Der vierte Text von „andererseits“ handelt von Menschen, die ihre Geschwister mit Behinderung bereits verloren haben. Wie fühlt sich das an und was bedeutet dieser Verlust für die Hinterbliebenen? Unser Kooperationspartner „andererseits“ macht Journalismus mit behinderten und nicht-behinderten Menschen.
Von Clara Porak, Wien
Das Letzte, woran er sich erinnert, ist die Hoffnung. Frank steht im Türrahmen in seinem Elternhaus. Seine Schwester Annika liegt hinter ihm, er schaut noch einmal kurz und sie sieht ihn mit klaren Augen an. Vielleicht wird es ja besser, denkt er. Vielleicht wird alles bald wie früher. Heute, drei Jahre später, weiß Frank, dass er sie an diesem Dienstag das letzte Mal sehen würde.
Annika war seit Monaten sehr krank, sie war einige Tage zuvor mit einer Lungenentzündung aus dem Krankenhaus entlassen worden. Frank und seine andere Schwester Steffi waren zu Besuch. „Sie hatte einen ganz klaren Tag“, sagt Frank heute. „Deshalb bin ich mit einem guten Gefühl gegangen.“ Weniger als 24 Stunden später, am nächsten Vormittag, sah Frank während der Arbeit, dass seine Mutter anrief. Er wusste warum, bevor er abgehoben hat. Annika war am Morgen des 31. Augusts 2020 verstorben.
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An die Tage und Wochen nach ihrem Tod kann Frank sich nur verschwommen erinnern. Frank ist 31 Jahre alt und arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit. Er wuchs mit zwei Geschwistern in einem Dorf in der Nähe von Stuttgart auf. Seine Schwester Steffi ist zwei Jahre älter und nicht-behindert, seine Halbschwester Annika, die 2020 verstorben ist, war 15 Jahre älter und brauchte viel Unterstützung im Alltag. Annika hat Franks Familie zusammengehalten, sagt er.
„Jede Beziehung in der Familie hat für sie funktioniert“, sagt er. Einmal habe er seine Familie gezeichnet, da war sie ein Viereck: Die Schwester, die Mutter, der Vater und in der Mitte Annika. Als Annika gestorben ist, hat diese Mitte auf einmal gefehlt, sagt Frank. Dieses Gefühl, das er beschreibt, man habe ihm sein ganzes Leben genommen, ist eines, das wohl viele Menschen nach dem Verlust einer geliebten Person kennen.
Aber für die Geschwister von Menschen mit Behinderungen ist es nochmal anders. Die Familien von Menschen mit Behinderungen sind oft um die Person mit Behinderung herum organisiert. Was aber passiert, wenn die Person, für die alles funktioniert plötzlich nicht mehr da ist? Darum soll es in dieser Folge gehen. Dafür habe ich mit Frank und Sarah gesprochen, die ihre Geschwister verloren haben und eine Trauerbegleiterin befragt.
Wenn die Mitte plötzlich fehlt
„Es war, als hätte man die Sonne aus dem Sonnensystem genommen“, sagt Sarah über den Tod ihres Bruders. Auch sie hat sich auf meinen Aufruf vor einigen Wochen gemeldet. „Wir waren wie verlorene Planeten, die ziellos umher fliegen.“ Dieses Gefühl kennt auch Frank: „Annika war unser Lebensmittelpunkt.“
Um vier oder fünf kam Annika, seit Frank denken konnte, aus der Betreuung nach Hause. Dann fütterte seine Mutter sie am großen Küchentisch. Die beiden Geschwister sahen zu. Gemeinsam haben sie dann meistens in dem kleinen Tagebuch zu Annikas Tageszustand gelesen, das die Betreuer in der Einrichtung für sie verfassen: Wie geht es Annika? War sie heute ruhig? Hatte sie genug Stuhlgang? Keine Krämpfe?
Annika konnte nicht sprechen, aber alles verstehen, das die Familie sagt – davon ist Frank überzeugt. Also sprachen sie viel mit ihr, auch im Spiel. „Der Tag war geprägt von Annika“, sagt Frank. Er machte dann zum Beispiel Hausaufgaben in der Küche, während Annika in ihrem Tagesbett lag. Manchmal spielte er auch mit ihr, erzählte ihr Geschichten. „Ich habe wenig Zeit in meinem Zimmer verbracht“, sagt er. Jetzt ist dieser Teil seiner Identität, seiner Familie einfach weg – und lässt eine große Leere zurück. „Ich habe die Person verloren, die ich am meisten geliebt habe,“ sagt Frank.
