna.
Das schmutzige Geschäft mit den Landarbeiter*innen
Zu Beginn seien die Caporali selbst Arbeiter gewesen, die mit ihren Autos oder kleinen Lastern dorthin fuhren, wo sie Arbeit fanden und Familienmitglieder und Bekannte mitnahmen, erzählt die Vertrauensfrau der Gewerkschaft: „Vor allem waren es Italiener, die in den 60er Jahren als Gastarbeiter emigrierten und später desillusioniert in ihre Heimat zurückkehrten.“ Mit der Zeit übernahmen jedoch lokale Drahtzieher die Rolle der Transporthelfer und machten aus der Not ein Geschäft.
Anstatt nur die Beförderung der Erntehelfer*innen zu arrangieren, organisieren sie ganze Trupps und bieten diese den Agrarbetrieben zu günstigen Konditionen und ohne reguläre Arbeitsverträge an. Je mehr Arbeitskräfte sie auftreiben, desto lukrativer wird das Geschäft. In der Regel verdient der Caporale rund 40 Prozent am Tageslohn, den Arbeiter*innen selbst bleiben so nur 22 bis 27 Euro Verdienst. Zwar habe der italienische Staat mittlerweile hohe Strafen auf die illegalen Vermittlung von Arbeitskräften erlassen, doch das Capolarato sei eine flexible und agile Institution, die sich schnell dem Markt und neuen Gesetzen anpasse.
Einige der Caporali hätten zum Beispiel legale Busunternehmen oder Reiseagenturen gegründet. „Es kam vor, dass wir für einen Streik nach Rom fuhren und uns der gleiche Reisebus abholte, mit dem wir eine Woche zuvor auf den Feldern waren“, so Pompigna. Um der Ausbeutung Einhalt zu gebieten, bedürfe es deshalb weitaus mehr als behördlicher Kontrollen. „Das Capolarato bietet effektive Lösungen, wo öffentliche Institutionen versagen und eine Lücke hinterlassen. Aus diesem Grund werden sie nicht nur von den Bauern geschätzt, sondern leider auch von den Arbeiterinnen selbst.“
Keine andere Wahl
Das liege nicht zuletzt an der scheinbar ausweglosen Situation in Süditalien. Pompigna hat das am eigenen Leib erfahren: „Die Mädchen beginnen hier bereits mit 15 Jahren auf den Feldern zu arbeiten. Bei mir war das anders.“ Nach ihrem Schulabschluss machte sie eine Ausbildung zur Buchhalterin. Sie fand einen Job in einem Sicherheitsunternehmen, entdeckte jedoch schnell die Kehrseite der Medaille. „Ich zog es vor zu gehen, anstatt für eine korrupte Firma zu arbeiten.“
Fortan engagierte sich die junge Frau im italienischen Gewerkschaftsbund. Dann wurde ihr Mann kurzzeitig arbeitslos und alles änderte sich: „Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an einen Caporale zu wenden.“ Damals war sie 26, ihr zweiter Sohn gerade einmal fünf Monate alt. „Ich wusste genau, was mich auf den Feldern erwartete, aber ich hatte keine andere Wahl. Das Essen musste auf den Tisch.“
Wie bei vielen anderen Frauen bleibt das Familienleben dabei auf der Strecke: „Ich verließ das Haus in der Nacht und kam entweder völlig entnervt abends zurück oder blieb sogar Wochen von zu Hause fern“, erzählt die heute dreifache Mutter. Ohne den seelischen Beistand ihres Mannes und ihrer Mutter, die auf die Söhne aufpasste, hätte es nicht funktioniert.
In Apulien, dem Stiefelabsatz der Apenninenhalbinsel, sind nach Angaben des Europäischen Amtes für Statistik nur 33,2 Prozent der Frauen in einem geregelten Beschäftigungsverhältnis. Besonders in der Provinz Taranto wurden in den vergangenen Jahren durch massenhafte Entlassungen des maroden Stahlwerks Ilva Tausende von Familien von Arbeitslosigkeit betroffen.
