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Mütter auf Distanz
Unter Zwang gaben Frauen ihr Baby weg

4. November 2020 | Von Sarah Tekath
Trudy Scheele-Gertsen geht derzeit rechtlich gegen den niederländischen Staat vor. Foto: privat

Tausende schwangere unverheiratete Frauen wurden von 1956 bis 1984 in den Niederlanden gezwungen, ihre Kinder nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Allmählich kommt die Aufarbeitung in Gang. Aktuell wird im Auftrag der niederländischen Regierung die Zahl der Betroffenen untersucht – und eine Mutter klagt.

Sarah Tekath, Amsterdam

Es ist die Zeit, als Frauen ‚es‘ nicht tun. Zumindest nicht vor der Ehe. Werden sie schwanger, ist das eine Schande. Abtreibungen sind in den Niederlanden bis 1984 illegal, Adoptionen aber seit 1956 möglich. Mit dem Problem konnte damals schnell und diskret verfahren werden. Die Frauen, genannt „afstandsmoeders“ (zu Deutsch bedeutet „afstaan“ verzichten), müssen ihre Babys abgeben – ob sie wollen oder nicht.

Eine dieser Frauen ist Will van Sebille. 1967 wird sie mit 17 Jahren schwanger. „Meine Eltern haben sich an das katholische Büro „Mutterhilfe“ gewendet, das erklärte, die einzige Möglichkeit sei, das Kind abzugeben.“ Ihre Eltern hätten gleich zugestimmt, zu groß sei die Sorge vor gesellschaftlicher Ächtung gewesen. Daraufhin kommt sie in ein Haus für unverheiratete Mütter, umgangssprachlich ‚Heim für gefallene Mädchen‘. Die Schwangeren sind dort auf sich gestellt, getrennt von der Familie, isoliert und völlig überfordert mit der Situation.

 

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„Meine Erinnerungen an die Geburt sind dunkel, als wäre es ein unbeleuchteter Raum gewesen. Ich weiß nur noch, dass ich ihn weinen hörte. Das war ein großes Glücksgefühl. Ich wollte ihn gerne halten, aber er wurde sofort weggebracht. Nicht einmal sehen durfte ich ihn“, erinnert sich van Sebille. Danach kehrt sie nach Hause zurück, ihr Sohn bleibt im Heim. Alles soll weitergehen, als wäre nichts passiert. Eine Therapie oder Nachsorge habe es nicht gegeben.

Aber Will van Sebille wehrt sich. Zusammen mit ihrem damaligen Freund, dem Vater des Kindes, fordert sie vom Heim und dem Rat für Kinderschutz ihren Sohn zurück. „Uns wurde gesagt, das ginge erst, wenn wir schon fünf Jahre verheiratet wären.“ Aber auch später, als die beiden verheiratet sind und ein zweites gemeinsames Kind haben, wird ihnen ihr Kind verweigert. Es kommt zu einem Rechtsstreit mit der Adoptivfamilie, den die beiden verlieren. „Sobald man das Heim einmal verlassen hat, hatte man keine Chance mehr“, erklärt van Sebille.

Der vergebliche Kampf um den Sohn

Danach schweigt sie. Kontakt mit ihrem Sohn entsteht erst viele Jahre danach, initiiert durch ihre älteste Tochter, die inzwischen Bescheid weiß. Sie finden ihn über die sozialen Medien, weil der Nachname seiner Adoptivfamilie durch den Rechtsstreit bekannt ist. Van Sebille schreibt einen Brief, aber ihr Sohn weist sie ab. Erst später, im Alter von 33 Jahren, sucht er seinerseits den Kontakt.

„Trotzdem habe ich jeden Tag an ihn gedacht. Ich musste nicht einmal bewusst denken. Er war einfach da, als ein Teil von mir. Selbst wenn er physisch nicht anwesend war, war er in Gedanken bei mir.“ Gleichzeitig habe sie immer noch Scham gefühlt. „Dieses Schuldgefühl verschwindet auch nicht, denn welche Mutter gibt ihr Kind weg? In meinem Kopf bleibe ich die Hauptschuldige, denn ich bin es, der es nicht gelungen ist, ihr Kind zu behalten.“

Will van Sebille begegnete ihrem Sohn als er schon 33 war.