So ähnlich formuliert das auch Sarah. „Es ist als hätte ich zwei Leben gehabt“, sagt die 37-Jährige. „Mit meinem Bruder ist ein ganzes Leben gestorben.“ Sie ist 13 Jahre alt, als ihr älterer Bruder Alex stirbt. Während sie in der Schule ist, hat Alex einen Krampfanfall, den er nicht überlebt. Sarah kommt nach Hause und findet ihre Mutter, die eine Grappa Flasche hält, den Vater, der sich immer wieder auf den Kopf schlägt und sie weiß: Ihr Bruder ist nicht mehr da.
„Meine Eltern waren ganz anders“
Die Zeit nach dem Tod ihres Bruders sei düster gewesen, sagt Sarah: „Natürlich war nach dem Tod von Alex mehr Raum für mich da. Aber den wollte ich gar nicht. Ich habe nicht nur meinen Bruder verloren, sondern auch meine Eltern, die ganz anders waren. Mein soziales Umfeld, alle waren plötzlich weg, vielleicht weil sie es nicht ausgehalten haben.“ Aber mehr noch: „Das war auch ein Stück meiner Identität: Ich war immer jemand, der für meinen Bruder da ist. Das war auf einmal weg.“
Geschichten wie die von Frank und Sarah hat Ursula Weinhäupl oft gehört. Sie ist Klinische Gesundheitspsychologin und begleitet im Kinderpalliativzentrum MOMO die Familien von schwerkranken und verstorbenen Kindern. „Trauer ist sehr individuell und von ganz vielen Faktoren, auch der Persönlichkeit abhängig“, sagt sie. Sie begleitet besonders oft Geschwister.
„Trauernde Geschwister wollen ihre Eltern nicht zusätzlich belasten”, sagt sie. „Deshalb kann es vorkommen, dass sie ihre Gefühle für sich behalten.“ Außerdem können jüngere Kinder ihre Gefühle oft nicht verstehen oder sprachlich ausdrücken.“ Deshalb sei es besonders wichtig, ihnen einen Ort anzubieten, an dem sie diese Gefühle aussprechen und einordnen könnten. Im Palliativzentrum MOMO bietet sie Einzelarbeit, Gruppen und Elternberatung an. „Wichtig ist, dass Geschwister nicht allein gelassen werden“, sagt sie. Ein Geschwister mit Behinderung zu verlieren, verändert, wer man ist. Aber es verändert sich auch, wie man auf seine Familie, auf sich selbst blickt.
Ständige Krise ist Teil der Normalität
Frank sagt heute, erst mit der neuen Distanz, der Möglichkeit, nicht bei seiner Familie zu sein, habe er vieles verstanden. Zum Beispiel, wie belastend Annikas Krankheit manchmal war: „Ich musste als Kind immer mit Notfällen rechnen.“ Manchmal war Annika über Tage im Krankenhaus – und damit auch Frank und seine andere Schwester. Die ständige Krise war Teil ihrer Normalität. Frank hat schon früh gemerkt: Auch seine Eltern sind überfordert, wenn es Annika plötzlich schlecht geht. Deshalb hat er gelernt, anders zu reagieren, als er wollte: „Ich wollte ‚Hilfe!‘ schreien, aber stattdessen habe ich geholfen.“
Früher habe er oft von sich gewiesen, wie schlimm diese Situationen waren. „Der Verlust ermöglicht mir, mein eigenes Leben wieder mehr zu leben“, sagt Frank. „Ich habe mich zuerst sehr für diesen Gedanken geschämt.“ Diese Scham, die Frank gespürt hat, kann ich gut nachvollziehen. Als Geschwisterkind von jemandem mit Behinderungen wird einem ständig unterstellt, der Bruder oder die Schwester sei eine Belastung.
