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Reise an den Anfang
Zwei US-amerikanische Adoptivtöchter testen das Leben in China

13. Juli 2015 | Von Sabine Muscat
Die US-amerikanische Journalistin Melissa Ludtke mit ihrer Adoptivtochter Maya im Jahr 1997. Foto: Stan Grossfeld

Maya Ludtke, eine US-amerikanische Adoptivtochter aus China, reist an den Ort ihrer Herkunft – und ihre Adoptivmutter Melissa macht ein Multimedia-Projekt daraus.

Von Sabine Muscat, Washington D.C.

Es war der Pferdeschwanz, der eine Chinesin aus ihr machte. Auf dem Video sitzt Maya Ludtke auf einem Holzschemel, umringt von Zuschauerinnen. Hinter ihr steht ein etwa gleichaltriges Mädchen, das ihr die langen schwarzen Haare kämmt und über dem Kopf wieder zusammenbindet – so hoch wie möglich, wegen der Hitze. Mit der neuen Frisur sieht Maya Ludtke aus wie das Mädchen aus Xiaxi (sprich: Hsiahsi), das sie hätte werden können, wenn ihre Geburtsmutter sie nicht verlassen hätte.

Im September 1996 wurde ein neugeborenes Mädchen in diesem Ort an einem Trampelpfad ausgesetzt, über den die Bauern auf die Felder gelangen. Im Waisenhaus in der nahen Stadt Changzhou gab man ihr den Namen Chang Yulu. Ein paar Monate zuvor, im Juni 1996 hatte die Amerikanerin Melissa Ludtke im fernen Boston beschlossen, sich den Traum vom Muttersein zu erfüllen. Sie war damals 45, alleinstehend und kinderlos. Auf den Rat einer Freundin hin wandte sie sich an die Organisation „China Adoption with Love“. Ein Jahr später, im Juni 1997, hielt sie ihr Baby in den Armen – und aus Yulu wurde Maya.

Im Sommer 2013 reiste Ludtke gemeinsam mit ihrer Tochter zurück nach China, nach Changzhou, und nach Xiaxi. Mit von der Partie: Mayas Freundin Jennie und ihre Adoptivmutter. Jennie war zur gleichen Zeit wie Maya adoptiert worden, auch sie von einer „single mom“. Mütter wie Töchter sind bis heute Freundinnen.

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Im ländlichen China suchten die amerikanischen Teenager nach der Kindheit und Jugend, die sie dort gehabt hätten. „Ich traf die Mädchen, mit denen ich zusammen hätte aufwachsen können“, schrieb Maya Ludtke später in einem Essay. „Und mit ihnen besuchte ich die Orte, an denen ich meine Tage verbracht hätte.“ Sie beschreibt die Gefühle, die sie bei diesem Besuch hatte, als eine Mischung aus „tiefer Verbundenheit und unüberbrückbarer Distanz“.

Die Mädchen in Xiaxi hatten viele Fragen über das Leben im fernen Amerika. Sie erfuhren, dass es dort in Ordnung sei, Hobbys nachzugehen, statt den ganzen Tag für die Schule zu büffeln. Und sie setzten sich zum ersten Mal mit den Rollenvorstellungen im ländlichen China auseinander, wo bis heute oft die Männer in den Familien das Sagen haben.

Aber auch Maya und Jennie lernten vieles durch die Begegnung: Sie waren beeindruckt vom Zusammenhalt in den Familien in Xiaxi, wo oft mehrere Generationen zusammenleben. Nicht immer werden die Kinder dabei von den eigenen Eltern großgezogen, manchmal helfen Großeltern oder andere Verwandte aus – auch das war für die Adoptivkinder aus den USA überraschend.

Die Teenager wurden bei ihren Erkundungen von einer Dokumentarfilmerin begleitet. Melissa Ludtke ist Journalistin und sie will die Geschichte von Maya und Jennie multimedial aufbereiten. „Touching Home in China“, ist der Titel ihres digitalen Buches. Ein Pilotkapitel steht bereits – vollgepackt mit Fotos, Videos und interaktiven Graphiken, durch die der Leser ganz nebenbei einen Crash-Kurs in chinesischer Geschichte erhält.

