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Reisende in Sachen Kinderrechte
Schutz und Bildung für Mädchen

22. Januar 2020 | Von Anne Klesse
Maike Röttger ist seit 2010 Geschäftsführerin der Organisation „Plan International“ in Deutschland. Fotos: Anne Klesse

Auch 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention gibt es noch immer viel zu tun. Maike Röttger, Geschäftsführerin der Organisation „Plan International“ in Deutschland, setzt sich dafür ein, dass Mädchen gleiche Chancen auf Bildung haben. Sie ist überzeugt: Nur so ist Veränderung möglich.

Von Anne Klesse, Hamburg

Maike Röttger kann so schnell nichts aus der Bahn werfen. Doch diese eine Reise lässt sie nicht los. Die Bilder in ihrem Kopf von hungernden Menschen verfolgen sie. Die Erinnerungen an die leidenden Kinder. Die Hoffnungslosigkeit. Maike Röttger besuchte 2019 als Vorsitzende der Geschäftsführung der Kinderhilfsorganisation „Plan International“ Deutschland mit einer Delegation in Lateinamerika laufende Projekte. An der Grenze zwischen Ecuador und Peru fuhr sie beispielsweise in ein Lager für Flüchtlinge aus Venezuela. „Ich habe schon einiges gesehen, aber die Situation dort hat mich wirklich tief betroffen gemacht“, sagt sie.

 

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Mindestens zweimal im Jahr reist sie zu Plan-Projekten. Während sie anderswo meist Optimismus spüre und auf Menschen treffe, die sich im Flüchtlingslager engagieren und ihre Zukunft planen, habe sie dort nur lähmende Trostlosigkeit gesehen. „Die Flüchtlinge aus Venezuela sind Spielball mehrerer Regierungen. Da zieht ein Exodus durch Lateinamerika. Die Menschen kommen mit nichts außer dem, was sie am Leib tragen – und stecken fest, sie können nirgends bleiben, kein Land will sie aufnehmen.“ Röttger schüttelt den Kopf: „Da möchte man nicht Kind sein.“

Frauen aufzeigen was in ihnen steckt 

Ein Drittel der Weltbevölkerung – das sind 2,3 Milliarden Menschen – ist unter 18 Jahre alt und hat laut „Plan International“ ein doppelt so hohes Risiko, künftig in extremer Armut zu leben. Vor allem in den ärmsten Ländern der Erde müssten die Kinder gestärkt werden, um das zu verhindern, fordert Röttger: „Wir wollen, dass sie gleichberechtigt aufwachsen können, Bildung erhalten und die Chance haben, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.“ Die Organisation setzt sich insbesondere für Mädchen und junge Frauen ein. Sie sollen später Führungsrollen und politische Verantwortung übernehmen. Denn wenn Frauen an den Machtstrukturen teilhaben, helfe das der gesamten Gesellschaft.

Maike Röttger kennt viele Positivbeispiele. Etwa das der 19-jährigen Jazmina in einem Dorf in Ecuador. Ein Jahr nach ihrem ersten Besuch traf Röttger sie wieder. Während zuvor feindselige Stille und Gewalt im männlich dominierten Dorf vorherrschten, bot Jazmina mit Hilfe von „Plan International“ mittlerweile Elternkurse an und war sogar zur Bürgermeisterin gewählt worden. „Frauen haben eine Kooperative gegründet, führen einen Dorfladen, haben eigenes Einkommen, unterstützen sich gegenseitig und binden ihre Männer in die Familienarbeit ein“, erzählt die Geschäftsführerin. „Das war eine ganz andere Stimmung im Ort.“

Vor 30 Jahren, am 20. November 1989, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention ist Grundlage für die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie „Plan International“. „Es ist das wichtigste Versprechen, das wir den Kindern weltweit gegeben haben“, so Maike Röttger. „Der Spruch „Unsere Kinder sind die Zukunft“ sagt sich so leicht – aber handeln wir tatsächlich danach? Das sollten wir immer wieder prüfen.“

