Seit drei Jahrzehnten kämpft Anat Hoffman für Gleichberechtigung an der Klagemauer in Jerusalem. Dass manche sie als „Bulldogge“ beschreiben, nimmt sie als Kompliment.
Von Mareike Enghusen, Jerusalem
Zu zweit führten sie sie ab: links eine Polizistin, die Hand auf dem Rücken der Festgenommenen – einer blonden Frau in weißer Strickjacke – rechts ein Polizist, der sie am Ellenbogen führt. Ihr Name: Anat Hoffman. Ihr Vergehen: lautes Beten an der Jerusalemer Klagemauer bei gleichzeitigem Tragen des jüdischen Gebetsschals, wie es der ultraorthodoxe Brauch nur Männern erlaubt.
Das Video der Festnahme, abrufbar auf YouTube, stammt aus dem Jahr 2012. Anat Hoffman blieb nur eine Nacht in im Gefängnis, doch die Bilder der schmalen Frau, abgeführt wie eine Kriminelle, sorgten innerhalb und außerhalb Israels für Wirbel. Als liberale Jüdin besteht Hoffman darauf, nach ihrer Façon zu beten. Damit verstößt sie gegen ein Gesetz, das Gläubigen vorschreibt, an der Klagemauer „lokale Gebräuche“ einzuhalten – in anderen Worten: ultraorthodoxe Regeln.
Denn dem ultraorthodoxen Rabbinat untersteht die Verwaltung der Klagemauer, der heiligsten Stätte des Judentums. Weil das Rabbinat zudem die alleinige Hoheit über Angelegenheiten wie Hochzeit und Scheidung innehat und streng konservative Rollenbilder vertritt, zählt es zu Hoffmans Lieblingsfeinden. Als „Bulldogge“ hat eine israelische Journalistin sie beschrieben, weil sie ihre Gegner, einmal angegriffen, nie mehr loslasse. Hoffman legte bekräftigend nach: „Die Kiefer packen zu und das war’s.“
Nicht aus der Ruhe zu bringen
Doch sie weiß ihre Fangzähne zu verbergen. Besucht man Anat Hoffman, 64, in ihrem Büro im Herzen Jerusalems, 20 Minuten Fußweg von der Klagemauer entfernt, trifft man auf eine zuvorkommende ältere Dame mit hellwachen blauen Augen, die bedacht und beinahe aufreizend gelassen spricht. Empört ein Thema sie besonders, verzieht sich allenfalls ihr feines Lächeln eine Spur ins Ironische. Nach Jahrzehnten von Konflikten mit Geistlichen und Politikern höchsten Ranges, Nächte in Gefängniszellen und Auftritten vorm Obersten Gericht lässt sie sich nicht leicht aus der Ruhe bringen.
Innerhalb und außerhalb Israels ist Hoffman am bekanntesten für ihre Rolle als Mitbegründerin und Gesicht der feministischen Organisation „Women of the Wall“, der „Frauen von der Mauer“, die seit Ende der 80er Jahre dafür kämpfen, dass Frauen an der Klagemauer auf die gleiche Weise beten dürfen wie Männer. Doch ihre Karriere als politische und soziale Aktivistin ist länger und breiter gefächert: In den 1980er Jahren engagierte sie sich als eine der „Women in Black“ gegen Israels Politik in den Palästinensergebieten; von 1988 bis 2002 saß sie im Jerusalemer Stadtparlament. Anschließend wurde sie Direktorin des „Israel Religious Action Center“, das das progressive Judentum in Israel repräsentiert und sich für religiösen Pluralismus einsetzt.
Im Namen von Frauen- und Minderheitsrechten hat sie zahlreiche Gerichtsprozesse angestoßen, etwa gegen Diskriminierung arabischer Putzfrauen und gegen Geschlechtertrennung in Bussen in ultraorthodoxen Vierteln. Bewunderer vergleichen sie mit Rosa Parks, der legendären Kämpferin gegen Rassentrennung in den USA. Die israelische Tageszeitung „Haaretz“ kürte sie 2013 zur „Person des Jahres“, die „Jerusalem Post“ führte sie auf einer Liste der einflussreichsten jüdischen Personen auf Platz fünf.
