Es sind so viele Frauen im niederländischen Parlament wie nie zuvor. Gleichzeitig nimmt der Hass gegen sie zu – online und offline. Deshalb ziehen sich viele aus der Politik zurück, andere könnten aus Angst gar nicht politisch aktiv werden. Alles nur Einzelfälle oder hat der Hass System?
Von Sarah Tekath, Amsterdam
Zusammenfassung:
Die steigende Zahl von Frauen im niederländischen Parlament führt paradoxerweise zu mehr Hass gegen sie, sowohl online als auch offline, wodurch einige sich aus der Politik zurückziehen. Dieser Hass scheint systematisch zu sein und dient als Strategie, Frauen aus dem öffentlichen politischen Raum zu verdrängen. Hasskommentare fokussieren sich nicht auf politische Inhalte, sondern auf sexistische Beleidigungen und Angriffe auf das Aussehen. Besonders betroffen sind Frauen, die von der „Norm“ abweichen, etwa durch Hautfarbe oder das Tragen eines Kopftuches. Die Situation bedroht die Demokratie, da sie zur Selbstzensur führt und potenzielle Politikerinnen abschreckt.
Eine Gruppe Menschen bildet einen engen Kreis. Viele halten blau-weiß-rote Flaggen. In der Mitte steht eine Frau, mehrere Leute reden auf sie ein. Die Stimmung ist aufgeheizt, der Ton aggressiv. Einige tragen brennende Fackeln. Die Frau ist die damalige Parteivorsitzende der linksliberalen Partei D66, Finanzministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin der Niederlande, Sigrid Kaag.
Sie versucht, mit den Demonstrierenden zu reden. Die Gruppe, die sich aus Bauern und Bäuerinnen sowie Querdenker*innen zusammensetzt, ist unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen und Stickstoffplänen der Regierung. Nach einigen Minuten gibt Kaag auf. Anfeindungen wie diese, die sie im Februar 2022 im Osten des Landes nahe der deutschen Grenze erleben musste, sind kein Einzelfall.
Bereits einen Monat zuvor war ein Querdenker mit einer brennenden Fackel vor dem Wohnhaus ihrer Familie erschienen und hatte gefordert, Kaag zu sprechen. Danach belagerten er und seine Begleiter*innen das Haus. Die Politikerin rief die Polizei und erstattete Anzeige. Der Täter wird später zu einer Gefängnisstrafe von fünf Monaten verurteilt.
Rücktritte wegen Frauenhass
Im Mai 2023 ist Kaag bei der Talkshow „College Tour“ beim Fernsehsender NPO2 eingeladen, bei der Studierende geladenen Gästen Fragen stellen können. Hier kommt es zu einem emotionalen Moment: Sigrid Kaag sieht dort, offenbar zum ersten Mal, ein Video, das ihre beiden erwachsenen Töchter mit einer Botschaft an sie aufgenommen haben. Die jungen Frauen machen sich Sorgen.
Denn es gab in der Vergangenheit bereits einen politisch motivierten Mord an der Politikerin Els Borst. Sie war von 1998 bis 2002 stellvertretende Ministerpräsidentin der Niederlande und wurde 2014 ermordet. Nun haben die Töchter von Sigrid Kaag Angst, dass ihrer Mutter das Gleiche passieren könnte.
Im Juli 2023 scheitert das damalige Kabinett. Ministerpräsident Mark Rutte gibt seinen Rücktritt bekannt, andere folgen seinem Beispiel – darunter Sigrid Kaag. Zur gleichen Zeit zieht sich auch Liane de Haan, Parlamentsmitglied für die Senior*innenpartei 50PLUS, aus der Politik zurück. Auch sie nennt als Grund: Frauenhass.
Verbreitung einfacher geworden
Devika Partiman ist Gründerin der Organisation „Wähle eine Frau“. Sie will dafür sorgen, dass sich mehr Frauen politisch engagieren und öfter auf wichtigen politischen Ebenen vertreten sind. „Wir dachten, dass durch mehr Frauen in der Politik der Sexismus automatisch weniger werden würde. Weil es irgendwann als normal empfunden werden würde, Frauen in Führungspositionen zu sehen. Dann würde auch der Hass nachlassen. Zwar nimmt aktuell die Zahl der Politikerinnen zu, aber die Gegenreaktion ist noch heftig“, erklärt Partiman.
