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Leben, um davon zu erzählen
Sara Rus kämpft gegen das Vergessen

19. August 2020 | Von Anne Herrberg
Sara Rus bewahrt bis heute zwei Töpfe aus dem Konzentrationslager auf, weil sie ihr das Leben gerettet haben. Fotos: Anne Herrberg

Sara Rus überlebt Konzentrationslager, Zwangsarbeit und Todesmarsch. Dann beginnt sie ein neues Leben in Argentinien. Dort lässt das Militär ihren Sohn verschwinden. Die unglaubliche Geschichte einer Frau, die unermüdlich für das Leben kämpft – und gegen das Vergessen.

Von Anne Herrberg, Buenos Aires

In ihrer Küche stehen zwei Blechtöpfe aus dem Konzentrationslager. Sie haben sie begleitet, über all die Jahre, bis in ihr kleines Appartement im bürgerlichen Viertel Belgrano in Buenos Aires. Zwei Henkeltöpfe – ein großer und ein kleiner – bis auf ein paar Beulen und Kratzer noch gut erhalten. „Man sieht, dass damals gutes Aluminium verwendet wurde“, sagt Sara Rus. Der polnische Akzent ist ihrem Spanisch nur noch leicht anzuhören.

Am 5. Mai 1945 wurde die polnische Jüdin von US-Soldaten aus dem KZ Mauthausen befreit, mit weniger als 27 Kilo auf den Rippen. „Es gab damals einige, die gestorben sind, weil sie zu schnell angefangen haben zu essen“, erklärt sie. „Sie waren so schwach, ihre Körper vertrugen kein Fett mehr.“ Rus‘ Mutter, die gemeinsam mit der Tochter das NS-Regime überlebte, kochte ihr in den Blechtöpfen die ersten Mahlzeiten. „Das hat mir das Leben gerettet.“

 

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Sara Rus, Häftlingsnummer 53894, ist heute 93 Jahre alt. Sie trägt die kurzen Haare rötlich blond, dazu ein Shirt in grün-weißem Ethnomuster. Wenige Jahre nach dem Krieg wanderte sie nach Argentinien aus. Es schien die Rettung zu sein – weit weg vom Schrecken der alten Heimat. Auf dem Tisch ihres kleinen Wohnzimmers stehen frische Blumen, im Regal Fotos ihrer Enkelinnen und Ur-Enkel. Und dann steht da noch eine kleine Pyramide, ein Miniatur-Replikat des Originals auf der zentralen „Plaza de Mayo“ der Stadt.

Es ist der Ort, an dem die „Madres de Plaza de Mayo“, die Mütter der Verschwundenen der Militärdiktatur, jeden Donnerstag ihre Runden drehen – bis heute. Auch Sara Rus lief, solange es ihre Hüfte erlaubte, mit. Im Schrank bewahrt sie das symbolische weiße Kopftuch der Madres auf: 15. Juli 1977 ist mit hellblauem Garn darauf gestickt, darunter der Name ihres Sohnes Daniel. Die Geschichte wiederhole sich, deswegen erzähle sie. Damit es nicht noch einmal passiert.

Eine geheime Notiz

Sara wird unter dem Namen Schejne Miriam Laskier in der polnischen Industriestadt Lodz geboren. Ihr Vater Jacobo, ein ausgebildeter Rabbiner, arbeitet als Schneider. Das Geschäft läuft gut, Sara lernt Violine. Doch dann marschiert die Wehrmacht nach Lodz ein. Sara ist zwölf Jahre alt als SS-Männer in ihr Haus stürmen und ihre Geige zerbrechen. „Sie fragten mich: Hast du gerne die Violine? Ich sagte ja“, erinnert sie sich auf Deutsch. Jener Sprache, die sie zu Hause von Kindheit auf lernt, das Nachbarland, seine Kultur, es schien vertraut.