Eine andere Art, jüdisch zu sein
Dabei spielte religiöses Ritual für Anat Hoffman früher keine Rolle. Sie wurde in eine säkulare Familie in Jerusalem geboren und entdeckte die liberale Spielart des Judentums erst, als sie zum Psychologiestudium nach Los Angeles zog. Im Reformjudentum, einer progressiven Strömung des Glaubens, die im 19. Jahrhundert in Deutschland entstand, dürfen Frauen die gleichen Rollen einnehmen wie Männer: als Rabbinerin arbeiten, das Gebet vorsprechen, Gebetsschal und Gebetsriemen tragen.
„In den USA stellte ich fest, dass es einen Weg gibt, jüdisch zu sein, den ich aus Israel nicht kannte,“ sagt Hoffman, „es ist ein trauriger Kommentar zu Israels Judentum, wenn ein Israeli nach Los Angeles gehen muss, um das herauszufinden.“ Zurück in Israel gründete sie gemeinsam mit Mitstreiterinnen die „Women of the Wall“, kurz WoW. Die Gruppe, in der sich liberale mit konservativen und orthodoxen Jüdinnen vereinen, begann, einmal im Monat Frauengebete an der Klagemauer zu organisieren – und eröffnete damit einen Kampf gegen das ultraorthodoxe Rabbinat, der bis heute schwelt.
2013 errangen die Frauen einen wichtigen Sieg: Ein israelisches Gericht entschied, dass das Gebet der Frauen, anders als zuvor geurteilt, nicht gegen das Gesetz verstoße. Das Ringen geht dennoch weiter, oft buchstäblich: Mal brechen ultraorthodoxe Männer durch die Absperrung vor der Mauer, die Frauen- und Männerbereiche trennt, um Hoffman und ihren Mitstreiterinnen deren Thorarolle zu entreißen. Mal beschimpfen und bespucken ultraorthodoxe Kinder die Aktivistinnen.
Und seit einigen Jahren gibt es die Gegenbewegung „Women for the Wall“, eine Vereinigung konservativer Frauen, die auf die Einhaltung der ultraorthodoxen Traditionen pochen. Hoffman verdächtigt den Rabbiner, dem die Verwaltung der Mauer untersteht, die Frauen aufzuhetzen. „Das ist seine Taktik: Eine Art von Frauen kämpft gegen die andere Art von Frauen.“
Sie glaubt, dass es dem religiösen Establishment nicht um den Glauben geht, sondern um Macht. „Wenn wir Frauen die absolute Autorität des Rabbiners herausfordern, fürchtet er uns zu Recht“, sagt sie. „Denn wer wird ihn als nächstes herausfordern? Seine Mutter, seine Tochter, seine Frau?“ Hin und wieder heckt sie neue kleine Provokationen aus, um die Grenzen des Tolerierbaren zu testen. Sie rechne, sagt sie, jederzeit damit, erneut verhaftet zu werden. Sie spekuliert sogar darauf: „Ich will ins Gefängnis gehen. Ich denke, wenn eine Frau verhaftet wird, weil sie in einer Gruppe von Frauen betet, dann ist das etwas, was die Welt wissen sollte.“
Im Ausland bejubelt, daheim bekämpft
Kreative Provokation gehört seit jeher zu Anat Hoffmans Strategie. Etwa in ihrer Zeit als Lokalpolitikerin in Jerusalem: Nachdem der damalige Bürgermeister Ehud Olmert, der später zum Premierminister aufsteigen sollte, ihr in Debatten mehrmals das Mikrofon ausgestellt hatte, brachte Hoffman ein Megafon mit zur Sitzung. Als Olmert es verbieten ließ, begann sie, Protokolle der Stadtratsitzungen zu analysieren. Sie stellte fest: Frauen wurde sieben Mal so häufig das Wort abgeschnitten wie Männern. Das Ergebnis schickte sie an Zeitungen – und an Ehud Olmerts Ehefrau.