Es ist die Geschichte jedes Adoptivkindes

Aus Ludtkes Sicht ist die Geschichte ihrer Tochter mehr als nur ein Einzelschicksal. Sie ist die Geschichte jedes Adoptivkindes, das nach seiner Herkunft forscht. Sie ist eine Geschichte über Einwanderung und interkulturelle Verständigung. Und sie ist eine Geschichte über Mädchen- und Frauenrechte in den USA und in China.

Bei einem Besuch in Washington D.C. erklärt Ludtke ihr Projekt: „In den 1990er und den frühen 2000er Jahren kam ein großer Schwung chinesischer Adoptivkinder in die USA. Diese Mädchen sind jetzt an der Schwelle zum Erwachsensein. Sie verlassen ihre meist weißen Elternhäuser – und werden von der Außenwelt plötzlich als Asiaten wahrgenommen. Das wirft Fragen nach der Identität auf.“

Melissa Ludtke im “Newseum” in Washington DC.

Es sind Fragen, die nicht nur Adoptivkinder stellen, sondern auch Kinder von Einwanderern, die im Schmelztiegel USA aufwachsen. Oder alle Menschen, denen die Globalisierung das Leben in zwei Welten möglich macht. In der Teestube in Washington hätte Ludtke aus mehreren Sorten chinesischem Oolong- oder Longjing-Tee wählen können. Aber an diesem schwülen Tag in Washington hat sie sich für die amerikanische Variante entschieden und trinkt Eistee mit dem Strohhalm.

Ludtke trägt praktische Kleidung und hat ihre langen weißen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden – denn nicht nur in Jiangsu, sondern auch in Washington wird es im Sommer sehr heiß. Sie ist eine resolute Frau, die beim Interview immer wieder die Gesprächsführung an sich zieht. Und immer wieder kommt sie dabei zu dem Thema, das ihr eigenes Leben geprägt hat: die Rechte von Frauen.

Als junge Reporterin für die Zeitschrift Sports Illustrated klagte sie 1978 gegen die nationale amerikanische Baseball-Liga, nachdem die New York Yankees ihr den Zutritt zu den Umkleidekabinen verwehrt hatten – weil sie eine Frau war. Sie gewann den Prozess, über den heute sogar das Newseum, das Journalismus-Museum in Washington, in seiner Dauerausstellung informiert.

Im ländlichen China fühle sie sich in die Anfangszeit der Frauenbewegung in den USA zurück versetzt, sagt Ludtke. Die gesellschaftlichen Erwartungen, denen die jungen Mädchen sich dort heute noch ausgesetzt sähen, seien „ein Spiegel dessen, was meine Generation in den USA durchgemacht hat.“

Im Herbst kommt das eBook

Ludtke will ihr eBook im Herbst veröffentlichen. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt: Im September jährt sich die Frauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking zum 20. Mal. Damals hatte die frühere First Lady der USA, Hillary Clinton, die berühmten Worte gesagt: „Menschenrechte sind Frauenrechte und Frauenrechte sind Menschenrechte.“

Seit dieser Rede habe sich für Frauen in China viel verändert, sagt Melissa Ludtke: „Die jungen Mädchen haben heute mehr Ressourcen und Chancen, aber die Geschichten aus dem ländlichen Jiangsu erinnern auch daran, dass es noch ein langer Weg ist, Traditionen und Einstellungen zu ändern.“ Eine solche Tradition sei, dass viele Familien auf dem Land nach wie vor lieber einen Sohn als eine Tochter hätten.

In der Provinz Jiangsu, wo Xiaxi liegt, wurde die von Mao Tse-tung eingeführte Ein-Kind-Politik besonders streng ausgelegt. In anderen Gegenden Chinas erlaubten die Behörden der Landbevölkerung, zwei Kinder zu haben, wenn das erste ein Mädchen war. Und so seien in den 1990er Jahren Chinas Waisenhäuser voller Mädchen gewesen, die von ihren Eltern ausgesetzt worden seien, sagt Ludtke. Heute lösen die Familien das Problem meist über Abtreibungen.