Viele Kunden des Vaters waren Deutsche. „Da nahm der Soldat meine Geige und zerbrach sie auf dem Tisch in alle Einzelteile. Dadurch wurde mir klar, dass die Nazis keine Menschen waren.“ Ihre Kindheit endete an jenem Tag und die Familie wurde ins Ghetto gesteckt. Die Nazis nennen es „Litzmannstadt“, nach einem General und NSDAP-Reichstagsabgeordneten. Sara muss den Davidstern tragen, mit 13 als Näherin schuften. Zwei neugeborene Geschwister sterben: eines an Hunger, das andere wird von den Nazis ermordet.

Und doch lächelt Sara Rus heute, wenn sie über das Ghetto spricht. „In den schlimmsten Momenten, die man erlebt, existiert die Liebe“, sagt sie. Er ist zehn Jahre älter als sie und notiert ein Datum in ihrem Notizbuch: 5. Mai 1945. „Wenn der Krieg dann vorbei ist, treffen wir uns vor dem Kavanagh-Gebäude in Buenos Aires, in Argentinien“, sagte er. Ein fernes Land. Ein Onkel von ihr war dorthin geflohen, mehr wusste Sara nicht: „Das Datum bewahrte ich auf wie einen Schatz.“

Nachdenken ist ein revolutionärer Akt: Denkmal im Erinnerungspark von Buenos Aires.

5.5.1945. Diese Zahlen kann ihr niemand nehmen, selbst dort, wo jedes Leben zu einer Nummer degradiert wird. In einem Viehwaggon wird die Familie 1944 nach Auschwitz deportiert: ins Vernichtungslager Birkenau, zu den Gaskammern. Den Vater sieht sie zum letzten Mal am Bahnhof. „In Auschwitz kamen wir auf einen Platz, da stand ein Deutscher, dick und mit einer Peitsche. Er teilte uns in zwei Reihen ein. Er sagte: Links, rechts, links, rechts.“ Wieder wechselt sie in die deutsche Sprache. Sara sollte nach rechts, die Mutter nach links. Dort standen all jene, die dürr und krank aussahen. „Ich sagte ihm: Halt! Du hast mir meine Mutter genommen.“

Woher nahm sie den Mut? „Mir war da schon alles egal.“ Deutsch zu verstehen und zu sprechen, die Sprache der Befehle, hilft ihr. Die Mutter wird zurückgeschickt ins Leben. Bald folgt die nächste Zäsur. „Eine Laus, der Tod“, lautet die Drohung. Sara hatte lange Zöpfe. Kahlgeschoren und nackt erkennt sie ihre eigene Mutter kaum noch. „Jeden Tag verschwand wieder eine Gruppe Frauen“, erinnert sie sich. Eingepfercht in Zementbaracken, der Geruch der Öfen in der Luft. Bilder, für die es keine Worte gibt.

Sara Rus und ihre Mutter werden nach Freiberg verlegt, um Zwangsarbeit in einer Flugzeugfabrik zu leisten. Sie erleidet einen schweren Arbeitsunfall, am Himmel kreisen die Bomber, die Alliierten rücken näher. Wieder werden sie auf Züge verfrachtet. „Haltet durch, der Krieg ist bald zu Ende“, rufen ihnen die Deutschen zu und schicken sie auf den letzten Todesmarsch. Die Mutter bricht zusammen, die Tochter schleppt sie weiter, Kilometer um Kilometer ins KZ Mauthausen. Dorthin werden gegen Kriegsende Zehntausende Häftlinge aus frontnahen Lagern geschafft. „Wir lagen neben Menschen, von denen wir nicht wussten, ob sie bereits tot sind“, erzählt Sara Rus. Sie war damals 18 Jahre alt und wog 27 Kilo.

