Knapp 30.000 Schwed*innen haben kein festes Zuhause. Sarah Britz, Chefredakteurin und Geschäftsführerin von „Faktum“, einem hochwertigen Magazin, möchte ihnen Einkommen, Struktur und mehr Sichtbarkeit geben. Wir haben der Redaktion einen Besuch abgestattet.
Von Regine Glass, Göteborg
Zusammenfassung:
Sarah Britz, Chefredakteurin des Göteborger Magazins „Faktum“, schafft mit ihrem Projekt eine Plattform für Wohnungslose, die nicht nur Einkommen und Struktur, sondern auch Sichtbarkeit bietet. Das hochwertig gedruckte Magazin wird von Straßenverkäufer*innen vertrieben und kombiniert Journalismus mit sozialen Anliegen. Britz setzt auf Qualität und direkte Begegnungen zwischen Verkäufer*innen und Kund*innen, um Ausgrenzung entgegenzuwirken. Ihr Ziel: Menschen als mehr als ihre Lebenssituation zu zeigen.
Die Redaktion von „Faktum“ liegt am Chapmans Torg im Göteborger Viertel Majorna. Hier sind die Mieten noch günstig und die Bewohner*innen Alteingesessene und zugezogene Hipster. Am Nachmittag und Abend füllt sich der Platz und seine Cafés und Restaurants mit Menschen, die den Feierabend bei Tapas, Sushi oder Fischburgern und Bier ausklingen lassen. Doch morgens ist es hier noch still. Nur vereinzelt streifen ein paar Passant*innen auf dem Weg in den Supermarkt vorbei. Bald wird am Eingang der hiesigen Kette ein Verkäufer stehen und „Faktum“ verkaufen.
Das Magazin ist eine Mischung aus Investigativjournalismus, Porträts und Geschichten der Verkäufer*innen. Zum Beispiel die eines rumänischen Unternehmers und Familienvaters, der in Schweden keine Arbeitserlaubnis hat, und deshalb nun nach Deutschland ziehen möchte. Sein Einkommen aus dem Verkauf von „Faktum“ soll in dieses Vorhaben fließen. Die Zeitschrift wird auf hochwertigem Papier gedruckt und ist mit etwa zehn Euro pro Heft vergleichsweise teuer.
Die Verkäufer*innen bieten außerdem eigens für den Verlag herausgegebene Bücher an, zum Beispiel klassische schwedische Novellen von Astrid Lindgren oder August Strindberg. Oder Faktum-Fanartikel wie Jutebeutel mit Slogans, die sich als „Ich trage eine Geschichte“ oder „Das wird schon“ übersetzen lassen. Ebenfalls beliebt ist der Wandkalender, in dem die Straßenverkäufer*innen mit ihren individuellen Geschichten und Fotos zu sehen sind. Erwirbt man diese Produkte zusammen mit dem Heft, kostet das 20 Euro.
Geschäftsfrau und Journalistin aus Überzeugung
Wer kann sich das überhaupt leisten? „Frauen wie ich“, sagt Sarah Britz – sowie weitere 114.000 Leser*innen bei einer Auflage von 36.000 Exemplaren im Monat, laut einer Umfrage der schwedischen Konsumentenvereinigung. Sie sind mit 58 Prozent meist Frauen, an sozialen und Umweltthemen interessiert, gut verdienend, gebildet, und reisen gern.
Die 60-Jährige sitzt seit zehn Jahren in ihrer doppelten Führungsrolle als Geschäftsführerin und Chefredakteurin auf dem Chefinnensessel. Britz wird täglich von ihrer Französischen Bulldogge ins Büro begleitet. Vorher war sie 20 Jahre lang Reporterin bei Göteborgs-Posten, einer der größten Tageszeitungen Schwedens. Dort hat sie in den 90er Jahren hauptsächlich über die wieder erstarkende Neonazibewegung berichtet. Als die Journalistin die Chance bekam, „Faktum“ zu übernehmen, zögerte sie nicht.
„Ich war neugierig und dachte, dass man mit dieser Art von Journalismus die Gesellschaft auf eine ganz neue Art beeinflussen kann.“ Sie hat einen Studienabschluss in Soziologie, in den Journalismus kam sie als Quereinsteigerin erst mit über 30 Jahren, nachdem sie jahrelang im Gesundheitsbereich – vor allem in Psychiatrien – gearbeitet hatte. „Ich hatte immer ein gewisses Interesse an Menschen, die etwas außerhalb der Gesellschaft leben“, so Britz. Damit hat sie also tatsächlich einiges mit ihren Leser*innen gemein.
