Die Tangotänzerin Andrea Ghidone begeisterte ihr Publikum lange Zeit im Theater und im argentinischen Fernsehen. Jetzt produziert sie ihre eigenen Tango-Shows. Trotz der Kritik von Feministinnen an diesem Tanz schwärmt sie von der Verkörperung „einer mutigen Frau, die keine Angst vor dem Mann hat“.
Von Tamara Vogel, Buenos Aires
Die Avenida Corrientes wird gerne als „Broadway von Buenos Aires“ bezeichnet. Hier befinden sich viele der majestätischen Theater der Stadt. In den 1930er bis 50er Jahren symbolisierte die Straße den Ort der Blütezeit des Tango Argentino. Und genau hier trat Andrea Ghidone 2019 mit ihrer Show „Madame Tango“ in den Theatern Lola Membrives und Teatro Astral auf. Es war ihr erstes Projekt, in dem sie vor und hinter den Kulissen die Fäden zog: Die 41-Jährige hat nicht nur das Drehbuch verfasst, sondern auch die Produktion und die Hauptrolle des Stücks übernommen.
Das Musical erzählt durch Tango-Tanzeinlagen, Gesang und kurze Sprechtexte der Protagonistin eine unkonventionelle Liebesgeschichte. Im Vordergrund steht die Rolle einer starken Frau. Ghidone sagt selber: „Madame Tango handelt davon, wie sich eine Frau in einem von Männern dominierten Umfeld ihren Platz erkämpft.“ Das Stück gehörte 22 Wochen lang zu den erfolgreichsten Shows der Stadt und zählte 45.000 Zuschauer.
Doch bis dahin war es ein weiter Weg. „Noch vor ein paar Jahren stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ein Plakat von meiner eigenen Show an einem der großen Theatergebäude hängen würde. Ich dachte: Entweder bin ich vollkommen verrückt oder mein Traum wird eines Tages wahr“, erinnert sich Andrea Ghidone. Ursprünglich kommt sie aus Montevideo, der Hauptstadt Uruguays. Sie studierte kurzzeitig Wirtschafts- und Sportwissenschaften, arbeitete in einem Fitnessstudio und spielte in Theateraufführungen mit.
Doch Ghidone sehnte sich nach mehr. „Ich wollte schon immer eine berühmte Tänzerin werden. Uruguay ist ein kleines Land und bot mir nur begrenzte Möglichkeiten. Daher wagte ich den Schritt und versuchte mein Glück in Argentinien.“ Gemeinsam mit ihrer damals zweijährigen Tochter Natasha zog sie nach der Trennung vom Vater ins benachbarte Buenos Aires. Das ist inzwischen elf Jahre her. „Natürlich gab es Tage, an denen ich an meiner Entscheidung zweifelte. Aber ich glaube an mich und wollte meiner Tochter zeigen, was es heißt, für die eigenen Träume zu kämpfen“, sagt die Uruguayerin.
Mit ihrem Ziel klar vor Augen nahm sie in der argentinischen Hauptstadt an einem Casting für das Cabaret-Ensemble der berühmten Komikerin Carmen Barbieri teil und schaffte es, sich gegen 1.500 Frauen und Männer durchzusetzen. Dies sicherte ihr für die kommenden fünf Jahre Rollen als Vedette in verschiedenen Cabarets und Musicals von Barbieri. Eine Vedette ist eine Tänzerin, die gelegentlich auch als Sängerin und Schauspielerin agiert und auffällige, freizügige Kleidung trägt wie beispielsweise Dita Von Teese. Daneben machte sich Ghidone im argentinischen Fernsehen durch ihre Teilnahme an Tanz-Shows, die dem deutschen „Let’s Dance“ ähneln, einen Namen.
Faszination Tango
Die Faszination für den Tango begann bereits in Kindertagen, als Ghidone ihre Eltern beim Paartanz beobachtete. Sie selbst begann damit jedoch erst im Alter von 30 Jahren. In Uruguay tanzte sie hauptsächlich Milonga, eine Art Vorläuferin des Tango Argentino. Doch in Buenos Aires kam sie immer mehr mit dem Tango in Berührung, der sie schließlich in seinen Bann zog. „Wenn der Tango dich erst einmal packt, lässt er dich nicht mehr los. Und auch du lässt ihn nicht mehr los, weil er deiner Seele und deinem Körper guttut“, schwärmt Ghidone.
Da sie bereits als Kind Ballettunterricht nahm und seit mehreren Jahren als professionelle Tänzerin tätig war, fiel es ihr leicht, Tango zu lernen. „Doch um beruflich damit Fuß fassen zu können, musste ich hart an mir arbeiten“, so die 41-Jährige. Dies zahlte sich schließlich aus, als sie 2014 das Angebot bekam, in der täglich in Buenos Aires stattfindenden Tanzshow „Señor Tango“ aufzutreten.
