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Mehr Mut
Oxfams Weg in die Zukunft

31. Januar 2024 | Von Eva Tempelmann | 11 Minuten Lesezeit
Serap Altinişik ist seit Februar 2023 geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von Oxfam Deutschland e.V. Foto: Kathrin Harms

Vom Gastarbeiterkind zur Vorstandsvorsitzenden – Serap Altinişik weiß, was sie will. Ihre Vision: Frauen mehr Mitsprache geben und gesellschaftliche Gerechtigkeit vorantreiben. Seit Anfang 2023 leitet sie die Hilfsorganisation Oxfam Deutschland. Mit uns sprach sie über frühe Berufswünsche, Feminismus und die deutsche Zivilgesellschaft.

Von Eva Tempelmann, Ibbenbüren / Berlin

In Berlin streikt die Bahn. Darum sitzt Serap Altinişik im Bus. Die neue Geschäftsführerin von Oxfam Deutschland ist auf dem Weg ins Büro. Heute steht einiges an: Ein Gespräch mit der Staatssekretärin des Entwicklungsministeriums über feministische Leitlinien und den Weltwirtschaftsgipfel, ein Austausch mit einer Kollegin über eine neue Stelle im Bereich Learnings und Evaluation und eine Inforunde für Mitarbeitende zur Situation in Gaza / Israel und wie sich Oxfam dort einbringt.

„Das wird bestimmt hitzig – im positiven Sinne“, sagt Altinişik, die um die Brisanz des Krieges in Nahost weiß. Oxfam ist seit den 1950er Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel tätig und hat dort seit 40 Jahren ein Büro. Das Hilfswerk arbeitet in gefährdeten Regionen mit palästinensischen und israelischen Partnerorganisationen zusammen und unterstützt die von der internationalen Gemeinschaft geforderte Zwei-Staaten-Lösung. Am späten Nachmittag steht noch das Thema Klimaschutz auf der Agenda.


 

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Armut und Ungleichheit bekämpfen

So sind die Tage von Serap Altinişik gut gefüllt. Seit Februar 2023 ist sie die geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von Oxfam Deutschland, eine der weltweit größten Nothilfe- und Entwicklungsorganisationen. Seit gut 75 Jahren widmet sich die Organisation der Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit. Im internationalen Verbund sind 21 Oxfam-Organisationen mit 3.000 lokalen Partnern in mehr als 70 Ländern aktiv. Oxfam Deutschland wurde 1995 als gemeinnütziger Verein gegründet. Er finanziert sich vor allem aus öffentlichen Geldern und privaten Spenden.

Die Arbeit von Oxfam lernte sie in Brüssel schätzen. Dort leitete sie das EU-Büro von „Plan International“, einer anderen Hilfsorganisation, die sich weltweit für die Chancen und Rechte der Kinder, insbesondere die gleichen Möglichkeiten für Jungen und Mädchen, einsetzt. In der Nothilfe lege Oxfam großen Wert auf einen sensiblen Umgang mit den Zielgruppen. „Wir wollen zuhören statt bevormunden“, so das Credo.

Das gelte nochmals mehr in einem Umfeld, in dem die Macht von Geldgebenden auch ausgenutzt werden könne, betont Altinişik und verweist auf den Missbrauchsskandal der Organisation, der 2018 in die Schlagzeilen geriet. Führende Mitarbeitende des britischen Oxfam sollen in Haiti Minderjährige und Frauen zu Sex als Gegenleistung für Unterstützung in Notsituationen gezwungen haben. Nach dem Erdbeben 2010, bei dem 220.000 Menschen starben, war die Organisation dort in der Katastrophenhilfe vor Ort. Die Organisation gab sich transparent, entließ Mitarbeitende und reagierte mit strengeren Richtlinien zum Schutz von Betroffenen.

