Ihr Traum ist das Siegertreppchen. Doch dafür muss die 26-jährige Ornella Havyarimana nicht nur wirtschaftliche Hürden überwinden, denn Boxen ist in Burundi „nichts für Mädchen“. Wir haben sie getroffen und begleitet.
Von Helena Kreiensiek, Bujumbura
Es ist Samstag, 6 Uhr morgens. Die Temperaturen sind noch kühl, als sich Ornella Havyarimana die Laufschuhe schnürt, um den ersten Teil ihres täglichen Trainings zu absolvieren. Heute steht Ausdauer für die 26-Jährige auf dem Programm. Obwohl es so früh ist, ist sie nicht alleine. Gemeinsam mit Hunderten anderer Sportler*innen läuft Ornella Havyarimana auf den Kiriri-Berg.
Singend und schnaufend schlängeln sich kleinere Grüppchen von Läufer*innen die knapp 3,5 Kilometer lange beliebte Joggingstrecke in Burundis größter Stadt Bujumbura hoch. In den Parkbuchten bieten Fitnesstrainer Aerobic-Kurse unter freiem Himmel oder Drills zum Abnehmen an. Doch während die meisten hier die steile Strecke erklimmen, um fit zu bleiben, hat Ornella Havyarimana ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen: die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
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Mit ihren derzeit 54 Kilogramm ist die junge Frau Burundis vielversprechendstes Box-Talent – und momentan die einzige Sportlerin, die das ostafrikanische Land bei internationalen Wettkämpfen vertritt. Bei den Olympischen Spielen in Japan 2020 schaffte es Ornella Havyarimana auf den neunten Platz in der Kategorie Fliegengewicht (bis 51 Kilo). Nun will sie eine Gewichtsklasse höher antreten und es im Bantamgewicht (bis 54 Kilo) aufs Siegertreppchen schaffen. „Der Grund ist, dass die Organisatoren der Olympischen Spiele die Gewichtskategorien verändert haben“, erklärt Ornella Havyarimana.
Die 51-Kilo-Kategorie sei rausgestrichen worden. „Es gab die Wahl zwischen 50 und 54 Kilo Kampfgewicht“, erklärt die Boxerin. Für sie hieß das, dass sie zwei weitere Kilo zu ihrem üblichen Gewicht zulegen musste, um Gegnerinnen im Ring nicht unterlegen zu sein. „Hartes Training und zielorientiertes Essen“ sei das Rezept gewesen, lautet die knappe Antwort, während sie aus ihrer Trainingsjacke schlüpft. Sehr gerne steht die eher schüchterne 26-Jährige nicht im Mittelpunkt. Doch im Boxring ist sie in ihrem Element.
Vor zehn Jahren mit dem Boxen angefangen
Genau zehn Jahre sei es her, dass Ornella Havyarimana mit dem Boxen angefangen habe, erinnert sich ihr Trainer Joseph Nkamicaniye. Er erzählt, dass er damals ein Boxangebot für Mädchen in den Armenvierteln ins Leben gerufen habe. Havyarimana sei die Einzige, die bis heute dabeigeblieben sei. Als Frau in einer von traditionellen Rollenbildern und Werten geprägten Gesellschaft habe sie mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. „Mir ist schon oft gesagt worden, dass ich aufhören soll. Dass Boxen kein Sport für Mädchen ist“, sagt die junge Frau.
Ihre Familie habe es nicht gerne gesehen und die Sorge geäußert, sie werde keinen Ehemann finden, sollte sie mit dem Boxen weitermachen. Zudem seien die meisten ihrer Freundinnen bereits verheiratet und hätten Kinder. Für Ornella Havyarimana aber lagen die Prioritäten immer anders. Selbst als ihr Vater sie aus dem Haus warf und sich weigerte, die Schulgebühren zu zahlen, um sie zum Aufhören zu zwingen, hielt sie an dem Kampfsport fest – auch wenn dies den Umzug in das Haus der Großmutter bedeutete und sie mehrere Monate lang die Schule verpasste.
Doch genau dieser Wille sei es, der sie auszeichne, findet ihr Trainer. Für ihn steht fest, dass sie alle Voraussetzungen hat, um sich ganz oben in der Box-Liga ihren festen Platz zu sichern. „Sie hat in Tokio schon gezeigt, wie weit sie kommen kann, wenn ihr die Chance gegeben wird – und das, obwohl damals das Geld nicht gereicht hat, um auch für mich ein Flugticket zu kaufen“, erinnert er sich.
Während andere Sportler*innen mit einer regelrechten Delegation zu internationalen Sportevents wie den Olympischen Spielen reisen, flog die damals 23-Jährige 2020 alleine nach Japan, gänzlich ohne die psychologische und fachliche Unterstützung ihres Trainers. Denn: Die Finanzierung der Teilnahme an internationalen Sportwettkämpfen ist schwierig. Es gebe zwar ein burundisches Olympisches Komitee, doch habe auch dieses kaum Mittel zur Verfügung. Immer wieder steht deshalb die Teilnahme an sportlichen Events wie den Olympischen Spielen auf der Kippe.
