Sie war schwarz, lesbisch und wuchs in einer Favela auf – die Lokalpolitikerin Marielle Franco aus Rio de Janeiro kämpfte gegen Rassismus und staatliche Gewalt. Vergangene Woche wurde sie ermordet. Ihr Tod löste eine Welle des Protestes aus.
Von Anne Herrberg, Buenos Aires
Sie gehen wieder auf die Straße. Aus Ohnmacht wird Wut, aus Trauer Protest, aus Sprachlosigkeit ein gemeinsamer Ruf: „Marielle presente!“, schallt es durch Rio de Janeiro und andere Städte Brasiliens – „Marielle ist unter uns!“ Es werden immer mehr: Junge, Alte, Menschen aller Hautfarben. Sie machen sich Luft, wie damals im Jahr 2013 bei den Massenprotesten gegen Misswirtschaft und Korruption. Diesmal ist es der brutale Mord an der Stadträtin und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco, der Zehntausende Menschen aufrüttelt. Und all das, wofür sie steht.
„Eine schwarze Frau zu sein bedeutet, sich permanent zu wehren und zu überleben”, hatte die 38-jährige Afrobrasilianerin noch wenige Stunden vor ihrer Ermordung am 14. März erklärt, bei einem Treffen mit anderen schwarzen Frauen. „Wir müssen die öffentlichen Räume mit unseren Körpern ausfüllen!“ Es ging um politische Mitbestimmung, den Aufbau sozialer Bewegungen in den Favelas. Marielle selbst wuchs in einem solchen Armenviertel auf, im Complexo da Maré in Rio. Als eine der wenigen schafft sie die Aufnahme an der Universität, studierte Soziologie. 2016 wurde sie für die Linkspartei PSOL ins Stadtparlament gewählt, erzielte das fünftbeste Ergebnis der Kommunalwahlen. „Sie war eine Kriegerin“, sagt Joelma Souza dos Santos, eine enge Freundin, Wegbegleiterin und Mitstreiterin, „sie hatte die Kraft, anderen Mut zu machen, weil sie fest an das glaubte, wofür sie kämpfte.“
Auf dem Rückweg am späten Abend des 14. März wird ihr Auto von einem silberfarbenen Cobalt eingeholt. Ein Killerkommando. Neun Schüsse feuern die Unbekannten ab, vier treffen die Politikerin in den Kopf, auch ihr Fahrer stirbt, die Assistentin wird schwer verletzt – ein Auftragsmord inmitten von Rio de Janeiro, ganz in der Nähe einer großen Polizeistation. Die Munition: aus dem Arsenal der Bundespolizei. Sie sei aber, gibt der Minister für öffentliche Sicherheit Raul Jungmann bekannt, bereits vor einiger Zeit aus dem Depot gestohlen worden.
Anklägerin eines schmutzigen Krieges
„Wir haben das wie eine Drohung an uns alle aufgenommen“, sagt Joelma: „Schwarze, arme Frauen aus der Favela und Lesben haben keine Posten zu besetzen, sie dürfen ihre Stimme nicht erheben.“ Doch genau das tat Marielle. Sie klagte an: den alltäglichen Rassismus, die staatliche Gewalt und Korruption. Es sind nicht nur die Drogengangs, die in Rio um Einfluss kämpfen, auch Teile der Polizei und mit ihr verwobene, bewaffnete Milizen sind tief verstrickt in den schmutzigen Krieg. Es geht um Schutzgelderpressungen, Drogen, die Kontrolle von Stadtvierteln. Mafiastrukturen. Sie kämpfen mal gegen- und mal miteinander.
Mehr als 5.000 Menschen wurden 2017 im Bundesstaat Rio de Janeiro umgebracht. Die meisten Opfer waren schwarz und kamen aus den Favelas. Vier Tage vor ihrer Ermordung beschuldigte Marielle öffentlich ein Bataillon der Militärpolizei des Mordes an drei Jugendlichen, gleichzeitig unterstützte sie Familien von Kriminellen ermordeter Polizisten. Und sie kritisierte die neue Militärintervention, die Präsident Michel Temer vor einem Monat nach Rio entsenden ließ: Soldaten sollen dort nun für Sicherheit sorgen. „Wie viele müssen noch sterben, bis dieser Krieg endet?“, so lautet Marielles letzter Tweet. Wer hinter ihrer Ermordung steckt ist noch nicht bekannt – unbequem wurde die linke Politikerin und Aktivistin vielen.
Protest statt Stillstand
„Wir haben viel verloren, vor allem unsere Angst“, steht auf einem Plakat in der Menschenmenge, die knapp eine Woche nach der Ermordung der Politikerin erneut auf die Straße geht. „Marielle, wir werden Millionen sein!“ auf einem anderen. Ein „Attentat auf die Demokratie“ hat die bekannte Journalistin Flavia Oliveira die Tat genannt, die Menschenrechtsorganisationen „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“ fordern eine schonungslose Aufklärung. Präsident Temer gerät zunehmend unter Druck. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen, die Sicherheitslage im Land ist eines der bestimmenden Themen.
Mit der regelrechten Hinrichtung von Marielle Franco hat die Gewalt eine unsichtbare Grenze überschritten, denn es traf eine beliebte und bekannte Politikerin mitten im Zentrum der Metropole und Touristenhochburg Rio de Janeiro. Das Verbrechen zeige, wie überzeugt die Kriminellen von ihrer Straflosigkeit seien, meint der Sicherheitsexperte Ignácio Cano von der Staatlichen Universität Rio de Janeiro. Trotzdem sagt Marielles Vertraute Joelma: „Statt Angst hat die Tat das Gegenteil ausgelöst: Sie hat Brasilien aufgerüttelt, Marielles Kampf weiterzuführen und noch lauter zu schreien.“ Seitdem finden in Rio fast täglich Proteste, Demos, Gedenkveranstaltungen statt. Marielle Franco ist zum Symbol geworden für Zivilcourage und Widerstand in einem Land, das immer mehr in einem Strudel aus Gewalt und Korruption versinkt.