Opfer und Täter*innen am gleichen Ort

Am 5. Mai 1945 erreicht die US-Armee das Lager. Genau an Saras Datum. Viele Soldaten weinen, als sie die abgemagerten Häftlinge sehen. Der langsame Weg zurück ins Leben beginnt. Eines Tages erreicht ein Brief das Lager – für „Sarenka“ steht darauf, Saras Spitzname. Auf Polnisch bedeutet das „Rehkitz“. Es ist Post von jenem Mann, den sie im Ghetto Lodz kennengelernt hat und der in ihr Notizbuch den 5. Mai 1945 notiert hatte und ihr versprach: Wir treffen uns in Buenos Aires wieder. Bernardo nennt er sich seitdem. Er ist zurück in Lodz, dort trifft er zufällig eine ehemalige Gefangene aus Mauthausen und erfährt so von Saras Aufenthaltsort.

1948 machen sich die beiden, frisch vermählt, wirklich nach Argentinien auf. „Das Problem war, dass wir keine Visa bekamen.“ Argentinien war Migrationsziel Tausender in Europa verfolgter jüdischer Menschen. Doch ab 1938 galt die geheime Anordnung, ihnen die Einreise zu verweigern. Die sogenannte „Kornkammer der Welt“ bestand im Zweiten Weltkrieg auf einer neutralen Position. Erst 1945 erklärte es den Achsenmächten, unter Druck der Alliierten, den Krieg.

Auch Sara und Bernardos Flucht gelingt nur über Umwege: Aus dem Berliner Auffanglager reisen sie zunächst nach Paraguay. Von dort bringt sie ein Schleuser über den Grenzfluss: Das kleine Boot mit zwölf Flüchtlingen an Bord kentert. Beinahe wären sie untergangen. In der argentinischen Grenzstadt Clorinda landen sie erst einmal im Gefängnis. Sie sind nicht die Einzigen – mehr als hundert geflüchtete Jüdinnen und Juden hoffen in Clorinda auf Weiterreise. Allerdings ließen sie auch Nazis passieren.

Denn Opfer und Täter*innen suchten den gleichen Zufluchtsort. Nach dem Krieg gelang nachweislich etwa 300 Nazis die Flucht an den Rio de la Plata, darunter NS-Kriegsverbrechern wie Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Auch Josef Mengele, der KZ-Arzt von Auschwitz oder SS-Hauptsturmbannführer Erich Priebke lebten dort lange Jahre unbehelligt. Der ab 1944 regierende Präsident Juan Domingo Perón war ein Bewunderer des europäischen Faschismus.

Eigene Kinder – das größte Geschenk

Doch es war ausgerechnet seine damalige Frau Eva Perón, besser bekannt als Evita, die Sara und Bernardo Rus den legalen Aufenthalt in Argentinien ermöglicht: „Bernardo hatte von Eva Perón gehört, dass sie den Leuten half und er schrieb ihr einen Brief“, erinnert sich Sara Rus. Kurze Zeit später kommt die Antwort mit der Genehmigung, nach Buenos Aires reisen zu dürfen.

1950 wird Sohn Daniel geboren, obwohl die Ärzte in Deutschland Sara versichert hatten, sie könne keine Kinder bekommen. „Meine Mutter hatte immer gesagt, uns beschützt ein Engel. Daniel Lazaro Rus war das größte Geschenk meines Lebens.“ 1955 folgt Tochter Natalia. Der Beginn eines ganz normalen Familienlebens. Daniel studiert Nuklearphysik, arbeitet als Stipendiat am Nationalen Zentrum für Atomenergie. Doch am 15. Juli 1977 kommt er nicht mehr nach Hause.

Ein knappes Jahr zuvor hatte sich in Argentinien ein brutales Militärregime an die Macht geputscht. Der selbsternannte „Prozess der Nationalen Reorganisation“ hatte sich offiziell den Kampf gegen linke Guerilleros auf die Fahnen geschrieben. Es beginnt ein blutiger Staatsterror gegen „Subversive“ und damit gegen alle, die im Verdacht stehen, Andersdenkende zu sein. In Nacht-und-Nebel-Aktionen werden Zehntausende verschleppt, gefoltert, ermordet, in Flugzeugen über dem offenen Meer abgeworfen oder in Massengräbern verscharrt.