In den 90er Jahren wagt sich van Sebille schließlich in die Öffentlichkeit. Sie arbeitet an der Fernseh-Dokumentation „In alle stilte“ (zu Deutsch „in aller Stille“) mit, in der sie mit einem Kamerateam das Mutter-Kind-Heim von damals besucht, ist Co-Autorin des Buchs „Weggegangen, Platz vergangen“ und gründet die Stiftung „De Afstandsmoeder“. Der Kontakt zu den Eltern ist seitdem abgebrochen – ihr Vater habe sie angerufen und ihr gesagt, dass sie daheim nicht mehr auftauchen solle.

Doch erst vor vier Jahren, 2016, wird eine erste Untersuchung der Radboud Universität Nijmegen mit dem Fokus auf die Mütter durchführt, nach deren Erhebungen mehr als 15.000 Frauen in den Niederlanden betroffen sind. 2019 folgte eine zweite Untersuchung mit einer Meldestelle für betroffene Eltern und Kinder. Dabei werden besonders die Beteiligung verschiedener Organisationen und die Rolle der Regierung untersucht.

Im Sommer 2020 melden niederländische Medien gravierende Mängel. So wurden beispielsweise Personen aus den Akten ohne Vorwarnung kontaktiert und befragt, unter anderem von einer Organisation, die früher an den Adoptionen beteiligt war. Inzwischen hat die Regierung schwerwiegende Fehler beim Entwurf der Studie eingeräumt und nachgebessert. Die Ergebnisse sollen der Öffentlichkeit nun voraussichtlich im Frühjahr 2021 präsentiert werden.

Eine Frau, der diese Bemühungen aber nicht reichen, ist Trudy Scheele-Gertsen. Sie klagt seit Juni 2020 gegen den niederländischen Staat. Mitklägerin ist die auf Frauenbelange fokussierte Organisation „Clara Wichmann“, die eine Crowdfunding-Aktion für die Anwalts- und Gerichtskosten von Scheele-Gertsen gestartet hat. Außerdem werden sie unterstützt von der Stiftung „De Nederlandse Afstandmoeders“. Die Anwältin von Scheele Gertsen sagt: „Es hat sich gezeigt, dass der Fall von Trudy keineswegs eine Ausnahme war, sondern eher die Regel.“

„Eine Abtreibung war für mich undenkbar“

Trudy Scheele-Gertsen ist 21 Jahre alt, nach damaligem Gesetz (1967) volljährig, als sie von ihrem Freund schwanger wird. „Er wollte von Kindern und Ehe nichts wissen, weil er sich dafür zu jung fühlte. Er verlangte, dass ich abtreibe, aber ich habe mich geweigert. Da hat er mich im Stich gelassen“, erinnert sie sich heute. „Trotz der gesellschaftlichen Schande habe ich mich entschieden, selbst für mein Kind zu sorgen. Eine Abtreibung war für mich undenkbar.“

Sie habe geplant, mit ihrem Kind wieder bei ihren Eltern einzuziehen und dank einer abgeschlossenen Ausbildung zur Krankenschwester selbst für sie beide zu sorgen, doch ihre Eltern hätten von ihr die Freigabe zur Adoption gefordert. Sie landet in einem Haus der Paula-Stiftung in Oosterbeek. „Weil ich zu diesem Zeitpunkt keine Lösung sah, bin ich dorthin gegangen, in der Hoffnung, Hilfe und Ratschläge zu bekommen“, erinnert sie sich. Informationen zu Möglichkeiten, wie sie ihren Sohn allein großziehen könne, habe sie dort aber nie erhalten. „Das Heim war ausgerichtet, Mütter und Kinder nach der Geburt zu trennen, wie es damals die Norm war. Es wurde einfach für mich entschieden.“ Trotz Protesten nimmt man ihr das Kind direkt nach der Geburt weg, als sie noch zu benommen ist, um sich zu wehren.

Aber Scheele-Gertsen nicht aufgeben. Sie wendet sich wieder an das Heim, lügt über baldige Hochzeitspläne mit dem Vater des Kindes. Auf ihr Drängen folgt ein Eilverfahren, bei dem ein Richter ihr ihre mütterlichen Rechte abspricht. „Ich hatte kein Recht auf mein Kind, weil ich nicht verheiratet war.“ Danach bleibt ihr Sohn trotzdem noch mehrere Jahre im Haus der Paula-Stiftung. Sie besucht ihn regelmäßig und erkennt bald erste Entwicklungsstörungen durch die Vernachlässigung. Daher entscheidet sie schließlich, der Adoption zuzustimmen.

„Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens, meinen Sohn loszulassen. Es hieß, zwischen mir selbst zu wählen und dem, was das Beste für ihn sein würde.“ Erst 50 Jahre nach seiner Geburt, im Jahr 2019, liest sie in einer Akte der Paula-Stiftung, wie es damals wirklich um ihn stand. „Er lebte zweieinhalb Jahre lang in einer lieblosen Umgebung, bekam keine Zuwendung, weinte viel, vermisste seine Mutter und wurde mit Medikamenten ruhiggestellt. Auch wenn er danach in einer liebevollen Familie aufwuchs – der Verlust, das Vermissen und die Unsicherheit haben mein späteres Leben gezeichnet. Es war schlichtweg unmenschlich“, sagt sie.

Lisa-Marie Komp unterstützt eine „Afstandsmoeder“ in ihrer Klage gegen den Staat (Foto: Sarah Tekath).

Aber auch wenn der auf die unverheiratet schwanger gewordenen Frauen ausgeübte Druck, ihre Kinder wegzugeben, damals die Norm war, wie die hohen Zahlen aus den Studien zeigen, rechtmäßig war er nicht. „Die damalige Gesetzeslage sagt eindeutig, dass Frauen – verheiratet oder nicht – Schutz verdienen, wenn sie Mütter werden, dass das Band zwischen Mutter und Kind zu schützen ist und dass der Staat sogar verpflichtet ist, Mütter, die in schwierigen Situationen sind, zu unterstützen“, erklärt Anwältin Lisa-Marie Komp.

Nichtsdestotrotz seien unverheiratete Schwangere – egal, ob jung, in den 30ern oder Witwen – von der Gesellschaft verurteilt worden. Dadurch werde auch nachvollziehbar, wie es sein konnte, dass eine Mutter sich von ihren Angehörigen und kirchlichen und staatlichen Beratungsinstitutionen zwingen ließ, ihr Kind wegzugeben. „So ein Verhalten ist ja gegen die Natur. Das bedeutet, die Kräfte, die dabei gewirkt haben, waren enorm. Die Frauen wurden sozial geächtet, oftmals von ihrer eigenen Familie verstoßen und als Aussätzige behandelt“, sagt Komp.

Sozial geächtet und falsch informiert

Wichtige Informationen wurden den Frauen bewusst vorenthalten – und das in einer Zeit, wo es kein Google gab. Niemand hat den Frauen gesagt, dass Möglichkeiten auf finanzielle Unterstützung bestehen oder dass der Vater verpflichtet ist, Unterhalt zu zahlen. Man hat faktisch darauf hingearbeitet, dass die Frau der Weggabe ihres Kindes freiwillig zustimmt. Komp sagt: „Wer einmalig, am besten noch vor der Geburt, Ja zur Adoption gesagt hat, dem wurde jede Meinungsänderung verweigert.“

Dabei gab es gesetzlich durchaus die Möglichkeit, sich gegen diese schriftliche Einwilligung zu wehren – nur wurden die Frauen nicht darauf hingewiesen. Es sei dann eben zu spät gewesen. „Das ist auch der Grund, warum heute noch so viel Scham mitspielt. Weil die Frauen denken, dass sie ja zugestimmt haben. Schließlich wurde niemandem die Pistole auf die Brust gesetzt“, so die Anwältin, die auch Trudy Scheele-Gertsen vertritt.

Bei ihrem Prozess gehe es nun um die Anerkennung des Fehlverhaltens vonseiten des Staates ebenso wie der involvierten Institutionen, die teilweise heute noch bestehen. Trudy Scheele-Gertsen sagt: „Mit diesem Rechtsstreit will ich erreichen, dass die damaligen Zustände ans Licht kommen und dass ein gesellschaftliches Bewusstsein entsteht für das Unrecht von damals.“ Will van Sebille wiederum wehrt sich, indem sie an einem Theaterstück arbeitet. So könne sie ihre Wut über die Ungerechtigkeiten von damals endlich herauslassen.

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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