Schlüsselerlebnis bei Arbeit über „Crash Kids“

Tatsächlich gibt es trotz aller Erfolge noch viel zu tun: 130 Millionen Mädchen weltweit gehen nicht zur Schule. 750 Millionen Mädchen und Frauen, die auf der Erde leben, wurden vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Sie können sich nicht entfalten, denn sie werden viel zu früh schwanger. Viele von ihnen gehen deshalb nicht mehr zur Schule und haben so keine Chance mehr auf soziale Teilhabe. Das Problem: Die Spirale setzt sich fort, wenn es keine Aufklärung gibt.

Bildung verändert alles, davon ist die 53-Jährige überzeugt. Eines der Schlüsselerlebnisse dafür habe sie in den 90er Jahren gehabt. Als Redakteurin des „Hamburger Abendblatt“ schrieb sie über die sogenannten „Crash Kids“, Kinder und Jugendliche, die Autos knackten und sie zu Schrott fuhren. Sie besuchte ein Resozialisierungsprojekt und sah, wie sich die Jugendlichen veränderten. „Vermutlich haben sie dort erstmals so etwas wie Zuneigung und den Wert von Bildung kennengelernt.“

Sie selbst wuchs in Hannover und Kiel auf. Ihre Eltern hätten als Nachkriegskinder keine Möglichkeit gehabt, zu studieren, unterstützten die Tochter aber so gut sie konnten: „Meine Eltern haben mich immer darin bestärkt, mir alles an Bildung zu nehmen, was ich kriegen kann – und meinen eigenen Weg zu gehen.“ Während des Geschichts-Studiums an der Universität Hamburg hospitierte sie in der Redaktion des „Hamburger Abendblatt“. Das war 1989, die Zeit der Wiedervereinigung.

Röttger beendete ihr Grundstudium und blieb bei der Regionalzeitung. 2010 wechselte sie zu „Plan International“. Gereizt habe sie der Wechsel aus der Beobachterrolle hin zur Aktivistin. Als Vorsitzende des Kinderhilfswerks ist sie für etwa 200 Mitarbeiter*innen und 172,8 Millionen Euro Spendeneinnahmen im Jahr verantwortlich. Sie redet den Bundestagsabgeordneten immer wieder als Expertin ins Gewissen, zum Beispiel wenn es um die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit geht.

In den 70er Jahren hatten sich die OECD-Staaten das Ziel gesetzt, jedes Jahr 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Viele – auch Deutschland – halten dieses Ziel jedoch nicht ein, im Durchschnitt wenden die G7-Länder gerade mal 0,27 Prozent auf. 2018 gab Deutschland 0,51 Prozent des Bruttoinlandseinkommens für Entwicklungshilfe aus. 2016 war das Ziel von 0,7 Prozent erreicht worden – allerdings nur, weil die Bundesregierung Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland anrechnete.

Dabei leben aktuell mehr als 250 Millionen Kinder in Konfliktgebieten oder sind auf der Flucht. „Wenn da nichts getan wird, haben sie keine Zukunft“, so Röttger. Die großen Flüchtlingslager, ursprünglich als Nothilfemaßnahme für kurze Zeit geplant, existieren im Durchschnitt zwölf Jahre. „In jedem dieser Lager müssen von Anfang an Bildungsstrukturen für Kinder geschaffen werden. Sonst verlieren wir Generationen.“ Wer zur Schule geht und einen Beruf lernt oder studiert, kann eigenes Einkommen verdienen, eine Familie ernähren. „Jedes Jahr auf der weiterführenden Schule mehr führt zu 20 Prozent mehr Einkommen, das in die Familie investiert wird“, weiß sie. Das überzeuge auch kritische (Männer-)Stimmen.

