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„Mein Film soll gängige Vorstellungen sprengen“
Interview mit Amandine Gay

1. März 2017 | Von Carolin Küter
Foto: Enrico Bartolucci

In dem Dokumentarfilm „Ouvrir la voix“ (Französisch „das Wort ergreifen“) berichten schwarze Frauen aus Frankreich und Belgien von Vorurteilen und Diskriminierungen, die sie in ihrem Geburtsland oder ihrer Wahlheimat erfahren haben. Es geht um den täglichen Kampf mit Stereotypen – auch im eigenen Kopf. Die Stellungnahmen sind sehr persönlich und haben trotzdem Allgemeingültigkeit. Frankreich-Korrespondentin Carolin Küter hat sich in Lyon mit Amandine Gay über ihren Film und schwarzen Feminismus unterhalten.  

Warum haben sie diesen Dokumentarfilm gemacht?

Weil ich es nicht geschafft habe, zu erreichen, dass fiktive Geschichten anders erzählt werden. Ich war Schauspielerin und extrem frustriert darüber, welche Rollen, mir angeboten wurden.

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Warum?

Weil diese Rollen nur Klischees entsprachen: Drogenabhängige, Prostituierte, Stripteasetänzerin, Obdachlose, Menschen, die ins Gefängnis gehen oder herauskommen. Das waren im Großen und Ganzen meine Möglichkeiten. Oft hatten die Charaktere auch immer die gleichen Vornamen: Fata, Fatoumata, Fatou. Es war ziemlich nervig, immer die gleichen Rollen zu spielen, vor allem, wenn man wie ich politisch engagiert ist. Als ich Politik studierte, habe ich meine Abschlussarbeit über die Herausforderungen im Umgang mit der Kolonialfrage geschrieben. Da ist es nahezu unerträglich, wenn ich in meinem Beruf dazu beitrage, die Klischees zu verstärken, die ich als Aktivistin bekämpfe.

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Der Grund dafür, dass Sie keine anderen Rollen bekommen haben, war, dass Sie schwarz sind?

Natürlich. Das ist in Frankreich sehr ausgeprägt. Es ist sogar so, dass, wenn in einem Rollengesuch nicht explizit steht, dass sich jeder bewerben kann, es heißt, dass nur Weiße gesucht werden. Ansonsten würde da stehen: für alle Ethnien offen. Bei Vorsprechen lief das dann so ab: Gesucht wurde jemand für die Rolle einer 25-jährigen Studentin. Wenn man als Schwarze da ankommt, wird einem gesagt: „Wir haben doch geschrieben, wir suchen eine Studentin, keine Schwarze.“ Nicht-weiße oder behinderte Menschen haben in Frankreich oft kein Recht auf Banalität. Wenn wir irgendwo vorkommen, dann, weil es für die Geschichte wichtig ist. Zum Beispiel, in einem Film über eine schwarze Frau, die mit einem Weißen zusammen ist oder über eine Behinderte, die Probleme auf der Arbeit hat. Es würde niemals passieren, dass ein Charakter, der zum Beispiel Abteilungsleiter im Krankenhaus ist, zufällig schwarz ist. Also habe ich mir gesagt, ich werde selbst solche Rollen und Programme schreiben. Aber als Drehbuchautorin hat man nur begrenzt Einfluss, weil im Endeffekt die Geldgeber, also der oder die Produzentin entscheidet. Ich musste meine Rollen umschreiben, bis sie sich fast gar nicht mehr von den Stereotypen unterschieden, die ich eigentlich bekämpfen wollte. Da habe ich beschlossen, dass das Einzige, was ich mit meinen Mitteln umsetzen kann, ein Dokumentarfilm ist.

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Dafür haben Sie sich aber kein x-beliebiges Thema ausgesucht, wie zum Beispiel eine Umweltdoku, sondern Sie haben als schwarze Regisseurin einen Film über schwarze Frauen gedreht. Genau deswegen interviewe ich Sie auch. Ist das nicht wieder dieselbe Falle?