Schätzungsweise 30.000 Menschen sind unter der letzten Militärdiktatur Argentiniens verschwunden, Hunderte wurden aus Flugzeugen über dem offenen Meer abgeworfen.

Im Juli 1977 verschwindet ein enger Freund Daniels, wenige Tage später auch er, gemeinsam mit mehreren Kollegen der Behörde. Warum? Sara sucht bis heute nach Antworten. Damals fragt sie bei Krankenhäusern nach, bei der Polizei: „Man schickte uns zum Innenministerium und dort sagte man mir, dein Sohn ist mit einem Mädchen durchgebrannt, der ist nicht hier, so antworteten sie allen Müttern.“

Denn Sara Rus ist nicht die einzige Mutter, die bis heute ihr Kind sucht. Die „Plaza de Mayo“, direkt vor dem rosafarbenen Regierungsgebäude Casa Rosada in Buenos Aires, wird zum Zentrum ihrer Proteste, mit dem symbolischen weißen Kopftuch und den umgehängten Fotos ihrer Kinder fordern sie Antworten. Die Holocaust-Überlebende schließt sich an. Auch sie wird als Verrückte verschrien, als Terroristenmutter gebrandmarkt, verfolgt, bedroht.

Nunca Más – nie wieder

Bernardo schreibt derweil Briefe: an Diktator Jorge Rafael Videla, an die US-Botschaft, er bittet den damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher um Hilfe. Ohne Ergebnis. 1983 kehrt Argentinien zur Demokratie zurück, von Sohn Daniel fehlt weiter jede Spur. Kurze Zeit später stirbt Bernardo an Lungenkrebs. „Er hat immer gesagt, wenn mein Sohn nicht auftaucht, interessiert mich das Leben nicht mehr. Meinen Sohn zu verlieren in einem Land, in dem ich mich sicher fühlte, in dem ich mich in einer besseren Welt wähnte, und dann erleben zu müssen, wie dort gefoltert und getötet wird, genauso wie es die Nazis getan haben, das kann man nicht vergessen“, sagt Sara Rus.

Nunca Mas! Nie wieder Diktatur und Faschismus – Erinnerungstafel in Buenos Aires.

Es geht nicht um Vergleiche, jedes Land hat seine Geschichte – und doch fragt sie sich: Wie kann es sein, dass in zwei so fortschrittlichen, aufgeklärten Ländern derart menschenverachtende Regime gedeihen konnten, so viele Menschen wegschauten, nichts mitbekamen oder vorgaben, nichts zu wissen? Das ist der Grund warum sie unermüdlich davon erzählt und damit aktiv gegen das Vergessen ankämpft. In Schulen, vor Journalist*innen, auf Gedenkveranstaltungen wie im Jahr 2004, als der damalige Präsident Néstor Kirchner erstmals im Namen des Staates um Entschuldigung bittet für die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen.

Hunderte Ex-Militärs wurden inzwischen vor Gericht gestellt und verurteilt. Doch sie schweigen bis heute. „Ich wünschte, ich hätte seine Knochen, um das letzte Gebet für ihn zu sprechen, oder wie wir in Jiddisch sagen, Kaddisch“, erklärt Sara Rus. Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, rufen die Madres jeden Donnerstag. „Wenn wir vergessen, dann wiederholt sich die Geschichte. Leider sehen wir, dass viel von dem Gedankengut auch heute noch da ist.“ „Nunca Más!“ – nie wieder Diktatur, nie wieder Faschismus. Dafür kämpft Sara Rus bis heute.

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Von Anne Herrberg, Buenos Aires

Anne Herrberg ist als Reporterin in Südamerika unterwegs. 2015 und 2016 hat sie als Juniorkorrespondentin für den ARD-Hörfunk über den Friedensprozess in Kolumbien oder die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro berichtet. Nun unterstützt sie das ARD-Studio in Buenos Aires weiterhin regelmäßig. Schwerpunkt: Geschichten über die vielen faszinierenden und mutigen Frauen Südamerikas.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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