In der israelischen Kleinstadt Beit Shemesh tobt ein bitterer Kampf um den öffentlichen Raum: Radikale Ultraorthodoxe stellen eigenmächtig Regeln auf und greifen Frauen an, deren Kleidung sie für aufreizend halten. Manche Beobachter sehen darin das Vorspiel eines drohenden Kulturkampfes im ganzen Land.
Von Mareike Enghusen
Es ist elf Jahre her, dass Nili Philipp religiösen Fanatismus erstmals am eigenen Leib zu spüren bekam – und zwar buchstäblich: Sie joggte durch ihre Heimatstadt Beit Shemesh im Westen Israels, als ein ultraorthodoxer Mann sie zu beschimpfen begann. An jenem Tag, sagt Philipp, habe sie langen Rock zum langärmligen Shirt getragen – die typische Kleidung religiöser Jüdinnen. „Hure!“, brüllte der Mann dennoch. Dann bespuckte er sie.
„Es war unangenehm und einschüchternd“, erinnert sich Philipp heute. An einem sonnigen Freitagmittag sitzt sie in einem Tel Aviver Café, eine zierliche Frau, 51 Jahre alt, mit wachen blauen Augen und leiser, aber selbstbewusster Stimme. „Ich wollte mit dem Mann nichts zu tun haben, also habe ich ihn ignoriert.“ Doch in den folgenden Monaten und Jahren griffen radikale Religiöse immer öfter Frauen an, das Phänomen ließ sich immer schwerer ignorieren. Vor sechs Jahren beschloss Nili Philipp, Ingenieurin und fünffache Mutter, sich zu wehren. So begann ein bitterer Konflikt, der bis heute schwelt und in dem manche Beobachter ein Vorzeichen sehen für einen größeren Kulturkampf, der dem ganzen Land bevorstehen könnte.
Der kulturelle Mix zeichnet Beit Shemesh aus
Auf den ersten Blick erscheint Beit Shemesh wie ein unwahrscheinlicher Kriegsschauplatz: Die Stadt mit gut 100.000 Einwohnern, 30 Kilometer westlich von Jerusalem, kommt beschaulich daher. Es gibt viel Grün, auf breiten Bürgersteigen spazieren Frauen in langen Röcken mit Kinderwägen. Beit Shemesh ist eine Stadt der Familien und der Religiösen: Neben der ultraorthodoxen Gemeinde leben hier viele Einwanderer aus Großbritannien und Nordamerika, die einen konservativ-religiösen Lebensstil führen.
Für Nili Philipp, die aus Kanada stammt, war die große englischsprachige Gemeinde einer der Gründe, weshalb sie und ihr Mann vor 18 Jahren nach Beit Shemesh zogen. Doch ihr habe auch die Vielfalt gefallen, die die Stadt auszeichnete: Juden aus Iran und Irak, Äthiopien und Russland lebten hier. „Wir mochten die Idee, unsere Kinder in dieser bunten Gemeinschaft aufzuziehen,“ sagt sie, „so bleibt man nicht in seiner eigenen Blase stecken.“
Ultraorthodoxe, äußerlich leicht an ihrer markanten Kleidung zu erkennen – schwarze Kippas und Anzüge bei den Männern, lange Röcke und Kopfbedeckung bei den Frauen – waren damals eine Gruppe unter vielen. Doch das änderte sich mit den Jahren. Wegen ihrer hohen Fruchtbarkeitsrate – der landesweite Durchschnitt liegt bei 6,5 Kindern pro ultraorthodoxer Frau – und Zuzug aus anderen Städten wuchs die ultraorthodoxe Gemeinde schneller als die übrige Stadtbevölkerung. Heute stellen sie fast die Hälfte der Einwohner. Das müsste kein Problem sein – würden nicht einige Radikale unter ihnen mit wachsender Militanz versuchen, den übrigen Bewohnern ihre Vorstellungen von Zucht und Ordnung aufzuzwingen.
Vor einigen Jahren tauchten im öffentlichen Raum Schilder auf, die Frauen dazu aufriefen, „züchtige“ Kleidung zu tragen oder einen großen Bogen um Synagogen zu machen, vor denen sich oft Männer sammeln. Die radikalsten Vertreter dieser selbsternannten Moralpolizei belassen es nicht bei Aufrufen: Immer wieder beschimpfen ultraorthodoxe Männer Frauen auf der Straße, deren Kleidung sie für aufreizend halten, manchmal greifen sie sie gar körperlich an. 2011 bespuckten Radikale ein achtjähriges Mädchen auf dem Weg zur Schule. Im selben Jahr, erzählt Nili Philipp, habe ein Ultraorthodoxer einen Stein nach ihr geworfen, als sie auf dem Fahrrad durch die Stadt vor. Ihre Freundinnen berichteten von ähnlichen Vorfällen. „Es wurde immer alltäglicher,“ erinnert sie sich, „wer beispielsweise joggen gehen wollte, musste damit rechnen, angegriffen zu werden.“
Im Jahr darauf erreichten die Übergriffe eine neue Eskalationsstufe: Im Sommer 2012 attackierten ultraorthodoxe Männer eine junge Frau, die ihre sieben Monate alte Tochter auf dem Arm hielt. Sie stieg gerade aus ihrem Auto, als die Männer begannen, mit Steinen nach ihr zu werfen. Die Frau konnte mit ihrem Baby unverletzt in ein Geschäft flüchten, ihr Auto wurde beschädigt. Der Fall sorgte landesweit für Schlagzeilen. Für Nili Philipp war er ein Wendepunkt. „Dieses Baby hätte verletzt werden können! Ich sagte zu meinen Freunden: Es reicht. Morgen wird nicht wie gestern sein.“
Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten ging sie in die Offensive. Zunächst konzentrierten sie sich auf die Schilder, die Frauen zu züchtiger Kleidung aufforderten. Die Stadt, deren Bürgermeister selbst ultraorthodox ist, hatte das Phänomen bis dahin ignoriert. Nun zogen Nili Philipp und ihre Mitstreiterinnen vor Gericht, um die Stadt zur Beseitigung der Schilder zu zwingen.
