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Peitschen, Fesseln, Schleier
Portrait der Performance-Künstlerin Persefoni Myrtsou

20. Juli 2022 | Von Ellen Rudnitzki
Die 36-jährige Performance-Künstlerin Persefoni Myrtsou provoziert mit ihren Auftritten ganz bewusst. Foto: Ellen Rudnitzki

Wenn die Performance-Künstlerin Persefoni Myrtsou ihren Utensilienkoffer öffnet, kommen seltsame Dinge zum Vorschein: Peitschen, Flaggen, religiöse Relikte. Auf der Bühne provoziert und integriert sie. Ihre Botschaft: Egal wer und wie ihr seid – es geht nur gemeinsam. Seit vier Jahren lebt sie in Istanbul. Auftreten konnte sie hier noch nicht.

Von Ellen Rudnitzki, Istanbul

Es ist einer dieser typischen Sommertage in Istanbul. Am späten Nachmittag scheint der Lärm des Verkehrs noch einmal hochzudrehen: das ständige Hupen, die quietschenden Bremsen, die Streitereien der Fahrer, die auf den schmalen, hügeligen Straßen nicht mehr vor- und zurückkommen. Die Menschen strömen aus den Büros zur Metro, zu den Bussen oder Schiffen, die die Reisenden auf die andere Seite des Bosporus bringen.

Auch die 36-jährige Performance-Künstlerin Persefoni Myrtsou quetscht sich durch die Menschenmenge Richtung Bootsanleger. Mittendrin ein E-Roller mit drei jungen Leuten, die fröhlich kreischend zwischen Autos und Fußgänger*innen jonglieren. Manchmal ärgert sie sich über solche Rücksichtslosigkeiten, aber eigentlich ist sie froh, Jung und Alt wieder auf der Straße zu sehen. Während der Corona-Pandemie gab es eine monatelange Ausgangssperre für alle bis 20 und über 65 Jahre.


 

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Persa, wie sie von allen genannt wird, kommt von einem Treffen mit Kolleg*innen. Seit vier Jahren lebt sie in der Türkei und versucht, sich ein Netzwerk aufzubauen. Einfach ist das nicht. „Dieses Land breitet nicht gerade die Arme aus für internationale Künstler“, meint sie. Gerne würde sie ihr Alter Ego, die Kunstfigur Ayşenur, hier auferstehen lassen. Sie mag es, in die Haut dieser queeren Person mit großem Busen, aufgespritzten Lippen und blonden Haaren zu schlüpfen.

Ayşenur  als „unbedachte, sexualisierte, oberflächliche Orientalistin mit einer äußerst toleranten Einstellung zur political correctness“ darf Sachen sagen, die man sonst nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern wagt: Religion, Politik,  gesellschaftliche Strömungen – alles wird in Frage gestellt, durcheinander gewirbelt und wieder zusammengesetzt. „Das Wichtigste an Ayşenur ist, dass sie all diese Widersprüche vereint“, erklärt Persefoni Myrtsou.

Auf der anderen Seite des Bosporus

Fast drei Stunden ist sie in der 16-Millionen-Metropole unterwegs, um von einem Stadtteil zum anderen, von der europäischen auf die asiatische Seite, zu kommen. Seit vier Jahren wohnt Persefoni Myrtsou mit ihrem türkischen Mann und ihrem Sohn im Stadtviertel Maltepe, ein gediegenes Umfeld mit kleinen Wohnstraßen und Einfamilienhäusern. Hier leben meist Menschen, die eher westlich orientiert sind, zur politischen Opposition gehören. Kopftücher sieht man selten. In dieser Gegend fällt die Künstlerin mit ihren blau gefärbten Haaren kaum auf.

Kunstfigur Ayşenur darf Sachen sagen, die man sonst nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern wagt (Foto: Rilène Markopoulou).

Doch auch hier gibt es Meinungen wie in Stein gemeißelt und eine Figur wie Ayşenur könnte die Wellen hochschlagen lassen. Viele hier sind Kemalist*innen und damit Anhänger*innen des Staatsgründers Kemal Atatürk. Für manche von ihnen ist eine „moderne“ westliche Einstellung ein Muss. Auf die religiöse Mehrheit im Lande sehen sie herab. Ethnische Minderheiten halten sie häufig für ungebildet. Mit Vergnügen würde Persefoni Myrtsou beiden Seiten einen Spiegel vorhalten: den Kemalist*innen ebenso wie den Anhänger*innen des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit seiner islamistisch-konservativen AKP-Regierung.