„Ultraschall ist zwar verboten, aber trotzdem weit verbreitet.“ Anders ließe es sich nicht erklären, dass in China im Jahr 2014 immer noch 116 Jungen bei 100 Mädchen geboren wurden. „Die Folge davon ist, dass heute in China 30 Millionen überzählige Männer herumlaufen, die keine Frau finden.“

Melissa Ludtke hofft, dass ihr Buch, in dem sie diese Fragen diskutiert, auch in China ein Publikum findet. Sie hat eine chinesische Studentin in den USA damit beauftragt, die Botschaft auf Chinesisch in sozialen Medien zu verbreiten. Die renommierte Publikation Caixin hat einen Essay von Ludtke veröffentlicht, und eine chinesische Journalistin hilft ihr bei der Suche nach einem Verlag.

Ich will die Geschichte in ihrer ganzen Einzigartigkeit erzählen.

Ludkte stört es nicht, dass ihr Projekt bisher finanziell ein Verlustgeschäft ist. „Ich wollte kein kommerzielles Buch machen. Ich will die Geschichte in ihrer ganzen Ehrlichkeit, Einzigartigkeit und Zartheit erzählen.“ Die Reise nach China finanzierte sie von einer kleinen Erbschaft, die ihr ihre Mutter hinterlassen hatte. „Meine Mutter war Ethnologin und forschte zu Frauenthemen. Es wäre in ihrem Sinn gewesen, dass ich das Geld ausgebe, um die Geschichte ihrer Enkelin zu erzählen“, sagt Ludtke.

Mittlerweile hat sie mehr als 50.000 Dollar, umgerechnet 43.000 Euro, über eine Crowdfunding-Kampagne und ein Stipendium eingenommen. Davon finanziert sie das Honorar für die Dokumentarfilmerin Julie Mallozzi und für die Webdesigner, die ihr Buch für das Tablet und als Webseite aufbereiten sollen.

In den USA soll „Touching Home in China“ auch als Lehrmaterial an Schulen zum Einsatz kommen. In Ludtkes Heimatstadt Boston will die Josiah Quincy Oberschule das Projekt nutzen, um kritisches Denken anhand verschiedener Medien zu unterrichten. Der Grund warum ausgerechnet diese US-amerikanische Schule Interesse gezeigt hat, lautet: Sie liegt direkt neben der Chinatown und viele ihrer Schüler stammen aus chinesischen Familien.

Maya Ludtke lebt seit dem High-School-Abschluss für ein weiteres Jahr bei ihrer Mutter, während sie ein Freiwilliges Soziales Jahr für Americorps absolviert. Ab Herbst wird sie am Wellesley College, einer angesehenen amerikanischen Privathochschule für Frauen, Umweltwissenschaften studieren.

Melissa Ludtke (links) mit ihrer Tochter Maya (rechts) im Dezember 2014.

Die Tochter ist stolz auf das Projekt, in dem sie eine Hauptrolle spielt – auch wenn es manchmal schwierig sei, die eigene Mutter ihre Geschichte erzählen zu lassen, wie sie am Telefon zugibt: „Das ist alles sehr persönlich, und manchmal fällt es mir schwer, über meine Eindrücke zu sprechen. Aber ich glaube, dass es wichtig ist.“

Allerdings muss sie derzeit oft sprechen – unter anderem bei der Asian American Women In Leadership Conference und bei einer Veranstaltung von Harvard China Care, einer Organisation, die chinesische Waisenhäuser unterstützt. Jedes Mal melden sich dankbare Zuhörer zu Wort. So berichtete eine junge Frau, dass sie selbst mit der Idee ringe, nach China zu reisen und ihre leiblichen Eltern zu suchen.

Maya Ludtke hatte nie ein Bedürfnis, ihre biologischen Eltern ausfindig zu machen. „Diese Suche ist wenig aussichtsreich und endet oft unglücklich“, sagt sie. „Außerdem habe ich eine Mutter, die mich aufgezogen hat und die mich liebt.“ Und dank ihrer chinesischen Altersgenossin, die ihr an einem heißen Sommertag in Xiaxi die Haare kämmte, hat sie auch in China ein kleines Stück Heimat gefunden.