„Die Produkte müssen eine gewisse Qualität haben, sonst werden sie ja nicht gekauft. Und wenn sie nicht gekauft werden, haben auch unsere Verkäufer*innen nichts davon.“ Faktum ist kein gemeinnütziger Verein, sondern ein Geschäft. Es finanziert sich zu je einem Drittel durch den Verkauf des Magazins und der Fanartikel, durch Anzeigen und durch Sponsoren wie Göteborgs-Posten, Britz‘ ehemaligem Arbeitgeber, oder ein Optiker, der die Verkäufer*innen mit neuen Brillen versorgt.
Bis vor ein paar Jahren wurde das Heft zusätzlich mit 20.000 Euro durch die Stadt gefördert, doch diese Summe wurde gestrichen. „Das war viel Geld für uns und somit ein herber Verlust“, so die Journalistin und Geschäftsfrau. Im Winter laufen die Geschäfte gut. Die Menschen wollen spenden und Weihnachtsgeschenke kaufen. Neben der Qualität müsse vor allem der Inhalt stimmen, um die anspruchsvolle Leserin zu überzeugen, so Britz. Für sie ist es das weltbeste Modell, guten Journalismus zu machen.
Außenseiter*innen eine Stimme geben
„Man gibt Menschen eine Stimme, die in dieser Medienlandschaft nicht so oft gehört werden. Menschen mit unterschiedlichen Arten von Außenseitertum: Drogensüchtige, Wohnungslose oder Menschen mit mentalen Problemen. Im besten Fall verändert man auf diese Art nicht nur ihr eigenes Selbstbild, sondern auch den Blick der Gesellschaft auf sie. Nämlich als Menschen, nicht nur als Opfer, Drogensüchtige oder Wohnungslose. Wir sind ja mehr als unsere Lebenssituation“, so die Geschäftsführerin, der es immer noch wichtig ist, auch selbst Journalismus zu machen.
2024 erfüllte sie sich einen Reporterinnentraum und recherchierte zur Wohnungslosigkeit in Finnland. Sie kehrte nicht nur mit Reportagen zurück, die sie im eigenen Heft publizierte, sondern erweiterte ihren Blick um eine politische Lösung der Wohnungslosigkeit. Finnland hat seit 2008 mit dem Angebot spezieller Wohnungen für Menschen mit wenig Geld die Wohnungslosigkeit halbiert. Schon in vier Jahren soll es dort gar keine Wohnungslosen mehr geben.
Diesen ambitionierten Plan hat in der Zukunft auch die schwedische Regierung. Bisher ist der Erhalt einer festen Wohnung hier noch an Auflagen geknüpft, zum Beispiel bei Drogenmissbrauch. Sarah Britz ist jedoch begeistert von der finnischen Idee, zuerst eine Wohnung zu geben, und erst dann Hilfe für die anderen Probleme. „Das ist die einzige empirische Lösung, die beweisbar bei Wohnungslosigkeit greift“, meint Britz, die neben ihrer Aufgabe bei „Faktum“ auch die Vorsitzende der Internationalen Vereinigung der Straßenzeitungen ist.
Routine und Sichtbarkeit für Wohnungslose
Knapp 30.000 Menschen leben im Zehn-Millionen-Einwohner*innen-Land Schweden in einer Art von Wohnungslosigkeit, ergab eine nationale Untersuchung der schwedischen Sozialbehörde von 2023. 62 Prozent der Wohnungslosen hatten der Studie zu Folge eine Unterkunft, die ihnen gegen Auflagen vom Staat bezahlt wird, und bei Verstoß jederzeit weggenommen werden kann.
Die Wohnungslosen, die auf der Straße leben, machen dagegen einen weitaus kleineren Anteil von 16 Prozent aus. Weitere zwölf Prozent kommen kurzfristig bei Bekannten, Freund*innen und Familie unter und zehn Prozent haben keine behördlich erfasste Adresse. Deshalb spricht man auch von einer unsichtbaren Wohnungslosigkeit in Schweden, die schwer statistisch zu erfassen ist.