Bewegende Gespräche im Frauenhaus

„Sich für die Gleichberechtigung von Mädchen einzusetzen bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass wir die Jungen diskriminieren wollen“, erläutert Röttger. Im Gegenteil, immer wieder erlebe sie, dass junge Männer erleichtert seien, wenn Frauen mehr Verantwortung übernähmen. „Gerade in den Machismo-Gesellschaften in Lateinamerika, in denen Gewalt eine riesige Rolle spielt, lastet auf den Brüdern, Vätern und Großvätern oft ein immenser Druck. Wenn ihnen Alternativen aufgezeigt werden, ist das oft eine große Erleichterung.“ Denn: Empowerment von Mädchen und Frauen funktioniere nur gemeinsam mit Jungen und Männern.

Anfang 2019 besuchte Röttger Projekte im Nordosten Nigerias, wo viele Gebiete von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram besetzt sind. Ihren Aussagen zufolge missachte Boko Haram Frauen und zerstöre gezielt die Bildung von Mädchen. In einem dort von „Plan International“ aufgebauten Frauenhaus ist sie überlebenden Opfern begegnet. Die Frauen erzählten von jahrelanger Gefangenschaft, Zwangsheirat, Schwangerschaften durch Vergewaltigung. Sie erzählten von ihrem Entkommen und wie sie von der eigenen Familie verstoßen wurden.

Als sie fragte: „Was wünscht ihr euch für die Zukunft?“ seien die Frauen aufgestanden: „Wir haben es satt, wir wollen so nicht mehr leben. Wir wollen zur Schule gehen, endlich etwas lernen!“ Maike Röttger sitzt in ihrem hellen, mit Reisesouvenirs und Geschenken aus aller Welt dekorierten Büro in Hamburg-Barmbek, holt tief Luft und sagt dann: „Es war großartig zu sehen, welche Kraft diese Frauen trotz ihrer furchtbaren Erfahrungen und dem Elend um sie herum haben.“

Beeindruckt von „Fridays for Future“

Nach solchen Begegnungen schreibt Röttger ihre Eindrücke oft noch im Flugzeug nach Hause auf, um sie nicht zu vergessen und um sie zu verarbeiten. Außerdem helfe es ihr, wenn sie mit Kolleg*innen und Familienangehörigen darüber spreche. Beeindruckt sei sie auch von der weltweiten „Fridays for Future“-Bewegung. „Die demonstrierenden Jugendlichen bestätigen meinen Eindruck aus unseren Projekten, dass die jungen Menschen nicht mehr still sein wollen. Sie stehen auf, erheben ihre Stimme und fordern ein, beteiligt zu werden. Das finde ich toll!“

In Röttgers Büro hängt ein Foto, das sie mit ihrer Plan-Patentochter Kalkidan in Äthiopien zeigt. Ihr Mann und sie haben in jeder Region, in der „Plan International“ aktiv ist, ein Patenkind: in Ägypten, Äthiopien, Kolumbien und Timor Leste. Maike Röttger hat zwei von ihnen bereits persönlich getroffen. „Ich habe Kalkidan besucht und mit ihr gespielt – das war ein sehr berührender Moment.“

 

Infobox:

Seit 1937 kümmert sich „Plan International“, damals noch unter anderem Namen, um das Wohlergehen von Kindern. 1989, im Jahr der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention, an deren Ausarbeitung „Plan International“ beteiligt war, wurde das Büro in Hamburg gegründet. Von den weltweit 1,2 Millionen Kinderpatenschaften betreut Plan International Deutschland mittlerweile mehr als 340.000 und erreicht damit in den Projektgebieten laut eigener Aussage rund drei Millionen Menschen.

 

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Von Anne Klesse, Hamburg

Anne Klesse ist freie Journalistin. Nach dem Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat sie an der Axel Springer Journalistenschule volontiert und war Redakteurin der Welt, Welt am Sonntag und Berliner Morgenpost in Berlin. Dort schrieb sie insbesondere Porträts und Reportagen. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wächterpreis der Tagespresse. Mehr: www.anneklesse.de.

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