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Neun Quadratmeter zum Leben
Wie eine Sekunde alles verändern kann

Witwen wie Malika (Mitte) haben in Afghanistan einen schweren Stand - der Großteil von ihnen ist des Lesens und Schreibens unkundig und hat lokalen Frauenorganisationen zufolge im Schnitt vier Kinder zu versorgen. Foto: Veronika Eschbacher

Die Afghanin Malika hatte ein prachtvolles Leben, wie sie sagt – bis ihre Familie auf eine Bombe am Straßenrand auffuhr, die westlichen Soldaten galt. Seither kämpfte die Witwe alleine gegen Taliban, aber auch gegen den Staat.

Von Veronika Eschbacher, Kabul

Malika fackelt selten lange herum. Es dauert ganze fünf Minuten, bis die 38-jährige Paschtunin einem einen dicken Packen Fotos entgegenwirft. Mit einer eher schroffen Handbewegung fordert sie dazu auf, diesen anzusehen. Das oberste Bild zeigt ihr geschwollenes Gesicht mit Verbänden am Kopf im Krankenhaus. Das zweite unzählige frische Wunden auf ihrem Rücken. Auf dem dritten Bild sieht man einen jungen Mann auf einer sterilen Krankenhausliege, dessen halber Schädel aufgeplatzt ist. Sein Gehirn quillt hervor.

Mit keinem Wort warnt Malika den Betrachter vor dem, was er zu sehen bekommt. Sie selbst trägt die Bilder ständig bei sich. Sie seien ein Beweis dafür, was ihr zugestoßen ist, sagt sie. „Mein Leben davor war das einer Königin“, erzählt sie, auf einem Polster auf nacktem Betonboden sitzend. „Ich hatte einen guten Mann, ein gutes Haus und zwei gute Söhne.“ Bis zu dem Tag, als die Familie mit dem Traktor auf eine Bombe am Straßenrand fuhr, die die halbe Familie in den Tod riss. Seither ist Malika Witwe, sorgt für zehn Kinder und kämpft nicht nur gegen die Taliban, sondern auch um staatliche Unterstützung bei korrupten afghanischen Beamten.

Ursprünglich lebte Malika, ihr Mann, zwei Söhne und vier Töchter in der Provinz Kandahar, 500 Kilometer südlich von Kabul. Die Gegend gilt als Kernland der Taliban und ist bekannt für ihre Weintrauben, aber auch den großflächigen Anbau von Mohn für die Opiumproduktion. Irgendwann, Malika erinnert sich nicht mehr genau, intensivierten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung, und sie waren gezwungen, in die Stadt zu fliehen.

Die Familie mietete sich in einem Haus ein. Acht Monate später zogen „Ausländer“ in das Gebäude – westliche Soldaten, „mit Panzern, Waffen und so weiter“. Die Familie wurde daraufhin vom Vermieter aufgefordert, auszuziehen. Und so beschloss sie mangels Alternativen in ihr Dorf zurückzukehren.

Malika erinnert sich noch genau an den Tag, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte. Die Familie hatte ihr ganzes Hab und Gut zusammengepackt und machte sich auf den Weg. Links von der Straße lange Ackerfelder; vor ihnen fuhr ein kleiner ausländischer Militärkonvoi. Noch bevor Malika nach rechts in die Morgensonne blinzeln konnte, wölbte sich unter ihr die Erde. Als sie wieder zu sich kam, verstand sie erst langsam, dass ihr Traktor in eine ferngezündete Sprengbombe am Straßenrand gefahren war, die den Ausländern vor ihr gegolten hatte, aber „zu spät“ detonierte. Zwölf Menschen kostete die Bombe das Leben, darunter ihren Ehemann und ihren zwei Söhnen. Sie selbst und weitere zehn Menschen wurden schwer verletzt. Die Ausländer vor ihr blieben unverletzt.

Malika greift sogar selbst zur Waffe

Nach mehreren Wochen im Krankenhaus kehrte Malika in ihr Heimatdorf zurück. Da auch ihr Nachbar bei der Explosion ums Leben kam, kümmert sie sich seither auch um dessen sechs Kinder – zusätzlich zu ihren eigenen überlebenden vier Mädchen. Im Dorf herrschten die Taliban. Als die Zusammenstöße zwischen ihnen und den Sicherheitskräften erneut zunahmen, besorgte auch Malika eine Pistole, um sich zu verteidigen. Als ihr Haus eines Tages von vier Taliban angegriffen wurde, habe sie auf diese geschossen. „Sie dachten, sie könnten mich, da mein Mann tot ist, als Beute haben“, zeigt sie sich sichtlich empört. Sie habe solange geschossen, bis die Munition leer war. Die Taliban warfen eine Granate ins Haus – „und die Kinder wurden noch einmal verletzt.“ Zwei Tage später floh sie nach Kabul.