Als Chefredakteurin von „Faktum“ sieht sich Britz nicht für diese großen Probleme verantwortlich. „Was wir den Menschen geben, das sind Routinen und Sichtbarkeit“, ist sich die Göteborgerin sicher. Die Verkäufer*innen kämen jeden Morgen, um sich ihre Hefte abzuholen, sie kauften sie zum Preis von ungefähr fünf Euro ein. Es lohne sich für sie nur, so viele Hefte zu kaufen, wie sie auch verkaufen könnten. Auf diese Art und Weise müssen sie ihre Schichten selbst planen. Ihre Tage erhielten somit Aufgaben und Struktur.
Die Sichtbarkeit ergibt sich durch den Verkauf selbst. Wer in Göteborg eine Weile im selben Viertel wohnt, bemerkt schnell, dass einem immer wieder die gleiche Verkäufer*in begegnet. Eine persönliche Beziehung entsteht, die Verkäufer*in kommt mit ihren Stammkund*innen ins Gespräch. Im Idealfall kaufen diese dann jede monatliche Ausgabe des Magazins.
Situation für Verkäufer*innen spitzt sich zu
Obwohl der Verkauf momentan gut läuft: Die Situation für die Verkäufer*innen ist nicht einfach. Das ist auch auf der Straße spürbar. Immer wieder kommt es vor, das „Faktum“-Verkäufer*innen zusätzlich nach Geld für Lebensmittel und Medikamente fragen. Das liege laut Britz an der politischen Lage der Herkunftsländer der Verkäufer*innen. Die meisten von ihnen kommen aus Rumänien.
Mit ihren Einkünften versorgen sie häufig dazu, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familien im Ausland. Die Schwedische Krone ist jedoch zur Zeit schwach – und damit in Rumänien weniger wert. Zum anderen ist die politische Situation durch eine rechte Regierung in Rumänien zugespitzt. Diese Probleme kann „Faktum“ nicht für seine Verkäufer*innen lösen.
Aber sie wollen hier in Schweden sein, und wir geben ihnen einen Alltag, ein Einkommen und Routinen.“ Eine Verkäuferin für ein Interview zu treffen ist schwierig. „Viele Frauen verbringen ihren kompletten Tag in der Straßenbahn“, so Britz. Oft haben Frauen vor Ort in Göteborg nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder zu versorgen. So ziehen sie von einer Wohlfahrtsstelle zur nächsten, bis sie am Abend wieder ihre Herbergen aufsuchen.
Hat ein Printprodukt Zukunft?
Sophie Cronholm ist die Verkaufsverantwortliche bei „Faktum“ und kennt alle Gesichter des Magazins. Täglich verteilt sie die Magazine an die Verkäufer*innen. Cronholm hat ein gutes Verhältnis zu jeder und jedem Einzelnen. Nur einmal in den zehn Jahren, die sie bereits für „Faktum“ arbeitet, hat sie den Notfallknopf bedienen müssen. Ein Drogensüchtiger hatte sie damals bedroht. Aber ihrer Freude am Job hat dieses Erlebnis keinen Abbruch getan: „Man kommt hierher, im Bewusstsein, etwas Gutes zu tun.“
Doch was passiert mit dem Magazin, wenn eines Tages keine Printprodukte mehr gekauft werden? Die Medienlandschaft ist weltweit im Wandel. Auch in Schweden wird sie immer digitaler. „Ich scherze darüber, dass wir die Schallplatte unter den Medien sind“, antwortet Britz. „Die Leute werden immer noch auf Papier lesen wollen. Sie wollen etwas in den Händen halten und haben es manchmal satt, nur auf den Bildschirm zu schauen. Ich sehe in Bussen und Straßenbahnen immer mehr Menschen, die Bücher lesen.“
Dennoch: Wenn es keine Kundschaft mehr für „Faktum“ gebe, sei es mit einer Onlinepräsenz nicht getan. Die Marke lebe vom Kontakt mit den Verkäufer*innen. Inspiration findet sie in anderen europäischen Ländern. „In den Niederlanden gibt es ein Beispiel mit einem QR-Code, den die Leser*innen von den Verkäufer*innen kaufen können“, so Britz. Hauptsache, die Verkäuferinnen und Verkäufer bleiben sichtbar.