Diese schwierige Lage nötigt immer mehr Frauen dazu, die Konditionen der Caporali zu akzeptieren. Laut „NoCap“ sind derzeit etwa 30.000 Frauen für die Agrarmafia tätig. Deren jährlicher Gesamtumsatz stieg nach Angaben des italienischen Bauernverbandes Coldiretti im Jahr 2019 um 12,5 Prozent auf 24,5 Milliarden Euro. Damit scheint das System nahezu immun gegen die Stagnation der italienischen Wirtschaft und die Spannungen im Welthandel zu sein.
Ein einschneidendes Erlebnis für Lucia Pompigna war der Todesfall der 49-jährigen Paola Clemente, die im Juli 2015 nach einem 13-stündigen Arbeitstag beim Ernten von Weintrauben an einem Herzinfarkt verstarb. Das rüttelte nicht nur die Presse und die Behörden wach, sondern auch einige wenige Arbeiterinnen. Gleichzeitig ist es schwierig für sie aufzubegehren, weil sie oft als Einzige für das Einkommen der Familie sorgen und durch ihren Widerstand bei den Caporali in Ungnade fallen.
Auch Pompigna wurde von den Mittelsmännern psychisch unter Druck gesetzt: „Obwohl sie mich weiter beschäftigten, schadeten sie meinen Freundinnen und wollten ein Exempel statuieren, ganz im Sinne von: ‚Schaut, was passiert, wenn ihr dem Querkopf folgt. Sie kommt heile davon, während ihr teuer bezahlt.“ Doch die Rebellin gab nicht auf, suchte sich mit dem Verein „NoCap“ einen starken Partner und überzeugte andere Frauen, gemeinsam aus dem System auszusteigen.
Die Konsument*innen entscheiden
Damit sich langfristig etwas ändert, sei es entscheidend, alle Akteure ins Boot zu holen. Mit dem Projekt „Iamme“ (Dialekt für „Los geht’s!“) wollen sie eine bioethische Produktionskette ankurbeln, die Arbeiter*innen, Agrarbetriebe, Vertriebspartner*innen, Supermärkte und Konsument*innen miteinander verbindet.
Obwohl die Weine in Apulien für viel Geld ins Ausland verkauft werden, bekommen die Bauer selber nur Dumpinglöhne und können kaum von ihrem Verdienst leben. Deshalb wollen die Aktivist*innen zum Einen Verbraucher*innen sensibilisieren und zum Anderen Druck auf Vertriebsketten und den Handel ausüben. So entwickelte der Verein mit der italienischen Supermarktkette „Megamark“ ein Label für fair erwirtschaftete Bio-Produkte.
Dadurch bekämen die Konsument*innen selbst die Möglichkeit zu wählen, ob sie mit ihrem Geld die Ausbeutung auf den Feldern finanzieren wollen oder für menschenwürdige Arbeitsbedingungen wenige Cent mehr ausgeben wollen. Seit vergangenen Sommer unterstützt der Verein mit dem Projekt auch das neue Frauennetzwerk in Apulien und der Basilikata. Erstmals ernteten Lucia Pompigna und 50 andere Arbeiter*innen auf einer Bio-Farm Tafeltrauben mit einem geregelten Arbeitsvertrag von 6,5 Stunden und einem Tageslohn von 30 Euro. Zusätzlich erhielten sie kostenfreie Unterkunft und Transport.
Das sei ein erster wichtiger Schritt in die Unabhängigkeit, weiß Lucia Pompigna. Dennoch stünden sie erst am Anfang. „Damit wir die Frauen auf lange Sicht nicht erneut an die Caporali verlieren, müssen wir unser Netzwerk von Agrarbetrieben erweitern.“ Gegebenenfalls bedeutet dies, auch mit Bauern zusammenzuarbeiten, die noch nicht zu 100 Prozent auf biologischen Anbau umgerüstet haben. „Nur wenn wir allen Arbeit über die gesamte Saison garantieren können, wird es ausreichen, die Familien zu ernähren und der Sklaverei auf den Feldern eine Ende zu setzen.“
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