Im deutschen Auswärtigen Dienst sind Menschen mit Migrationsgeschichte unterrepräsentiert. Genau das will Tiaji Sio ändern. 2019 gründete die junge Diplomatin das Netzwerk „Diplomats of Colour“, um mehr Schwarze und People of Colour (PoC) anzusprechen.
Von Eva Tempelmann, Ibbenbüren
Als Tiaji Sio vor einigen Jahren ihre Ausbildung im diplomatischen Dienst begann, wunderte sie sich: Es gab in ihrem Kollegium kaum Schwarze oder People of Colour, also Menschen, die sich als „nicht weiß“ definieren. Nach Angaben des Auswärtigen Amts haben etwa zehn bis 18 Prozent der Menschen, die sich für den höheren Dienst bewerben, einen Migrationshintergrund. Genaue Zahlen, wie viele es ins Auswärtige Amt schaffen, gibt es nicht.
Dabei wären gerade People of Colour (PoC) geeignet für Tätigkeiten in Auslandsvertretungen: Sie wachsen oft mit mehreren Sprachen auf und bewegen sich selbstverständlich zwischen Kulturen. Auch Sio lernte zu Hause Deutsch und Englisch.„Anders als im französischen oder britischen Außenministerium ist es bei uns noch keine Selbstverständlichkeit, dass PoC deutsche Interessen im Ausland vertreten“, sagt Sio.
Auch in der gesamten Bundesverwaltung liegt der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei gerade mal zwölf Prozent. Gleichzeitig steigt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesellschaft kontinuierlich an: Unter Kindern und Jugendlichen liegt dieser bei rund 40 Prozent, verteilt über alle Altersgruppen bei 26 Prozent. In Deutschland sind das laut dem Verein „Neue Deutsche Medienmacher*innen“ mehr als 21 Millionen Menschen.
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Gesellschaftliche Vielfalt sichtbar machen
Um diese Vielfalt sichtbar zu machen, hat die 24-jährige Tiaji Sio zusammen mit Gleichgesinnten 2019 die Initiative „Diplomats of Colour“ gegründet. Heute ist es das größte Diversitäts-Netzwerk innerhalb der Bundesverwaltung. Mehr als 150 der insgesamt 12.000 Mitarbeitenden des Auswärtigen Amts haben sich bisher angeschlossen. Die Beteiligten organisieren Fortbildungen zu Machtstrukturen und Privilegien, initiierten ein Praktikums-Programm und führen regelmäßig Gespräche und digitale Veranstaltungen mit Expert*innen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft durch.
Derzeit arbeiten die „Diplomats of Colour“ daran, den Gedanken der Vielfalt auf sämtliche Ministerien zu übertragen. Ein demokratisches Land wie Deutschland müsse seine Vielfalt auch in seinen Behörden widerspiegeln, ist Tiaji Sio überzeugt. Gerade im Außenministerium sei es wichtig, dass nicht nur ältere weiße Männer das Land repräsentierten. So sind im Auswärtigen Amt nur 23 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt – trauriges Schlusslicht bei insgesamt 14 Bundesministerien. Die meisten Frauen mit Führungspositionen finden sich mit 59,2 Prozent im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
„Demokratie lebt von Teilhabe“, so Sio. Überholte Strukturen und unsichtbare Barrieren, vor allem in den Köpfen der Menschen, müssten abgebaut werden. „Ich sehe unser Ziel erreicht, wenn es nichts Besonderes mehr ist, dass eine Schwarze Frau als Außenministerin Deutschland repräsentiert“, sagt sie. Dafür brauche es Vorbilder. Ihr eigenes sei Ellen Johnson, ehemalige Präsidentin von Liberia, Friedensnobelpreisträgerin und die erste Frau, die 2006 auf dem afrikanischen Kontinent zur Staatschefin gewählt wurde.
Unterstützung von ganz oben
Sio steht noch am Anfang ihrer Laufbahn. 2015 schaffte sie nach dem Abitur die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst, ein dreijähriges duales Studium an der Hochschule des Bundes. Seit 2020 lebt Sio in Hanoi, Vietnam, und arbeitet dort im Wirtschaftsreferat der Deutschen Botschaft. Die Bundesregierung unterstützt die „Diplomats of Colour“. Mit Außenminister Heiko Maas und der Führungsebene des Auswärtigen Amtes tauscht sich das Netzwerk über Konzepte und Strategien zu Diversität und Inklusion aus.