Oxfam Demo: Die Rechte von Mädchen und Frauen hat die Feministin Serap Altinişik besonders im Blick. | Foto: Marc Nozell

Frauen und Mädchen im Blick

„Gerade eine Organisation wie Oxfam sollte das System von Macht verändern, nicht ausnutzen“, betont Serap Altinişik. Ein Beitrag dazu sei die feministische Grundhaltung des Hilfswerks, mit dem es in der Landschaft global agierender Organisationen durchaus Vorreiterin sei. Das heißt: Es stellt Frauen in den Mittelpunkt ihres Engagements und will damit die Probleme von Armut und sozialer Ungleichheit an der Wurzel packen.

„Das Gewaltmonopol ist nach wie vor in den Händen von Männern, mit oft fatalen Auswirkungen.“ Mädchen werden von der Schule genommen, zwangsverheiratet und sind häufiger von sexueller Ausbeutung betroffen. In Krisen bekämen Mütter und Töchter oft zuletzt etwas zu essen. „Frauen sind in der Wertschöpfungskette oft das letzte Glied“, beklagt die überzeugte Feministin. Gemeinsam könne man das ändern. Serap Altinişiks Berufsweg kreist schon lange um das Thema Gerechtigkeit und Frauen.

Ihre Stationen führten von der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ über verschiedene europäische Organisationen bis zum Kinderhilfswerk „Plan International“. Sie koordinierte die Arbeit der European Women’s Lobby in Brüssel, die sich für Frauenrechte auf EU-Ebene stark macht, und leitete die „50/50 Campaign“, eine Kampagne für die paritätische Besetzung aller EU-Ämter. Bereits 2006 veröffentlichte Altinişik ein Buch über Gewalt gegen Frauen. Bis heute engagiert sie sich bei der Fair-Share-Initiative, die sich für mehr Teilhabe von Frauen einsetzt.

Berufswunsch Präsidentin

„Mit ihrer Leidenschaft für ihre Arbeit ist Serap eine sehr ermutigende Person“, beschreibt die Menschenrechtsanwältin Aslihan Tekin ihre frühere Kollegin. Am Ende sind es zwei Dinge, die ihren Weg prägen: Sexismus und soziale Ungleichheit. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Deutschland. Ihr Vater arbeitet bei der Bahn, ihre Mutter kümmert sich um die Familie. „Als Mädchen habe ich früh gemerkt: Die Erwartungen an mich sind andere als an Jungen.“

Sie erinnert sich an eine konkrete Situation, als sie acht oder neun Jahre alt war. Sie steht im Hausflur, die Arme verschränkt und fragt ihre Mutter, warum sie nicht mehr auf Bäume klettern und ihre Haare offen tragen dürfe. „Ich werde Präsidentin von Deutschland“, habe die kleine Serap gesagt, dann werde sie dafür sorgen, dass Mädchen machen können, was sie wollen. „Mach das, Tochter“, erwidert die Mutter. Für diesen Satz ist die 49-Jährige ihrer Mutter, der viele Wege selbst verwehrt blieben, bis heute dankbar.

Als Serap Altinişik aufs Gymnasium kommt, merkt sie schnell: Sie ist die einzige aus einer nicht-akademischen Familie. Die anderen: Kinder von Lehrer*innen, Ärzt*innen, Unternehmer*innen. „Ich sah die Unterschiede und die Vorteile, die meine Mitschüler*innen mir gegenüber hatten.“ Allerdings lässt sie sich davon nicht abhalten, sondern sieht es eher als zusätzliche Motivation. Sie studiert Politik und European Studies, engagiert sich und gründet Netzwerke für soziale Gerechtigkeit. Ihr Antrieb: Sie wollte sich nie als Opfer sehen, sondern Dinge umsetzen.

Serap Altinişik führt seit einem Jahreine der weltweit größten Nothilfe- und Entwicklungsorganisationen. | Foto: Oxfam

Positive Zukunft gestalten

„Ich bin ein neugieriger und proaktiver Mensch. Ich glaube, damit kann ich viele mitnehmen“, so ihre nüchterne Selbsteinschätzung. Diese teilt auch Marion Sharples, die mit ihr in der European Women’s Lobby in Brüssel zusammengearbeitet hat. Altinişik sei eine inspirierende Führungskraft und wichtige Mentorin für jüngere Frauen. „Ich bewundere ihre starken Überzeugungen“, ergänzt Beatriz Hernandez de Fuhr, Expertin für Geschlechtergleichstellung aus Dänemark und Mitstreiterin zu Frauennetzwerken in der Politik.