Das geschickte Spiel mit den Medien gehört zu ihrem Instrumentarium: Wann immer die WoW-Frauen an der Klagemauer belästigt oder gar verhaftet werden, lässt sie die Nachricht über alle denkbaren Social-Media-Kanäle in die Welt senden. Dass die „Women of the Wall“ von einer lokalen, kaum beachteten Aktivistengruppe zu einem international bekannten Phänomen aufgestiegen sind, gilt in erster Linie als Hoffmans Verdienst.
Zugleich verbirgt sich darin eine Schwäche: Ihr Kampf wird im Ausland – in erster Linie in den USA – leidenschaftlicher verfolgt als daheim. Hoffman selbst gibt bereitwillig zu, dass die meisten Spender und Unterstützer der „Women of the Wall“ außerhalb ihrer Heimat leben. Das Reformjudentum, in den USA die am weitesten verbreitete jüdische Strömung, spielt in Israel keine nennenswerte Rolle. Linksliberale Israelis, die ansonsten feministische Anliegen gern unterstützen, halten sich von Religion eher gänzlich fern, als sich für Frauenrechte im Ritual einzusetzen.
Und auch politisch steht Hoffman außerhalb des Mainstreams. Ihr Vorwurf, die Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu führe das Land auf einem gefährlichen Pfad hinab in die Niederungen des Faschismus, gilt selbst in der israelischen Linken als Randposition. Gleichzeitig nimmt der Gegenwind zu – nicht zuletzt aus demografischen Gründen: Der Anteil der ultraorthodoxen Minderheit an der Bevölkerung, derzeit zwölf Prozent, steigt wegen der hohen Geburtenrate der Strenggläubigen rasch. Weiterkämpfen will Hoffmann dennoch. „Ich kann nicht anders,“ sagt sie, „es würde mich mehr Energie kosten, nichts zu tun.“
Der Kampf geht weiter
So hat sie an einer ganz anderen Front zuletzt einen Durchbruch erzielt: in ihrer Familie. Anat Hoffman hat drei Kinder von ihrem Ex-Mann – zwei Söhne und eine Tochter – zudem einen neuen Lebenspartner. In einem Interview 2013 mit der Zeitung „Haaretz“ sagte sie, kein einziger ihrer Verwandten unterstütze sie in ihrem Kampf an der Mauer. Zugleich gestand sie Schuldgefühle ein, weil ihr Engagement stets Vorrang habe gegenüber ihren Kindern. Doch mit den Jahren haben beide Seiten näher zueinander gefunden.
„Ich denke, sie sind es müde, mit mir zu streiten“, sagt Hoffman mit ironischem Lächeln. Ihre Tochter, eine Filmemacherin, drehte 2014 eine Dokumentation über die „Women of the Wall“ und lernte während der Dreharbeiten, den Kampf ihrer Mutter besser zu verstehen, wie sie in einem Interview erzählte. Hoffmans 23-jähriger Sohn begleitet seine Mutter neuerdings zum Gebet.
2016 sah es so aus als zahle sich der jahrzehntelange Kampf der Mauerfrauen endlich auch politisch aus: Die Regierung erklärte sich bereit, einen neuen Gebetsplatz an der Klagemauer zu eröffnen, der nicht dem Rabbinat und seinen Regeln unterstehe. Doch unter dem Druck seiner ultraorthodoxen Koalitionspartner ruderte der Premier im Folgejahr zurück. Seitdem liegt der Plan auf Eis.
„Wir haben noch nicht erreicht, was wir wollten“, gibt Hoffman zu. „Aber die Tatsache, dass diese Gruppe überhaupt existiert, mit Frauen aus allen Strömungen des Judentums, ist eine großartige Errungenschaft!“ Und vor kurzem konnten sie und ihre Mitstreiterinnen eine weitere Sympathisantengruppe gewinnen: Zu den letzten Gebeten der WoW-Frauen erschienen mehrere Männer, um als Zuschauer ihre Unterstützung auszudrücken. „Das ist etwas Neues,“ freut sich Hoffman, „und es ist großartig.“