Sie würde gerne öffentlich ihren Koffer auspacken mit all den Sadomaso-Utensilien, den Peitschen, den Fesseln, den Gesichtsschleiern und den Flaggen aus allen Ländern, die es sich zu persiflieren lohnt, als Antwort auf jede Art von Nationalismus. Noch hat sie Bedenken, in der Türkei aufzutreten. Seit Jahren verfolgt der Staat unliebsame Künstler*innen und Journalist*innen. Meist geht es um den berüchtigten Paragraphen 301 im türkischen Strafgesetzbuch: die Verunglimpfung der türkischen Nation oder Artikel 299: die Präsidentenbeleidigung. Und der Präsident ist schnell beleidigt.

Allerdings ist er nicht so eine Mimose, wie es oftmals den Anschein hat. Der Grund für die Hetzjagd ist eher ein anderer: Im Sommer 2022 steht Erdoğan mit dem Rücken zur Wand: Zwei Jahre Pandemie und eine Wirtschaft im Sinkflug mit einer Inflation von mehr als 70 Prozent lassen seinen Stuhl wackeln und machen eine Wiederwahl 2023 alles andere als sicher. Grund genug, mit mehr oder weniger haltlosen Festnahmen Macht zu demonstrieren.

Nomadin zwischen den Welten

In allen Ländern, in denen Persefoni Myrtsou zuvor gelebt hat, waren es die Widersprüche, die Risse, die Heucheleien, die sie aufgedeckt und persifliert hat. Gerne bezeichnet sie sich als Nomadin, als eine, die nicht sesshaft werden will oder kann.

Geboren und aufgewachsen ist sie in Griechenland, in Thessaloniki. Die Mutter erinnert sich an ein fröhliches Kind mit einer „klaren Vorstellung von Ästhetik, das die Wände des Hauses bemalte.“ Ihre Kinderbilder hängen noch heute in der Rechtsanwaltskanzlei ihres Vaters.

An Griechenland als Heimat gab es als Kind „nichts zu rütteln, meine Eltern sind Griechen“, so Myrtsou, „doch irgendetwas hatten wir wohl mit der Türkei zu tun. Dabei schienen die Türken keine guten Menschen zu sein.“ Erst viel später wurde ihr klar, dass ihre Großeltern und Urgroßeltern die Türkei als ihre Heimat ansahen. Doch während des Türkisch-Griechischen Krieges – 1919 bis 1922 –  im Zuge des sogenannten „Bevölkerungsaustausches“, wurden sie praktisch aus dem Land geworfen, weil man keine Menschen christlichen Glaubens mehr duldete.

Mit 18 Jahren verließ sie Griechenland und ging nach Schottland, besuchte in Glasgow die „School of Art“ und schloss mit dem Bachelor ab. An der Universität der Künste in Berlin studierte sie Kunst und Anthropologie und machte ihren Master.  Getrieben von der Idee, durch Provokation die Menschen wachzurütteln und letztendlich zu der Einsicht zu bringen, dass es nur zusammen gehe, begann sie ihre Performances zu entwickeln: meist eine Mischung aus Herrschaft und Unterwerfung, Sexualität und politischem Diskurs.

Ihre Utensilien umfassen unter anderem Fesseln, Peitschen, Flaggen und Schleier (Foto: Ellen Rudnitzki).

Zur Bühne wird alles, was die Künstlerin dazu macht: sei es die Straße, sei es ein Friseursalon in Berlin, in dem Frauen mit Kopftuch die wallenden Haare anderer Frauen frisieren. Nicht immer geht das gut. Ihre Kollegin Giannakopoulou bezeichnet sie als Pantheistin, die Gott und Natur als Teil des Universums sieht. Die Moschee hat für sie keine religiöse Bedeutung. Deshalb hing sie dort einmal kurzerhand Fotos von einer Performance auf. Der Imam konnte dem wenig abgewinnen und hängte die Bilder sofort wieder ab.