In den vergangenen Jahren gab es so viele Frauen wie noch nie in der niederländischen Politik. 2022 wurde eine Rekordzahl von Ministerinnen erreicht. Das waren 14 von insgesamt 29 Posten. 2023 kam sogar eine 15. dazu. Damit waren mehr Frauen als Männer in Minister*innenämtern. Aktuell laufen die Verhandlungen für eine Regierungsbildung nach den letzten Wahlen im November.
Hass in der Politik sei nicht neu, sagt Partiman, aber er verändere sich. „In den 70ern und 80ern war es ein Brief oder jemand erschien an der Haustür. Aber nach meinem Gefühl ist es heute mehr. Weil es schneller geht, etwas zu tweeten anstatt einen Brief zu schreiben.“ Auffällig sei, dass es bei Hass-Kommentaren gegen Politikerinnen nie um Inhaltliches gehe. Es seien vielmehr sexistische Beleidigungen und hämische Anmerkungen zu Aussehen oder Stimme.
Zielscheibe: Schwarzsein und Kopftuch
Doch Frausein ist nicht die einzige Angriffsfläche. Das bekamen die Schwarze Politikerin Sylvana Simons und die muslimische Politikerin Kauthar Bouchallikht zu spüren. So analysierten Wissenschaftler*innen der Universität Utrecht mit dem Wochenmagazin „De Groene Amsterdammer“ etwa 340.000 Tweets in einem Zeitraum von einem halben Jahr im Herbst 2020 und Frühjahr 2021. Dabei waren es einzig Tweets, in denen die für die Untersuchung ausgewählten, bekanntesten Politikerinnen direkt markiert waren.
Das Ergebnis: Mindestens jeder zehnte Tweet war ein Hasskommentar, frauenfeindlich und / oder sexistisch. Das Rechercheteam vermutet, dass die Zahl der Hassbotschaften ohne Markierung noch höher ist. Das Meiste bekam Sigrid Kaag ab, damals Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, später Außenministerin, gefolgt von der Schwarzen Politikerin und Gründerin der linksgerichteten, antirassistischen und feministischen Partei Bij1 Sylvana Simons.
Hier kamen vor allem noch rassistische Anfeindungen hinzu. Ähnliches zeigte sich bei der ein Kopftuch tragenden Politikerin Kauthar Bouchallikht von der grünen Partei Groenlinks. In den Tweets fand das Forschungsteam Frauenfeindlichkeit, Rassismus und Islamhass. Hass komme aus allen Teilen der Gesellschaft, so Partiman, von Männern und Frauen aller politischen Richtungen.
„Ich denke, je mehr jemand von der sogenannten Norm abweicht, umso größer ist das Risiko für Hass. Die Norm ist der weiße Hetero-Mann mit Uniabschluss, der einen blauen Anzug trägt und nicht im Rollstuhl sitzt. Sylvana Simons ist eine Frau und Schwarz und Parteivorsitzende und fasst auch noch Themen an, von denen andere sich fernhalten“, so Partiman. Auch Simons und Bouchallikht haben sich mittlerweile aus der Politik zurückgezogen. Erstere nennt dafür unter anderem gesundheitliche und private Gründe.
Systematische Vertreibungsstrategie
Dass diese Attacken gegen Frauen in der Politik System haben, weiß Liza Mügge, Associate Professor für Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam. „Wir sehen international, dass Hass eine aktive Strategie ist, um Frauen aus dem politischen publiken Raum zu verjagen.“ Ein Beispiel sei Hillary Clinton. Dies könne laut Mügge zu inhaltlicher Selbstzensur führen: „Wenn Politikerinnen bereits im Voraus wissen, dass ein bestimmtes Thema für heftige Reaktionen sorgt, dann überlegen sie sich sehr genau, ob sie es ansprechen oder posten.“
Das sei desaströs für die Demokratie. Besonders riskant sei die Lokalpolitik, wo möglicherweise bekannt ist, wo die Eltern der Politikerin leben oder wo ihre Kinder zur Schule gehen. Einen ähnlich besorgniserregenden Punkt sieht Devika Partiman. Das aktuelle feindliche Klima sorge für Einschränkungen, wer sich in die Politik traue. Häufig seien das weiße Hetero-Frauen, die etwas älter seien und denken würden, dass sie die Anfeindungen aushalten könnten. Eine, die Anfeindungen kennt, ist die Politikerin Lisa Westerveld. Sie ist seit 2017 Parlamentsmitglied für die Partei Groenlinks.