Dabei erhielten sie juristische Unterstützung vom „Israel Religious Action Center“, kurz IRAC, einer Organisation, die mit der liberalen Reform-Strömung des Judentums assoziiert ist und sich für religiösen Pluralismus einsetzt. Das IRAC gilt als politisch links, während Beit Shemesh eine konservative Stadt ist. Die Kooperation mit IRAC habe sie in Beit Shemesh Sympathien gekostet, gibt Nili Philipp zu. „Aber keine andere Organisation hat uns Hilfe angeboten. Also haben wir die Politik beiseite gelegt, und daraus ist eine wunderbare Zusammenarbeit entstanden.“
Im vergangenen Jahr erzielten die Frauen einen Durchbruch: Israels Oberster Gerichtshof erklärte die Schilder für illegal und wies die Stadt an, sie zu entfernen. „Frauen vorzuschreiben, wie sie sich kleiden und wo sie sich im öffentlichen Raum bewegen sollen, verstößt gegen das Grundgesetz auf Ehre und Freiheit“, sagte einer der Richter in seiner Urteilsbegründung. Ein wichtiger Erfolg für die Frauen um Nili Philipp, die derweil zum Gesicht der Kampagne aufgestiegen war und doch nur ein Etappensieg: Kurz nachdem Angestellte der Stadt unter starkem Polizeischutz die Schilder entfernt hatten, tauchten ähnlich formulierte Ermahnungen wieder auf – diesmal als Graffiti. „Gäbe es Überwachungskameras, hätte die Polizei diese Leute erwischt“, ärgert sich Philipp. Sie gibt sich überzeugt, dass die auffällige Passivität der lokalen Polizei politisch angeordnet sei.
Der lokale Konflikt könnte eine Ahnung vermitteln von soziokulturellen Verwerfungen, die dem Land womöglich in den kommenden Jahren drohen. Schon heute kollidieren die verschiedenen Interessen von Ultraorthodoxen auf der einen und säkularen sowie moderat religiösen Israelis auf der anderen Seite: Die Strenggläubigen drängen auf strengere Einhaltung der jüdischen Gesetze im öffentlichen Raum und bewachen zugleich eifersüchtig ihre Privilegien wie etwa die Befreiung vom Wehrdienst, was in der Mehrheitsgesellschaft auf wachsenden Unmut stößt.
Ein Vorgeschmack auf kommende Probleme
In Zukunft dürften sich diese Konflikte verschärfen – und sich die Machtverhältnisse zugunsten der Ultraorthodoxen verschieben: Ihr Anteil an der Bevölkerung, heute bei zwölf Prozent, wird laut Schätzungen in den kommenden 30 Jahren auf rund ein Drittel anwachsen. In Beit Shemesh werden die Strenggläubigen bald sogar die Mehrheit stellen: Schon heute besuchen die meisten Kinder der Stadt ultraorthodoxe Schulen. Die übrigen Bewohner können lediglich darauf hoffen, dass sich die moderaten Kräfte unter den Ultraorthodoxen gegen die Radikalen durchsetzen. Nili Philipp sieht einige Anzeichen dafür. „Wir haben große Unterstützung auch unter ultraorthodoxen Männern und Frauen,“ sagt sie, „im Privaten sagen sie zu uns: Macht weiter so!“
Dennoch fürchtet sie, ohne Unterstützung auf nationaler Ebene den Kampf um den Charakter ihrer Stadt zu verlieren. „Die liberale Öffentlichkeit muss landesweit aufwachen. Wir müssen die Regierung verändern. Das Problem ist, dass die liberale Öffentlichkeit in viele kleine Interessengruppen unterteilt ist.“ Die ultraorthodoxen Parteien könnten daher, obwohl sie selbst eine Minderheit vertreten, überproportional viel Einfluss ausüben und die Regierungskoalition unter Druck setzen. „So nehmen sie das Land in Geiselhaft“, urteilt Philipp. „Das ist eine Schwäche unseres demokratischen Systems – und sie ist gefährlich, weil sie zu undemokratischen Resultaten führt.“
Trotzdem will sie weiterkämpfen. Derzeit studiert sie Jura, parallel zu ihrem Job als Ingenieurin. Zwar will sie nicht als Anwältin arbeiten, aber besser gerüstet sein für die nächsten juristischen Kämpfe um ihre Stadt. Bei den Kommunalwahlen im Oktober kandidierte sie für einen Sitz im Stadtrat für die Gruppierung „Unser Beit Shemesh“, die der linken Arbeitspartei nahe steht. Zwar gewann sie keinen Sitz, doch das Bündnis schnitt gut ab – und noch wichtiger: Der ultraorthodoxe Bürgermeister wurde abgewählt und durch die religiös-nationalistische Kandidatin Aliza Bloch ersetzt.
Zum ersten Mal wird eine Frau die Stadt regieren. Die neue Bürgermeisterin sei zwar keine Feministin, sagt Nili Philip, aber „unendlich viel besser“ als ihr Vorgänger. Die Wahl hat ihr neue Hoffnung gegeben. „Jeder in unserer Situation denkt manchmal daran, Beit Shemesh zu verlassen“, gesteht sie, „aber unsere Kinder sind hier aufgewachsen, all ihre Freunde leben hier, und wir lieben die Stadt. Man sollte sein Zuhause nicht aufgeben müssen, nur weil geltendes Recht nicht durchgesetzt wird.“