Persefoni Myrtsou zeigte ihre Kunst in vielen Städten: in Moskau, Krakau, Skopje, Thessaloniki, Athen und Berlin. Und sie hat Fans: „Was ihre künstlerische Arbeit für mich so besonders macht, ist der Humor, mit dem sie die patriarchalen Gesellschaften kritisiert“, sagt zum Beispiel die thessalonische Bibliothekarin Fotini Gemetzi. In Berlin lebte die Künstlerin gerne, war Teil der Kunstszene dort, hatte einen Job an einer Schule in Neukölln, einem Viertel mit einem Migrant*innenanteil von fast 40 Prozent. Doch vor den Deutschen hat sie etwas Angst, wörtlich „vor weißen, intellektuellen Akademikern, die bereit sind, dich zu attackieren bei allem, was politisch ein wenig glitschig ist.“

Neue Heimat und alte Gräben

2013 lernte sie bei einem Besuch in Istanbul ihren jetzigen Mann kennen. An einem typischen langen Tisch im Stadtteil Taksim, wo man sich über die Polizei, die Regierung und alles ereifern kann, tauschten sie die ersten Blicke. 2017 wurde ihr Sohn geboren und für Persefoni Myrtsou begann eine neue, unbekannte Suche nach Heimat. „Ich wollte vnicht, dass mein Sohn in Deutschland aufwächst. Ich hatte das Gefühl, ich kann ihn nicht beschützen, du fühlst dich nicht als Teil der allgemeinen Gesellschaft. Ich spreche Deutsch mit Akzent. Ich kenne das ganze System nicht so richtig. Ich weiß, selbst wenn er blonde Haare hat, er wäre ein Migrant in Deutschland und würde so behandelt.“

Deshalb zieht sie 2018 zu ihrem Mann in die Türkei. Trotz der fragilen politischen Situation ist es ihr wichtig, ihr Kind zumindest auch mit einer „Vatersprache“ aufwachsen zu sehen. Die Verbindung zu Deutschland bleibt bestehen: Im Sommersemester 2022 bekommt sie ihren ersten Lehrauftrag für Autoethnografie an der Humboldt Universität in Berlin: ein Studiengang, in dem persönliche Erfahrungen analysiert werden, um kulturelle Zusammenhänge zu verstehen.

Schnappschuss beim Spaziergang in Istanbul (Foto: Ellen Rudnitzki).

Die Beziehung zu ihrem Herkunftsland hat sich geändert: „Es ist ein anderer Blick: Meine ganze Arbeit ist beeinflusst von der Politik und der Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei.“ Eine Beziehung, die von Wunden geprägt ist – was zu immer neuen Konflikten führt, auch privaten. Während ihre Eltern den Schwiegersohn ins Herz schlossen, war die Heirat mit einem Türken für andere Teile der Familie eine Katastrophe. Eine Verbindung mit dem „Feind“ sozusagen.

Für Persefoni Myrtsou ein Ansporn: In Griechenland erzählt sie als Ayşenur von „ihrer“ Türkei. Dabei geht es um Macht und Ohnmacht, um Versklavung und Befreiung und den Versuch, Menschen in ihren unterschiedlichen Konstellationen zu verbinden. Damit schafft sie „aufrüttelnde, schrille und wunderschöne Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen und lange nachwirken“, meint die Journalistin Ute Emmerich, die die Künstlerin aus Griechenland und Deutschland kennt.

Und in der Türkei? „Alle sagen, das geht nicht, doch ich möchte es gerne probieren, ich kenne ein paar Plätze hier, ich möchte kontroverse Dinge machen – auch hier“, sagt Persefoni Myrtsou. 2023 wird gewählt am Bosporus und vielleicht regiert dann ein neuer Präsident. Ob es dann besser wird in der neuen Heimat, wird sich erst noch herausstellen.

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Von Ellen Rudnitzki, Köln

Ellen Rudnitzki ist freie Journalistin und Filmemacherin. Sie war Autorin und Produzentin für DW und WDR, häufig in Südamerika. Seit 20 Jahren arbeitet sie außerdem als Psychoanalytikerin mit eigener Praxis. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin und Teilhaberin der Agîr Media (UG) in Köln.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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