Todesflüge, Verschleppung, Kindesraub – die grausamen Verbrechen der Diktatur werden in Argentinien juristisch aufgearbeitet. Doch die ehemaligen Militärs schweigen eisern. Nun haben ihre Kinder damit begonnen, ihre Stimme zu erheben. So stellt sich auch Erika Lederer gegen die eigene Familie und die Verklärung der Vergangenheit.
Von Anne Herrberg, Buenos Aires
Zehntausende weiße Kopftücher, zu Dreiecken gefaltet, hochgereckt in den blauen Abendhimmel über der Plaza de Mayo im Herzen von Buenos Aires. Dieses Bild vom 10. Mai 2017 bleibt in Erinnerung. Hunderttausende Menschen, ein weißes, wogendes Meer des Protestes. Das Oberste Gericht hatte damals erklärt, bereits verurteilten Menschenrechtsverbrechern unter Umständen Strafnachlass zu gewähren. Hausarrest für Folterer und Mörder? „Nein, ihr Herren Richter! Nunca Más!“ schallte es aus dem Meer an Kopftüchern. Mittendrin Erika Lederer. Allein. Sprachlos. Wütend. Später sagt sie über diesen Moment: „Ich bin auf viele Demonstrationen gegangen, aber ohne zu sagen, wer ich in Wirklichkeit bin. Denn dafür habe ich mich immer geschämt, das hat mich sehr einsam gemacht.“
Das Kopftuch ist ein Symbol für Zivilcourage: Es ist das Erkennungszeichen der argentinischen Menschenrechtsorganisation „Mütter der Plaza de Mayo“. Bereits während Argentiniens Militärdiktatur forderten diese Frauen Aufklärung über das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder. Laut Schätzungen sind bis zu 30.000 Menschen zwischen 1976 und 1983 spurlos verschollen: Studenten, Gewerkschaftler, Oppositionelle. Die Militärs in Argentinien nahmen die Justiz stets selbst in die Hand. Wie Ricardo Nicolás Lederer – Erikas eigener Vater. Er war zweiter Chefarzt in der Militärbasis Campo de Mayo. Sie diente während der Diktatur als geheimes Gefangenen- und Folterlager.
Die Töchter der Folterer
„Ich bin die Tochter eines genocidas, eines Völkermörders“, schreibt Erika nach der Demo auf Facebook. Zum ersten Mal spricht sie offen über ihre Geschichte. Ihr Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre tot. „Ich habe lange gebraucht, sagen zu können: Er war mein Vater, er gehört zu meiner Geschichte, aber ich bin nicht wie er.“ Mut hatte ihr der Artikel einer anderen Tochter eines Ex-Militärs gemacht, der online erschienen war. Erika sucht den Kontakt zu ihr. Dann wendet sie sich an weitere Kinder ehemaliger Militärs. Sie schlägt vor, sich gemeinsam gegen die Verbrechen der Väter und für Aufklärung auszusprechen.
Es kommt zu einem Treffen und der Gründung des Kollektivs. „Historias Desobedientes” (zu Deutsch „Geschichten des Ungehorsams”). Dass darin vor allem die Töchter vertreten sind, wundert Erika nicht. Es seien in Argentinien immer wieder Frauen gewesen, die gesellschaftlichen Wandel angestoßen hätten, denn die Strukturen, gegen die sie sich auflehnten, seien stark von Machismo geprägt: „In der Welt der Militärs herrscht das Patriarchat, als Frau musst du gehorchen. Das haben viele von uns Töchtern auch zu Hause zu spüren bekommen.“
Heute lebt Erika in einer kleinen Mietwohnung im Kongressviertel von Buenos Aires, getrennt von der Familie und vom Lebenspartner, mit dem sie zwei Kinder hat. Er sei gewalttätig gewesen, erzählt sie. Trotz ihres durchtrainierten Körpers wirkt die 41-Jährige zerbrechlich. Die schwarzen Haare fallen ihr ins Gesicht, ihre Finger klammern sich nervös an einen Mate-Tee-Becher.
„Militärs haben Hunde, keine Katzen“
Sie heißt Erika mit K, obwohl diese Schreibweise in Argentinien bei ihrer Geburt im November 1976 nicht zulässig war – doch der Vater, deutschstämmig mit Leutnantsrang, wollte es so. „Ein paar Militärstiefel flößten den Beamten im Standesamt damals genug Angst ein, um ihm nicht zu widersprechen“, erinnert sich Erika. Der Vater habe immer wieder mit dieser Anekdote geprahlt. Ein Machtmensch. Einer, der anderen gern seinen Willen aufzwingt.