Ihr Mann hatte keinen Bruder, aber viele Cousins, die sie als Beute haben wollten. Dagegen wehrt sich Malika, weil „die Söhne dann nicht richtig erzogen werden, ich zur Sklavin werde, und meine Töchter zwangsverheiratet werden.“ Die Verantwortung für den Tod ihres Mannes und der Söhne sieht Malika in der Regierung. Schließlich habe sie weder die Amerikaner noch andere Ausländer gekannt – „das waren Freunde der Regierung“. Es ärgert sie auch, dass die Polizei von den Taliban Pistolen, Waffen, Munition und Telefone genommen haben, aber sie davon nichts abbekommen hat. „Ich wurde völlig alleine gelassen.“

Dabei hat Malika bisher nichts unversucht gelassen, den afghanischen Staat um Unterstützung zu bitten. Das Sozialministerium gibt Hilfe für „Familien von Märtyrern“ aus – darunter fiele auch die von Malika. Sie erzählt, dass sie unzählige Anträge gestellt habe. Ihre Bilder habe sie immer dabei und könne sie stets vorlegen. Aber all das hat bislang nichts gebracht. Malika vermutet, dass sie keine Hilfe erfahre, weil sie über keine einflussreiche Kontakte verfüge.

Irgendwann fasste Malika allen Mut zusammen und marschierte direkt zum Empfangsbüro des Präsidenten in Kabul – damals noch Hamid Karzai – und bat um einen Termin. Erfolglos. Allerdings bot ihr ein Beamter für 500 Afghanis, umgerechnet acht Euro, an, sie mit der richtigen Person in Kontakt zu bringen.

Zu dem lang ersehnten Termin waren neben ihr noch zwei andere Afghanen geladen, die ihre Anliegen dem Präsidenten vortragen wollten. Die Männer gaben den Beamten pakistanische Rupien – und wurden zu Karzai vorgelassen. Malika wurde unumwunden mitgeteilt, dass sie verschwinden solle.

Elf Personen auf neun Quadratmetern

Malika, eine von geschätzten 1,5 Millionen Witwen in Afghanistan, ist ihre triste Lage selbst zutiefst zuwider. „Ich will niemanden stören, ich will nicht betteln“, sagt sie. Sie arbeitet als Näherin, verdient aber nur mit sehr viel Glück drei bis fünf Euro am Tag. Das reicht bei weitem nicht aus, um eine elfköpfige Familie durchzubringen. Dabei sparen sie ohnehin, wo es geht: Da sie sich kein Zimmer leisten können, wohnen sie in der Küche eines Hauses, die untertags von anderen genutzt wird: elf Personen auf neun Quadratmetern. Trotz der geringeren Miete hat sie Schulden angehäuft. Nur drei der Kinder – die Jungen – können in die Schule gehen. Eines wird von einer örtlichen Nichtregierungsorganisation unterstützt, die Kinder von der Straße holt und den Eltern Geld gibt, damit die Kinder nicht arbeiten müssen.

Malika hofft, dass Gott ihr hilft. Ihr größter Wunsch sei ein Dach über dem Kopf und dass alle Kinder in die Schule gehen können. „Einfach nicht mehr leben wie bisher“, sagt sie und streicht mit den Fingern liebevoll über den geplatzten Kopf auf den Bildern.

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Von Veronika Eschbacher, Wien

Veronika Eschbacher war, bis zum Fall Kabuls 2021, Büroleiterin der Deutschen Presse-Agentur für Afghanistan und Pakistan. Davor war sie freie Korrespondentin für die USA und Afghanistan. Ihre journalistische Laufbahn begann als Redakteurin für Außenpolitik und Außenwirtschaft bei der österreichischen Tageszeitung „Wiener Zeitung“. Sie beschäftigt sich in ihren Reportagen und Analysen vor allem mit politischen und sozialen Themen, aber auch mit Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik.

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