Für sie selber sei die mexikanische Malerin Frida Kahlo eine große Inspiration. Diese sei trotz großer Widerstände und körperlicher Beeinträchtigung ihren Weg gegangen und habe sich vom Patriarchat in ihrem Land nicht einschüchtern lassen – „eine politische und mutige Frau.“ Als Jugendliche haben sie die Reden des US-amerikanischen Menschenrechtsaktivisten Malcolm X bewegt. Der Bürgerrechtler, der für die Rechte der Schwarzen Bevölkerung in den USA kämpfte, radikalisierte sich in den 1960er Jahren zunehmend. 1965 wurde er ermordet.

Als Geschäftsführerin von Oxfam hat Serap Altinişik ein klares Ziel vor Augen: Gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen eine positivere Zukunft gestalten. Sie will mehr Aufmerksamkeit für die globale Armut schaffen und gleichzeitig aufzeigen, dass es Lösungen gibt, diese zu überwinden. Die feministische Außen– und Entwicklungspolitik in Deutschland sei ein Beitrag dazu.

Dass es für konkrete Maßnahmen höchste Zeit ist, zeigt ein Blick in den aktuellen Ungleichheitsbericht von Oxfam. Ende 2020 besaß ein Prozent der Weltbevölkerung rund 50 Prozent des weltweiten Vermögens. Seit Beginn der Pandemie hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter verstärkt. Das Vermögen der reichsten Menschen weltweit ist weiter gestiegen. „Diese extrem ungleiche Verteilung von Ressourcen ist ein Skandal“, empört sich Serap Altinişik.

Oxfam Poster | Foto: John Ferguson

Starke Zivilgesellschaft

Und dennoch: Trotz aller Ungerechtigkeit, politischen und globalen Krisen sieht sie das Positive in dem Land, in dem sie aufgewachsen ist. In Deutschland könne die Zivilgesellschaft sehr viel bewegen. Es gebe uneingeschränkte Versammlungsfreiheit, pluralistische Medien, unterschiedlichste Parteien – das alles sei nicht selbstverständlich. Als Journalistin in der Türkei oder Gewerkschaftsführerin in Lateinamerika habe man schnell eine Morddrohung im Briefkasten.

In der Tür steht ein Mitarbeiter, um Serap Altinişik zu einem Termin beim Entwicklungsministerium zu begleiten. Deshalb die finale Frage: Was macht Sie glücklich? „Jeden Morgen 15 Minuten Zeit für mich und dankbar sein für das, was da ist: ihr Partner, ihre Familie, ihre Katze, Begegnungen mit Menschen und Bücher.“ Gerade eben hat sie das Buch „Think again“ von Adam Grant gelesen. Darin geht es um flexibles Denken. Wer die Komfortzone fester Überzeugungen verlasse und unterschiedliche Ansichten zulasse, könne wirklich neue Erkenntnisse gewinnen.

 

Weitere Infos:

Am 27. Februar wird übrigens der nächste NRO-Report von VENRO zum Thema „Feminist Journeys: So können humanitäre und entwicklungspolitische NRO ihre Arbeit feministischer gestalten“ vorgestellt. Neben Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze wird auch Serap Altinişik über die zivilgesellschaftliche Umsetzung feministischer Politik diskutieren.

Wenn ihr im Palais der Berliner Kulturbrauerei dabei sein wollt, könnt ihr euch kostenfrei anmelden. Programm und Link zur Anmeldung findet ihr HIER.

 

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Von Eva Tempelmann, Münster / Lima

Eva Tempelmann hat 2014 bis 2020 mit ihrer Familie in Peru gelebt und dort als freie Journalistin, Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie über Umweltkonflikte in Peru, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Sie ist Co-Autorin des Reiseführers Peru & Westbolivien (Stefan Loose, 2018) und Peru & Bolivien (Marco Polo, 2020). Mehr unter: http://www.evatempelmann.com.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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