Das ist ein erster, notwendiger Schritt. Wenn sich die Einstellungen in der Realität nicht verändern, kann man auch die fiktiven Geschichten nicht ändern. Die Vorstellungen in Frankreich sind sehr festgefahren, sie müssen von kolonialen Denkmustern befreit werden. Ein Dokumentarfilm über schwarze Frauen ist der erste Schritt, um zu beweisen, dass wir eine heterogene, vielfältige Gruppe sind. Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, unterschiedliche Berufe. Es gibt lesbische Schwarze.

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Warum haben Sie ausschließlich schwarze Frauen interviewt und nicht zudem Angehörige anderer Minderheiten?

Es war mir wichtig, von etwas auszugehen, das ich selbst kenne. Schließlich kennen wir uns in unserem eigenen Leben am besten aus. Zudem kommen schwarze Frauen im französischen Kollektivbewusstsein nicht vor. Wenn es um Rassismus oder Polizeigewalt geht, denkt man an schwarze Männer. Beim Thema Kolonialismus geht es in Frankreich meistens um den Algerienkrieg, der Krieg im Kamerun zum Beispiel ist selten Thema. (Anmerkung der Redaktion: Der Krieg gegen Rebellen im Kamerun in den 1950er und 60er Jahren kostete Zehntausende Menschen das Leben). Ich fand es wichtig, einen Film über schwarze Frauen zu machen, weil ich finde, dass wir nicht ausreichend beachtet werden.

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Im Film berichten die Frauen, wie ihnen zum ersten Mal bewusst wurde, dass sie anders sind. Eine Protagonistin erinnert sich daran, dass man als Dreijährige nicht mit ihr spielen wollte. Eine weitere erzählt, wie ihr Vater, den sie immer für groß und stark hielt, vor einem unfreundlichen Schaffner kuschte – „so habe ich gelernt, dass ich schwarz und weniger wert bin“, sagt sie. Andere erinnern sich, dass sie immer wie Barbie blonde glatte Haare haben wollten, keine schwarzen Puppen hatten und wie schwierig es ist, sich zu akzeptieren, wenn kein Schönheitsideal so aussieht, wie man selbst. Inwiefern deckt sich das mit Ihren eigenen Erfahrungen?

Die Fragen, die ich im Film stelle, basieren auf meinen Erfahrungen. Es ist ein Dialog zwischen dem, was ich und dem, was die Frauen vor der Kamera erlebt haben. Das beginnt mit dem Tag, an dem ich gemerkt habe, dass ich schwarz bin und endet mit der Entscheidung, Frankreich zu verlassen. Ich bin vor anderthalb Jahren nach Quebec ausgewandert. Dass ich schwarz bin habe ich zum ersten Mal gemerkt, als sich jemand geweigert hat, mir die Hand zu geben, als ich in der Grundschule war. Was Puppen angeht, habe ich Glück gehabt, ich hatte schwarze Puppen. Ich bin adoptiert, meine Eltern sind weiß. Meine Mutter hat viel dafür getan, dass ich so etwas haben konnte. Das ist ironisch, weil ich viele Freunde habe, die aus rein schwarzen Familien stammen und nie schwarze Puppen hatten (lacht).

Gibt es andere Erlebnisse mit Diskriminierung die Sie besonders prägten?

Es sind eher die ganz alltäglichen Aggressionen. Zum Beispiel, dass man mir sagt, dass ich gut Französisch spreche. Als Studentin in Lyon habe ich in einem Konzertsaal Führungen gegeben. Ich habe es mehrere Male erlebt, dass Gäste nach der Führung auf mich zugekommen sind, um mir zu sagen: „Glückwunsch, ist ja wirklich toll, wie sie Französisch sprechen!“ Oft waren das ältere Damen. Was macht man, wenn man einer 90-Jährigen gegenübersteht, die das natürlich nicht böse meint? Man kann sich nicht einmal aufregen. Das Unangenehme ist, dass so etwas jederzeit passieren kann. Zum Beispiel, wenn einem Leute auf der Arbeit in die Haare greifen. Wenn man dazu nichts sagt, ärgert man sich den ganzen Tag. Wenn man etwas sagt, ist man die nervige Schwarze. Man kann nur verlieren. Und das hört nie auf.