Katze Kaiki schleicht ums Tischbein. Sie hat einen Tumor im Schwanz, er müsste operiert, wahrscheinlich amputiert werden, sagt Erika. Aber sie traut sich nicht. Sie hat Angst vor Katzen ohne Schwanz. Als sie einmal als kleines Mädchen ein Kätzchen von der Straße mit nach Hause brachte, schnitt ihr der Vater den Schwanz ab und sagte: „Militärs haben Hunde, keine Katzen!“ Das Tier verblutete. Bei jedem Widerspruch gab es Prügel. Als der Vater linke Zeitschriften in ihrem Zimmer entdeckte, schlug er so heftig zu, dass der Bruder eingriff. In der Schule galt Erika als Autistin. Jahrelang litt sie unter Bulimie. „Ich kotzte meinen Vater aus“, sagt sie heute.
„El Loco“ – „der Verrückte“ – wurde ihr Vater Ricardo Lederer selbst von seinen Kumpanen genannt. Er sympathisierte mit dem Nationalsozialismus und begeisterte sich für Konzepte der Reinheit der Rasse. Er arbeitete in der Geburtsstation der Militärbasis. Seine Tochter erinnert sich an die Apelle, die Märsche, die schwarzen Lederstiefel und die kleinen Babywiegen, aufgestellt in Reih und Glied. Erst später fragte sie sich: Wer waren diese Kinder? Wem gehörten sie?
Heute ist bekannt: Während der Diktatur wurden Babys gestohlen. Der Kindesraub hatte System. Gefangenen Frauen, die schwanger waren, wurde kurz nach der Geburt das Neugeborene weggenommen, danach verschwanden die Mütter meist für immer. Viele wurden „verlegt“ – das Codewort für die sogenannten Todesflüge: Die Gefangenen wurden betäubt und dann aus Flugzeugen über dem offenen Meer abgeworfen. Die Babys dagegen sollten „eine katholisch-patriotische Erziehung“ erhalten und wurden nicht selten sogar an die Familien, an Freunde oder Verwandte der Mörder abgegeben.
Insgesamt 500 Neugeborene wurden so geraubt, vermutet die Menschenrechtsorganisation „Großmütter der Plaza de Mayo“, eine Splittergruppe der „Mütter der Plaza de Mayo“, die seit 40 Jahren nach den Enkeln sucht. Dank einer DNA-Datenbank konnten bereits 127 ihre wahre Identität zurückerlangen. Darunter auch Pablo Javier. Er ist der wiedergefundene Enkel Nr. 106. Unter seiner gefälschten Geburtsurkunde, datiert auf den 23. Juli 1978, prangt die Unterschrift von Ricardo Lederer, Erikas Vater.
Ein Schwur, der nichts gilt
1985, zwei Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie, erscheint in der linksgerichteten Zeitung Pagina12 ein Artikel. Es geht um einen der engsten Freunde Lederers, den Ex-Polizeichef der Provinz Buenos Aires, Ramón Camps, verantwortlich für die dortigen geheimen Gefangenen- und Folterlager. „Hast du auch jemanden umgebracht?“, fragt ihn die erst Neunjährige da. „Ja“, sagt der Vater schroff. Es sei Krieg gewesen. Man habe das Vaterland gegen linke Terroristen verteidigt. Man solle ihnen, den Militärs, lieber dankbar sein.
„Ich habe mich immer mit meinem Vater gestritten, aber da begannen die Dinge komplett auseinanderzufallen“, erinnert sich Erika, die als Anwältin heute in Gefängnissen als Vermittlerin arbeitet. „Mein Vater war Arzt. Er hat den hippokratischen Eid geschworen. Er sagte uns immer, man müsse mutig und aufrichtig sein. Was ist mutig daran, einen nackten Menschen zu foltern? Einer Mutter ihr Kind wegzunehmen? Wie soll das zusammenpassen?“ Der Vater schweigt.
Erika sucht nach Antworten. Sie stürzt sich in den Sport, schwimmt kilometerweit durchs offene Meer, trainiert im Fitnessstudio, beginnt zu tanzen und entdeckt die Philosophie. Heidegger, Kant, Wittgenstein. Was ist wahr, was ist falsch, wie kann man darüber sprechen? „Es ist wie eine innere, schizophrene Spaltung, in der du lebst“, versucht Erika zu erklären, „derjenige, der brutale Verbrechen begangen hat, ist dein Vater, du kannst ihn nicht einfach löschen oder ignorieren.“ Erika spricht über ihre eigene Geschichte, den Versuch, ihre Identität zu rekonstruieren, aber sie spricht auch über ihr Land.
Das Erbe der Diktatur lastet bis heute schwer. Lange Zeit stoppten Amnestiegesetze den Blick zurück. Erst 2005 machten das Oberste Gericht und die damalige Regierung Kirchner den Weg für eine juristische Aufarbeitung frei: Erste Gerichtsprozesse laufen an, immer mehr Ex-Militärs werden verurteilt. Als im Jahr 2012 die gefälschte Geburtsurkunde des geraubten Enkels Nr. 106 auftaucht, droht auch Lederer ein Prozess. Einen Tag später lädt er seinen Revolver und erschießt sich.