Die Rolle der Frau im Tango fasziniert Ghidone besonders: „Eine Tangotänzerin ist nicht irgendeine Frau. Sie ist mutig und hat keine Angst vor dem Mann. Diese Haltung begeistert mich.“ Argentinische Feministinnen hinterfragen allerdings immer mehr die Strukturen des Tangos, die sie größtenteils als patriarchalisch empfinden. Diese Entwicklung zeichnet sich insbesondere seit 2015 ab, als die feministische Bewegung im Land sichtbarer und stärker wurde. So spiegelt der traditionelle Tango etablierte Geschlechterrollen wider: Der Mann fordert die Frau zum Tanzen auf und bekräftigt auf der Tanzfläche seine Kontrolle mit einer Abfolge von meist schnellen Bewegungen, die sinnlich oder unangenehm dominant sein können.
Viele Feministinnen kritisieren, dass der Tango in Argentinien einen weit verbreiteten strukturellen Sexismus reflektiere. Daneben stehen auch immer wieder Songtexte des Tangos in der Kritik, die Gewalt gegen Frauen zu dulden scheinen: Darunter beispielsweise das von Cacho Castaña geschriebene und komponierte Lied „Si te agarro con otro te mato“, zu Deutsch „Wenn ich dich mit einem anderen erwische, töte ich dich“, das in den 1970er Jahren Erfolge feierte.
Ghidone sieht die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Machtstrukturen und den Geschlechterrollen innerhalb des Tangos weniger problematisch: „Wir sollten uns auf das konzentrieren, was wirklich entscheidend ist: Die psychische und körperliche Gewalt gegen Frauen muss aufhören! Davon abgesehen finde ich jedoch nicht, dass wir alle Gepflogenheiten des Tangos in Frage stellen müssen. Ich liebe es, wenn der Mann führt und ich nicht ständig darüber nachdenken muss, wo ich als nächstes hingehen soll. Dann fühle ich mich frei.“
Vom Showgirl zur tangotanzenden Unternehmerin
Vor wenigen Jahren begann die 41-Jährige damit, selbst Songtexte zu schreiben. „Es waren meine eigenen Erfahrungen im Leben und vor allem in der Liebe. Irgendwann hatte ich das Gefühl, meine Erlebnisse und Emotionen beim Tanzen vermitteln zu können. So entstand auch die Idee zu Madame Tango“, sagt die Uruguayerin.
Aufgrund ihrer jahrelangen Arbeit in verschiedenen Theaterproduktionen hatte sie die nötigen Kontakte zu Produzent*innen und Investor*innen, die ihr dabei halfen, ihre erste eigene Show zu verwirklichen. Auf diese Weise habe sie auch eine völlig neue Seite an sich entdeckt: „Ich übernahm jetzt nicht mehr nur den künstlerischen Part als Tänzerin, sondern auch den unternehmerischen Teil und kümmerte mich um die Produktion, Choreografie, das Kostüm sowie die Besetzung des Orchesters. Anfangs war das noch ungewohnt für mich, doch als ich das erste Plakat meines Musicals mit meinem Gesicht in der Corrientes sah, wusste ich, dass ich mein Ziel erreicht hatte.“
Anfang Januar 2020 debütierte die Uruguayerin mit ihrer neuen Tangoshow „Tango en Rose“ in der Calle Corrientes. Mit der romantischen Komödie möchte sie mit dem angestaubten Image des Tango Argentino aufräumen und vor allem ein junges Publikum ansprechen. „Es gibt junge Menschen in Argentinien, die Tango tanzen. Aber für die meisten ist der Gesellschaftstanz und vor allem die Musikrichtung doch eher altmodisch. Das möchte ich ändern“, sagt die ambitionierte Tänzerin. Für ihre Show holte sie den erfahrenen Tango-Sänger Guillermo Fernández an Bord.
In „Tango en Rose“ geht es um „Rose“, gespielt von Ghidone, die nach mehreren Jahren in Europa in ihr Stadtviertel zurückkehrt und dort wieder auf ihre alte Liebe „Tango“, gespielt von Fernández, trifft. Während sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, entwickelt sich ihr Besuch zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Die Zuschauer erwartet eine Darbietung in Form von Gesang, Sprechtext und natürlich Tangotanzeinlagen – das alles in der Szenerie eines typischen Viertels im heutigen Buenos Aires. Andrea Ghidone sagt abschließend: „Ich bin unendlich glücklich und stolz. Es hat sich ausgezahlt, an meinen Traum zu glauben und dafür Opfer zu bringen.“
Infokasten: Tango
Der Begriff Tango bezeichnet sowohl den Gesellschaftstanz als auch die Musikrichtung. Generell wird zwischen dem Standardtango des Welttanzprogramms und dem weniger reglementierten Tango Argentino unterschieden. Letzterer entstand Ende des 19. Jahrhunderts am Río de la Plata, als europäische Einwanderer nach Buenos Aires strömten. Die meisten gehörten zur Arbeiterklasse und lebten in Armenvierteln. Dies spiegelt sich auch in den Liedtexten wider, die von Heimweh, Trauer und Liebeskummer handeln. Musikalisch ist der Tango eine Fusion aus europäischen und afrikanischen Elementen mit Einflüssen der indigenen Völker.
Schnell verbreitete sich der Tango auch im Rotlichtmilieu. Erst nach seinem Siegeszug in Europa, insbesondere in Paris, wurde er in Argentinien gesellschaftsfähig. Dazu trug auch der Sänger und Komponist Carlos Gardel entschieden bei. Es lässt sich sagen, dass der Tango die Herausbildung einer kulturellen argentinischen Identität durchaus gefördert hat.