Was macht das mit ihnen, da muss sich doch ein unglaublicher Frust zusammenstauen?

Das kommt aufs Alter an. Ich bin 32, ich habe Frankreich verlassen. Ich bin nicht mehr frustriert.

Amandine Gay hat den französischen Dokumentarfilm „Ouvrir la voix“ gedreht (Foto: Christin Bela).

Sind Sie deswegen nach Quebec gegangen?

Auch wegen der Arbeit. Es ging auch um die Frage, welche Möglichkeiten ich habe. Ich habe mich in anderthalb Jahren in Kanada beruflich so viel weiterentwickelt wie zuvor in acht Jahren in Frankreich. Ich habe auch in England und Australien gelebt, ich weiß, dass die angelsächsischen Länder mir Chancen bieten können, die ich in Frankreich nie hatte. Der Film ist für mich eine Art Zusammenfassung meines Lebens hier. Er ist ein Dialog mit Frankreich.

Sie müssen mir erklären, warum Sie als Französin in angelsächsischen Ländern mehr Möglichkeiten haben?

Weil dort ein anderer Umgang mit der Kolonialgeschichte herrscht. Dort schaut man sich auch an, wie Rasse mit dem sozialen Status zusammenhängt. An den Universitäten beschäftigt man sich mit Rassentheorien, es gibt Cultural Studies, Gender Studies, Queer Studies, Disability Studies. In Frankreich gibt es das alles nicht. Jetzt erst, seit ein, zwei Jahren entstehen in französischen Universitäten Fakultäten für feministische Studien. In der angelsächsischen Welt werden Afrikana-Studien unterrichtet (Anmerkung der Redaktion: Studien, die sich mit der Geschichte, Kultur, Politik von Menschen afrikanischer Herkunft in Afrika und der Diaspora beschäftigen) – in Frankreich nicht. Dabei hätte das angesichts der Kolonialgeschichte und der großen Anzahl von Schwarzen in Frankreich durchaus seine Berechtigung. Der Multikulturarismus in Kanada ist ein Prinzip das, zugespitzt formuliert, so funktioniert: Ob man ein turbantragender Sikh, eine verschleierte Frau oder ein schwarzer Mann ist, der am liebsten kreolisch spricht, ist dem Staat ziemlich egal, wenn man nur offiziell Bürger des Landes ist und seine Steuern zahlt.

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Das sollte aber doch in Frankreich theoretisch auch so sein.

Überhaupt nicht, das Ideal ist die Homogenität. Wer in Frankreich französisch werden will, muss seine Besonderheiten aufgeben. Unter dieser Prämisse wurde den Bretonen ihr Bretonisch verboten, wurden die Protestanten in die Seine geworfen und die Juden massakriert. Es gibt in Frankreich eine sehr brutale Tradition im Gleichmachen von Unterschieden. Unterschiede werden als Bedrohung angesehen. Wir sollen eine homogene Nation sein. Die Republik ist eins und unzertrennlich. Interessant wird es dann, wenn es einen Teil der Bevölkerung gibt, der nicht angleichbar ist, weil er nie weiß sein wird. Wenn die Republik eins, unzertrennlich und homogen sein soll, dann werden Schwarze, Araber und Asiaten niemals Franzosen sein.

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Die Frauen im Film berichten auch davon, wie sich als „Ding“ gefühlt haben, weil einige weiße Männer sie besonders exotisch fanden und „austesten“ wollten, wie sie sagen. Andererseits sagen sie auch, dass sie bei schwarzen Männern teilweise gar keine Chance hatten, weil die nur mit weißen Frauen ausgehen wollten. Ist es nicht ein universelles Problem, das Frauen haben, nämlich, dass sie als Objekt wahrgenommen werden? Warum braucht es Ihrer Meinung nach einen Afrofeminismus, in dem schwarze Frauen für sich kämpfen, anstatt, dass alle Frauen gemeinsam kämpfen?