In unserem aktuellen Podcast erzählt Liza Mügge vom Frauenhass in der niederländischen Politik. Sie erläutert, dass Frauenhass mit der Zunahme weiblicher politischer Repräsentation steigt und oft eine bewusste Strategie darstellt, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Der Hass manifestiert sich sowohl online als auch offline und trifft insbesondere prominente Politikerinnen. Mügge betont, dass die Situation ein ernsthaftes politisches Problem und eine Bedrohung für die Demokratie darstellt. Sie hebt hervor, dass neben Frauen auch „Women of Color“ und Frauen mit Kopftuch besonders betroffen sind. Das Gespräch thematisiert zudem die Notwendigkeit einer kollektiven Anstrengung und die Bedeutung von Bewusstseinsbildung, um gegen diesen Frauenhass vorzugehen.
An Hass gewöhnt
Ihre Themen sind Bildung, Jugend, die Rechte von queeren oder von Menschen mit Behinderung. Sie erinnert sich an das erste Mal, Ende 2017, kurz nachdem sie in die Tweede Kamer, das niederländische Parlament, eingezogen war. In einer Zeitung erschien ein Artikel über sie, im Zusammenhang mit einer politischen Entscheidung. „Ich hatte ständig neue Posts in meiner Timeline. Menschen, die fanden, dass ich dumm bin oder dass für mich zu Hause staubsaugen und kochen doch besser sei als Politik. Der Artikel erschien an einem Freitag und das hat mich das ganze Wochenende nicht losgelassen.“
Seitdem habe sich einiges verändert – nicht zum Guten: „Es hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Für mich ist das schon Standard, normalisiert eigentlich, wenn ich etwas poste über Frauen oder LGBTQ-Rechte oder Diskriminierung und Rassismus. Ich bin schon dran gewöhnt, dass Hass-Reaktionen kommen.“ Auch sie stellt fest, dass es bei den negativen Kommentaren so gut wie nie um ihre Inhalte geht.
Meistens sind die Nachrichten sexistisch oder beleidigend. Oder sie bekommt negative Bemerkungen zu ihrer Kleidung oder ihrem Aussehen. Debatten im Parlament können per Live-Stream verfolgt werden und sie sagt, sie bekomme heute noch Screenshots von einem Moment vor zwei Jahren, wo sie sich bewegte und ein BH-Träger zu sehen war.
„Es gibt auch einen Screenshot von mir, wo ich ein Kleid mit V-Ausschnitt trage und mich gerade umdrehe. Man kann den Ansatz meiner Brüste sehen, aber total verpixelt, weil jemand aus dem Bild des ganzen Saals ranzoomen musste. Aber ich habe danach monatelang mein verpixeltes Dekolletee auf Twitter gesehen.“ Dabei hat Westerveld keine Kinder, um die sie sich Sorgen machen muss, sie ist keine Ministerin, keine Woman of Color und trägt kein Kopftuch.
„Politikerinnen haben eine Vorbildfunktion“
Mügge, Partiman und Westerveld machen sich Sorgen, was der Wahlsieg des rechtsextremen Geert Wilders im November 2023 für die Politik und speziell Frauen in der Politik bedeuten wird. Denn deren Sichtbarkeit sei unerlässlich, sagt Liza Mügge. „Frauen in der Politik haben eine Vorbildfunktion, unabhängig von ihrer politischen Farbe.
Aber der Effekt wirkt auch umgekehrt, indem Frauen sehen, wie viel Hass andere Frauen für öffentliche Sichtbarkeit und Äußerungen bekommen und sich gegen die politische Laufbahn entscheiden.“ Devika Partiman glaubt, die Art von Wilders, Hass gegen andere Politiker*innen zu verbreiten, würde sich mit seinem und dem Eintritt seiner Parteimitglieder ins Parlament nur verschlimmern. Außerdem würde dieses Verhalten zu einer Normalisierung von Hass in der Gesellschaft führen.
Lisa Westerveld fürchtet gar um die Demokratie: Ein Parlament müsse ein Ort sein, wo jede und jeder seine oder ihre Meinung sagen kann, darf und soll. Aber wenn ein Klima der Angst dazu führe, dass manche Stimmen lieber schwiegen, dann sei Politik kein sicherer Ort mehr. Gerade deswegen wolle sie mehr Frauen in der Politik sehen. Und: Es brauche ihrer Meinung nach mehr Männer in allen politischen Parteien, die gegen Bedrohungen, Frauenhass und Hass auf Minderheiten Stellung beziehen.
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