„Würdest du deinen Bruder ‚heilen‘, wenn du könntest?“ Das wurde ich schon auf dem Spielplatz geragt. Und sowohl Frank als auch Sarah wurden gefragt: Bist du nicht auch erleichtert? Diese Frage ist verletzend, anmaßend und schlicht ableistisch. Wenn jemand von außen sagt, dass dein Geschwister eine Belastung ist, dann verteidigt man natürlich.
Etwas aber stimmt doch: Die Situation, in der Frank und Sarah waren, war schon vor dem Verlust keine einfache. Und besonders schwierig ist es damit umzugehen, dass diese vielen ambivalenten Gefühle auf einmal weg sind, wenn das Geschwisterteil mit Behinderung verstirbt. Trauer ist nie nur ein Gefühl, sagt Psychologin Weinhäupl. Sie bedeutet nicht einfach Traurigkeit, sondern oft auch Wut, Hilflosigkeit, Leere, Schuldgefühle.
Eigene Gefühle zu regulieren gelingt nicht immer
Diese Gefühle kennt auch Sarah. Die Monate vor Alexanders Tod sind besonders hart für die Familie: Seine Beine werden korrigiert, Monate verbringt Alex deshalb liegend im Wohnzimmer, oft schreit er vor Schmerzen. Für Sarah ist die Situation kaum auszuhalten. Irgendwann reicht es ihr dann: Sie brüllt ihn an und tobt. Er sitzt weinend am Boden vor ihrer Zimmertür, aber Sarah hört nicht auf, sie lässt die ganze Wut auf die Situation an ihm aus. Am nächsten Morgen sitzt sie in der Schule und denkt sich: Was habe ich nur getan? Ich muss mich entschuldigen. Es ist der Vormittag, an dem Alex stirbt.
Dass Familien wie die von Frank und Sarah auch schon vor und lange nach dem Tod ihrer Geschwister so belastet sind, liegt auch daran, dass Angebote fehlen. Diese Angebote fehlen nicht nur für Familien von Menschen mit Behinderungen, die nicht schwer erkrankt sind, sondern auch für jene, die damit rechnen müssen, bald jemanden zu verlieren. Für Trauerbegleiterin Weinhäupl ist das auch eine politische Frage: „Gesellschaftlich ist das Thema Krankheit, Sterben und Tod stark tabuisiert. Das ist eigentlich schräg, weil es uns alle betrifft.“
Viele Menschen, die ein schwerkrankes Kinder haben oder ein verstorbenes, würden vereinsamen, sagt Weinhäupl. „Ich glaube das passiert oft aus einer Hilflosigkeit heraus. Da haben viele Angst, das Falsche zu sagen und sagen dann so was wie: ‚Melde dich, wenn du was brauchst.‘ Darunter leiden die Familien zusätzlich. Es braucht Aufklärung und Information.“
Auch viele Organisationen wie das Kinderpalliativzentrum MOMO, über das Weinhäupl Kinder und Jugendliche begleitet, sind großteils spendenfinanziert. Viele Jahren haben Betroffene das kritisiert. Mit Erfolg: Seit Anfang 2022 sieht ein Gesetz den flächendeckenden Ausbau von Pallitativ- und Hospizversorgung vor. Ein wichtiger Schritt für betroffene Familien: „In ganz Österreich braucht es unkomplizierte und kostenfreie Angebote, die nicht nur spendenfinanziert sind“, so Weinhäupl.
Mehr solche Unterstützung hätte sich auch Sarah gewünscht: Mehr Beratung für sich und ihre Eltern, ein weniger sprachloses Umfeld, mehr Verständnis und Offenheit für ihren Bruder und die Situation nach seinem Tod. Die Trauer beschäftigt Sarah noch lange – mit 31 Jahren, über zwanzig Jahre nach dem Alex Tod, arbeitet Sarah ihre Trauer nochmal auf. Jetzt sagt sie, fühlt sie nicht mehr vor allem Leere, wenn sie an ihren Bruder denkt. „Mittlerweile überwiegt die Dankbarkeit“, sagt Sarah. „Ich bin so froh, dass es ihn gibt.“
Weitere Infos zu unserem Kooperationspartner:
„andererseits“ ist ein Online-Magazin für Behinderung und Gesellschaft. Bei „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderungen Journalismus – gleichberechtigt, kritisch und fair bezahlt. Freitags verschickt die Redaktion einen Newsletter für alle, die Behinderung verstehen möchten.