Weil wir ganz andere Erfahrungen machen als weiße Frauen. Weiße Frauen werden zum Beispiel niemals mit Tieren verglichen. Das Problem der großen feministischen Bewegungen in westlichen Ländern, also den weißen Bewegungen, ist, dass sie davon ausgehen, dass ihre Lebenswirklichkeiten für alle gelten. Wer macht zum Beispiel den Haushalt der weißen Frauen, die Karriere machen und die gläserne Decke zum Einsturz bringen wollen? Nicht-weiße Frauen. Ja, wir sind alle Frauen, aber wir haben nicht alle den gleichen Platz in der Gesellschaft.

Ihre Protagonistinnen sprechen auch darüber, wie schwierig es ist, ihre verschiedenen Identitäten miteinander in Einklang zu bringen. Eine Interviewpartnerin sagt, dass sie sich als Bretonin sieht, als Französin mit Fragezeichen und gleichzeitig sehr von ihrer kongolesischen Erziehung geprägt ist. Wie geht es Ihnen damit?

Genauso. Ich beschäftige mich viel mit dem Thema, gerade auch mit Adoptionen unter verschiedenen Hautfarben und Nationen, weil ich davon betroffen bin. Außerdem finde ich es interessant zu sehen, dass das, was als eine Einheit dargestellt wird, ein Konstrukt ist. Ich gehöre zu denen, die finden, dass man sich nicht für eine Identität entscheiden muss. Man kann sich sein ganzes Leben lang immer wieder neu erfinden. Eine Funktion des Rassismus ist es ja, die Komplexität auszulöschen. Zu sagen: Die Schwarzen. Die Frauen. Mein Film soll die gängigen Vorstellungen zum Explodieren bringen. Wir haben das Recht auf vielseitige Identitäten und vor allem haben wir das Recht dazu, die Einzigen zu sein, die definieren, wer wir sind.

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Einige Ihrer Interviewpartnerinnen sind sich wegen ihrer eigenen Erfahrungen mit Rassismus nicht sicher, ob sie ihre Kinder in Frankreich großziehen würden. Würden Sie Ihre Kinder in Ihrer Heimat großziehen?

Nein, nein, nein. Ich weiß noch nicht, ob ich Kinder haben will, aber ich würde nicht wollen, dass sie hier aufwachsen.

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Warum nicht?

Weil es mir hier nicht besonders gefallen hat. Ich fände es nicht so nett, jemandem etwas anzutun, was man selbst nicht mochte (lacht). Ich glaube nicht, dass sich die Gesellschaft noch in der Zeit ändert, in der ich Kinder haben könnte. Man müsste sehr wachsam sein gegenüber diesen ganzen Diskriminierungen, wenn man seine Kinder hier aufzieht. Frankreich ist kein schöner Ort, um seine Kinder großzuziehen.

 ZUR PERSON: 

Amandine Gay (32) lebt als Filmemacherin, Aktivistin, Autorin und Soziologiestudentin in Montréal in der kanadischen Provinz Québec. Zuvor war sie Schauspielerin und Drehbuchautorin in Paris. Während ihres ersten Studiums (Politik) lebte sie in Lyon. Aufgewachsen ist sie in einer ländlichen Gegend in der Nähe der Stadt. „Ouvrir la voix“ tourte in den vergangenen Monaten durch die Schweiz, Frankreich, Belgien und Deutschland. Eine weitere Vorstellung gibt es in Montréal. Im Herbst kommt der Film offiziell in die Kinos in Belgien, Frankreich und der französischsprachigen Schweiz. Gay wurde beim Preis „Gala Dynastie“, der Schwarze in Québec für besondere Verdienste auszeichnet, als beste Regisseurin nominiert. Weitere Infos: http://qznmgfpc.presskithero.com

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Von Carolin Küter, Lyon

Carolin Küter lebt seit 2014 im französischen Lyon. Als freie Nachrichtenredakteurin beim TV-Sender “euronews” berichtet sie über internationale Politik. Als Autorin hat sie bisher vor allem für den “Weser-Kurier” aus Bremen gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie, abseits der Hauptstadt Paris, über Themen aus Politik, Gesellschaft und Kultur.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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