Auch die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU) sagte bei der Vorstellung der Ergebnisse einer erstmaligen Angestelltenbefragung zur kulturellen Vielfalt in 55 Bundesbehörden im Dezember 2020: „Wir wissen: Gemischte Teams mit interkulturellen Perspektiven arbeiten innovativer und leisten einen Beitrag für ein gutes Miteinander und Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft.“
Mehr als 47.000 Interviews hatte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung seit 2019 für die repräsentative Umfrage „Diversität und Chancengleichheit“ ausgewertet. Demnach sind Menschen mit Migrationsgeschichte in der Bundesverwaltung deutlich unterrepräsentiert, sie befinden sich häufiger in unsicheren Anstellungsverhältnissen und haben geringere Chancen aufzusteigen. Sio vermutet, dass sich viele People of Colour dort nicht repräsentiert fühlten und sich daher nicht bewerben. Auch strukturelle Hürden in den Auswahlverfahren und fehlende Netzwerke seien Gründe.
Charta der Vielfalt
Ein erstes Bekenntnis für Diversität ist für viele Behörden die Unterzeichnung der „Charta der Vielfalt“. Der gleichnamige gemeinnützige Verein will die Anerkennung und Einbeziehung von Vielfalt in der Arbeitswelt in Deutschland voranbringen und ein sogenanntes Diversity Management fest in der deutschen Wirtschaft verankern. Unternehmen und Organisationen sollen für ein Arbeitsumfeld sorgen, das frei von Vorurteilen ist und Wertschätzung in den Vordergrund stellt – unabhängig vom Alter, ethnischen Hintergrund, Nationalität, Geschlecht, körperlichen Fähigkeiten, Religion oder sozialer Herkunft.
Seit 2006 haben mehr als 3.900 Unternehmen und Institutionen mit insgesamt 14 Millionen Beschäftigten die Selbstverpflichtung unterzeichnet. Schirmherrin der Initiative ist Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Die Charta ist ein erster Schritt in die richtige Richtung“, erklärt Sio. Aber es gebe noch viel zu tun in Hinblick auf Chancengleichheit. Vor allem die Solidarität untereinander sei dafür ein wichtiges Werkzeug.
Beim diesjährigen deutschen Diversity-Tag zeigten Menschen ihre Unterstützung als „Allies“ – sogenannte Verbündete – im Rahmen einer Social-Media-Aktion mit dem Hashtag #FlaggefürVielfalt. „Allyship ist einer der wichtigsten Bausteine für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und eine gute Gelegenheit, die eigenen Privilegien für andere Menschen einzusetzen“, betont Sio.
In diesem Jahr hat die Initiative die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Außenministeriums in der Kolonialzeit in den Fokus gerückt. Hier sieht Tiaji Sio noch viel Nachholbedarf. Erst im Mai 2021 – nach jahrzehntelangem Schweigen – hat Deutschland den Massenmord an Herero und Nama in Namibia durch deutsche Kolonialtruppen vor gut 100 Jahren als Völkermord anerkannt. Historische Verantwortung zu übernehmen könne laut Sio dazu beitragen, auch in der Gegenwart rassistische Strukturen zu erkennen, aufzubrechen und zu verändern.
Die Ereignisse des vergangenen Jahres zeigen ihr, dass sie und ihre Mistreiter*innen auf dem richtigen Weg sind: Als im Mai 2020 das Auswärtige Amt zum Diversity-Tag ein Video veröffentlichte, in dem Sio mehr Vielfalt im Auswärtigen Amt fordert, gingen fast zeitgleich die Bilder vom Mord am Afroamerikaner George Floyd um die Welt. Diese lösten auch in Deutschland Proteste über strukturellen Rassismus aus.
Das Netzwerk bekam dadurch enormen Aufschwung, erntete aber auch einen Shitstorm mit heftigen rassistischen und sexistischen Reaktionen von Rechtsextremen in den Sozialen Medien sowie eine parlamentarische Anfrage der AfD-Fraktion. Sio und ihre Mitstreitr*innen ließen sich davon nicht beirren. „Der Gegenwind zeigt ja auch, dass wir einen Nerv treffen mit unserem Anliegen“, ist sie überzeugt. Das klare Bekenntnis der Bundesregierung zu Diversität nach den heftigen Hass-Reaktionen aus dem Internet und Teilen der Opposition im Bundestag gegen „Diplomats of Color“ motiviere sie vielmehr, weiterzumachen.
Angesichts der vielen verhärteten Kommunikationsfronten, die sich derzeit in unserer Gesellschaft zeigen, setzt Sio auf Respekt und Dialog. „Wir müssen einander zuhören, empathisch bleiben und miteinander ins Gespräch kommen, wenn wir gesellschaftlich etwas verändern und weiterkommen wollen“, ist sie überzeugt. Dafür brauche es Austausch und viel Geduld.
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