Schweigen als Heldentat
Für Freunde aus Militärkreisen ist Lederer ein Held. Er hat nicht ausgepackt, er hat das Schweigegelübde gewahrt, ist seinen Prinzipien treu geblieben. Wie kaum anderes Land hat Argentinien die juristische Aufklärung der Diktaturverbrechen vorangetrieben. Doch die Täter schweigen, bereuen nicht, geben keine Daten zu den nach wie vor unbekannten Schicksalen von Tausenden Verschwundenen preis.
Erika dagegen ist für ihre Familie „eine Verräterin“, so stand es schwarz auf weiß in einer Mail ihres Bruders. „Wir sprechen nicht mehr.“ Eine Verräterin, weil sie sich mit anderen Töchtern von Diktaturverbrechern zusammengeschlossen hat, weil sie sich offen gegen Strafminderungen für Menschenrechtsverbrecher ausspricht, weil sie als Zeugin bei einem Gerichtsprozess über die sogenannten Todesflüge während der Militärdiktatur aussagte.
Dafür bekommt sie viel Zuspruch, auch von Menschenrechtsgruppen – trotzdem ist Erika Lederer das aktuelle Medieninteresse auch suspekt: „Es gab den Versuch, uns als ein Kollektiv hinzustellen, das für Versöhnung mit der Vergangenheit steht. Das ist eine Verdrehung unserer Botschaft.“ Erika sucht nach Worten, bricht Sätze ab, streicht immer wieder die Haare zurück. Man sieht ihr an, wie wichtig es ihr ist, nicht falsch verstanden zu werden. Sie erklärt: „Wir sind keine Opfer, wir fordern keine Versöhnung, sondern Wahrheit. Dafür tragen auch wir Verantwortung. Es gibt immer noch Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist, die kein Grab haben, an dem sie trauern können.“ Die Diktaturverbrechen prägen also nach wie vor die Gegenwart.
So beklagen Opferorganisationen derzeit deutliche Rückschritte in der Menschenrechtspolitik. So wird beispielsweise in vielen staatlichen Institutionen der Etat für Erinnerungsarbeit gekürzt. Hinzu kommt: Die Verbrechen teilweise zu rechtfertigen ist wieder hoffähig geworden. „Die Theorie der zwei Dämonen“, nennt Erika das. „Auf der anderen Seite waren sie ja auch keine Engel, wird dann mit Blick auf linke Guerillagruppen gesagt. Das ist eine Verklärung der Dinge. Wir können gerne über die Guerilla diskutieren, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Staat zum Terroristen wurde, der Zehntausende Zivilisten ermordete und verschleppte.“
Nie wieder Straflosigkeit
Miguel Etchecolatz war Teil dieses Staatsterrors. Der einstige Polizeikommandeur wurde dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch aus Gesundheitsgründen entließ man ihn Anfang des Jahres in Hausarrest. Im Februar zieht Erika mit anderen Menschenrechtsaktivisten vor seine Wohnung in der Hafenstadt Mar del Plata, sie protestieren dort mit Plakaten, Trommeln und Megaphon. „Wir fordern Gefängnis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt Erika Lederer, „dabei geht es nicht um Rache, sondern darum, ein Zeichen gegen Straflosigkeit zu setzen.“
Am 15. März ordnet das Kassationsgericht an: Etchecolatz muss zurück in die Strafanstalt. Der Druck der Menschenrechtsgruppen hatte Erfolg. Für sie ist Erika keine Verräterin. Im Gegenteil. Und die junge Frau sagt: „Ich habe dort eine Art neue Familie gefunden.“ Am 24. März, dem Jahrestag des Militärputsches, werden sie alle wieder zur Plaza de Mayo ziehen, um Plakate und Kopftücher hochzuhalten und den Opfern der Diktatur zu gedenken.
Am 24. März 1976 putschte das Militär in Argentinien. Unter dem sogenannten „Prozess der Nationalen Re-Organisation“ wurden linke Oppositionelle, Gewerkschafter und Studenten eingesperrt, gefoltert, verschleppt und umgebracht. Offiziell sind 10.000 Opfer dokumentiert. Menschenrechtsorganisationen sprechen jedoch von 30.000 Verschwundenen. Nach 1983 wurden die Diktatoren zwar vor Gericht gestellt, kurze Zeit später jedoch begnadigt und eine Amnestie ausgesprochen. Diese wurde 2005 wiederum vom Obersten Gericht aufgehoben. Seitdem wurden über 600 Ex-Militärs verurteilt. 2006 sprach ein Richter erstmals von einem „Völkermord, der zwischen 1976 und 1983 in Argentinien stattfand“.