 Adoption aus China

Die Volksrepublik China erlaubt Ausländern seit 1992, Kinder aus chinesischen Waisenhäusern zu adoptieren. Seither wurden rund 120.000 chinesische Kinder im Ausland adoptiert. 80.000 von ihnen leben in den USA, die restlichen 40.000 überwiegend in Spanien, den Niederlanden und anderen europäischen Ländern.

In Deutschland sind Adoptionen aus China auf Basis des Haager Übereinkommens zur internationalen Adoption zwar theoretisch möglich. Allerdings besteht China auf einem zusätzlichen bilateralen Abkommen, das es bisher nicht gibt. Nach Auskunft des Bundesjustizministeriums gibt es deshalb nur vereinzelte Fälle abgeschlossener Adoptionsverfahren zwischen beiden Staaten.

Die seit 1979 in China geltende Ein-Kind-Politik hatte in konservativen ländlichen Regionen dazu geführt, dass viele neugeborene Mädchen ausgesetzt wurden, weil die Eltern sich einen männlichen Stammhalter wünschten. Mitte der 1990er Jahre, als Melissa Ludtke ihre Tochter adoptierte, waren Chinas Waisenhäuser voller Mädchen.

Die weltweite Nachfrage nach Adoptivkindern aus China wuchs in den Folgejahren rasant, was dazu führte, dass auch Kriminelle ein lukratives Geschäft witterten. Im Jahr 2005 enthüllten chinesische Medien einen Skandal in der Provinz Hunan, wo Kinder entführt und an Adoptionsagenturen verkauft worden waren. Die Zahl der internationalen Adoptionen aus China fiel daraufhin drastisch ab.

Die chinesischen Behörden haben derweil das Programm für Inlandsadoptionen ausgeweitet und die Bedingungen verschärft, unter denen Ausländer chinesische Babys und Kleinkinder adoptieren dürfen. Alleinstehende Frauen oder homosexuelle Paare werden nicht mehr als Adoptiveltern akzeptiert. Selbst übergewichtigen Paaren ist die Adoption aus China verwehrt.

Der wachsende Wohlstand in China sowie die Lockerung der Ein-Kind-Politik haben zudem dazu geführt, dass die Zahl der zur Adoption stehenden Kinder stark gesunken ist. Adoptionsagenturen in den USA bereiten interessierte Paare auf lange Wartezeiten vor – mit einer Ausnahme: Ein Kind mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung – etwa ein Kind mit einer Hasenscharte – sei sehr viel schneller zu bekommen. Denn von den rund 10.000 Kindern, die nach Medienberichten weiterhin jedes Jahr in China ausgesetzt werden, sind heute die meisten krank oder behindert. 

Weiterführende Links:

USA sind immer noch Nummer eins bei Adoptionen aus China: http://www.chinadaily.com.cn/china/2015-04/03/content_19987399.htm

Anhörung vor dem US-Kongress zu Folgen der chinesischen Ein-Kind-Politik: http://www.aei.org/wp-content/uploads/2015/04/Prepared-Statement-Eberstadt-April-29-2015-Final-2.pdf?utm_source=paramount&utm_medium=email&utm_campaign=mediaeberstadtonechildpolicy&utm_content=testimony

Bericht über Kinderhandel und gefälschte Adoptionspapiere in China: http://www.theatlantic.com/china/archive/2013/07/kidnapped-and-sold-inside-the-dark-world-of-child-trafficking-in-china/278107/

Früher waren die Waisenhäuser voller Mädchen, heute sind sie voller behinderter Kinder: http://www.reuters.com/article/2014/02/02/us-china-babies-idUSBREA110M120140202

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Von Sabine Muscat, Washington D.C.

Sabine Muscat war in den vergangenen Jahren freie Korrespondentin in Washington, D.C. Dort hat sie unter anderem für N24 und das Wall Street Journal gearbeitet und auf Deutsch und Englisch publiziert. Sie berichtete über aktuelle politische Ereignisse, aber auch über Themen aus Wirtschaft und Gesellschaft. Sabine Muscats Blog: http://flyingcarpetblog.com.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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