„Es gibt zwei Arten, um sich zu qualifiziere: entweder direkt über eine Platzierung bei einem Qualifikationsturnier, oder indirekt“, erklärt Ornella Havyarimana. Dazu ist es jedoch notwendig, an mehreren internationalen Turnieren teilzunehmen, um ein entsprechendes Ranking zu erreichen. „Im September war ich dazu in Dakar, Senegal. Nächstes Jahr steht noch ein Turnier in Italien und eines in Thailand an. Und erst dann weiß ich, ob ich die Qualifikation für Paris geschafft habe“, erklärt sie den weiten Weg zu Olympia. Um die Kosten zu stemmen, habe sie in der Vergangenheit Spendenkampagnen ins Leben gerufen und versucht, günstig vor Ort unterzukommen. Aber: „Die Mittel sind jedes Mal knapp.“
Bürgerkrieg und politische Proteste
Während es in Deutschland Vereinsstrukturen gibt, durch die Talentscouting, Nachwuchsförderung und der kostengünstige Zugang zu Sportangeboten schon von klein auf möglich gemacht wird, gibt es so etwas in Burundi nicht. Auch wenn die deutschen Sportler*innen zuletzt bei internationalen Wettkämpfen oft leer ausgingen, reagierte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und kündigte gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium (BMI) neue Maßnahmen zur Spitzensportförderung an. Zudem greifen Institutionen wie die Deutsche Sporthilfe Top-Athlet*innen finanziell unter die Arme. Strukturen, von denen Burundis Box-Duo bislang nur träumen kann.
Nach Jahrzehnten von Konflikten zwischen den ethnopolitischen Gruppierungen Hutu und Tutsi, die Anfang der 1990er Jahre in einen blutigen Bürgerkrieg mündeten und erst 2000 mit einem Friedensvertrag offiziell endeten, werden viele Strukturen immer noch wieder aufgebaut. Allerdings kehrte auch nach dem Bürgerkrieg keine Ruhe ein: Während der Wahlen 2015 schlug der damalige Präsident Pierre Nkurunziza Straßenproteste brutal nieder, die sich gegen seine erneute Kandidatur richteten. Zahlreiche Radiosender wurden zerstört, Presse- und Meinungsfreiheit drastisch eingeschränkt. Die harte Hand gegen die politischen Proteste führte dazu, dass das Leben in Bujumbura, dem Zentrum der Aufstände, zum Stillstand kam.
Eine repressive Regierung, Korruption und die politische Unruhe in den Jahren danach haben dazu geführt, dass sich Burundi heute in einer schweren Wirtschaftskrise wiederfindet. Auch wenn sich die politische Lage vergleichsweise verbessert hat und das ostafrikanische Land in kleinen Schritten seine internationalen Beziehungen wieder aufwärmt, reihen sich vor den Tankstellen kilometerlang die Autos. Benzin und auch Zucker sind seit Monaten Mangelware, es herrscht Knappheit bei vielen Produkten.
Improvisiertes Training
Doch davon will sich Havyarimana nicht von ihrem Weg abbringen lassen. Von einer Platzierung bei der nächsten Box-Olympiade erhofft sich die 1,69 Meter große Sportlerin, das Boxen zu ihrem Hauptberuf zu machen. Momentan schlage sie sich so durch, mit kleineren Jobs mal hier, mal dort, erzählt sie. Gerade arbeitet sie in einem kleinen Laden in Bujumburas Innenstadt und verkauft dort Schuhe und Damenbekleidung. Dazu trainiert sie jeden Tag.
Doch während andere Box-Profis ihre sportliche Vorbereitung in gut ausgerüsteten Studios angehen, steht Ornella Havyarimana momentan nur der öffentliche Stadtpark in Bujumbura zur Verfügung – oder eben der Kiriri-Berg. „Das Fitnessstudio, wo ich bislang kostenfrei trainieren konnte, hat vor Kurzem geschlossen“, erklärt sie. Auch dort waren die zur Verfügung stehenden Mittel einfacher Natur, doch immerhin sei Hanteltraining möglich gewesen.
Ein richtiges Studio mit Boxring gebe es in der Stadt unterdessen nicht. Langfristig träumt die 26-Jährige davon, das zu ändern. Gemeinsam mit ihrem Trainer möchte sie eine Box-Akademie in Burundi aufbauen, die es benachteiligten Mädchen und Jungen ermöglicht, den Sport kennenzulernen. Denn Boxen habe ihr Leben verändert. „Es gab mir Selbstvertrauen und Ziele, auf die ich hinarbeiten konnte“ – und schnürt sich die Laufschuhe, um ihr Ausdauertraining am Kiriri-Berg anzugehen.
Oben angekommen bieten Straßenverkäufer den schnaufenden Läufer*innen frisch gepressten Zuckerrohrsaft an oder improvisieren Massagestationen auf dem Asphalt. Die Straße vor dem Universitätsgelände entwickelt sich an Samstagen zu einer regelrechten Unterhaltungs- und Verköstigungsmeile. Ornella Havyarimana aber gönnt sich keine Verschnaufpause. Nach ein paar Liegestützen und Kniebeugen läuft sie den Berg wieder hinunter. Für sie geht das Training weiter, den Blick fest nach Paris gerichtet.